(Für den grünen Parteitag in Dortmund am 25. Mai 1990 verfasste ich eine Vorlage, welche die Position der Grünen zum Prozess der deutschen Wiedervereinigung festlegen sollte. Es ging darum, angesichts der politischen Kräfteverhältnisse eine realistische Haltung einzunehmen, welche die Interessen der oppositionellen Bürgerbewegungen der DDR mit den Selbsterhaltungsinteressen der Grünen verband und das Jahrhundertthema Ökologie und Klimaschutz auf der Tagesordnung hielt.)
I.
10 Jahre nach unserer Gründung stehen wir vor der schwierigsten Aufgabe unserer Parteigeschichte. Die Umweltschäden, die wir zu verhindern angetreten sind, drohen sich zur umfassenden ökologischen Krise der Erde auszuweiten; nichts hat sich grundsätzlich zum Besseren gewendet; die Notwendigkeit einer GRÜNEN Partei ist unabweisbar. Dennoch droht die einzige konsequent ökologische Kraft im deutsch-deutschen Gemenge untergepflügt zu werden. In dieser Situation ist es höchste Zeit, den inneren Streit einzudämmen und in konstruktive Bahnen zu lenken. Wir wollen den Grundkonsens erneuern, der die GRÜNEN hat wachsen lassen. Wir werden die GRÜNEN als politische Kraft und gesellschaftliche Grundströmung, die nicht mehr wegzudrängen ist, auch im neuen Gesamtdeutschland zur Geltung bringen.
Fehler zu machen ist unvermeidlich im Spannungsfeld von selbstgesetzter Aufgabe und den politischen Bedingungen, die uns umgeben: wir wollen den Normalvollzug ökologischer Zerstörung aufhalten, völlig neue Formen des menschlichen Austauschs mit der Natur an die Stelle des industriellen Wachstumsmodells setzen, die weit über die heutige Form des gesellschaftlichen Lebens hinausweisen; gleichzeitig aber sind wir auf den politischen Rahmen verwiesen, der uns hier und jetzt gesetzt ist und der sich mit großer Zähigkeit gegen unsere Reformanstrengungen sträubt. Wir haben erreicht, dass die ökologische Frage ins Zentrum der Politik der 1980er Jahre rückte. In der arroganten Haltung der Alt-Parteien, wir hätten die richtigen Fragen, nur sie aber die angemessenen Antworten, spiegelt sich ihre Furcht vor unseren weitreichenden Lösungskonzepten. Die alten politischen Kräfte reagierten wie erwartet auf unsere politischen Geltungsansprüche: wir wurden abgeblockt und diffamiert, ausgesperrt und diskriminiert – was sie aber nicht hinderte, bei uns scharfen grünen Pfeffer zu pflücken, um ihn zu verwässern und als milde Würze ihren überholten Partei- und Regierungsprogrammen beizugeben. Wie viele unserer Ideen und Anträge wurden von den anderen Parteien abgelehnt, die sie dann – ihres konsequenten Inhalts entleert – als grünliche Mogelpackung der getäuschten Bevölkerung anboten!
Unsere Leitidee einer politischen Ökologie, die eine Neuorganisation der gesamten Gesellschaft und die Änderung der privaten Lebensführung umfasst, ist bei den anderen Parteien verkommen zu technischem Umweltschutz, oft zu reiner Nachsorge mit Reparaturcharakter. Vorbeugender Schutz entpuppt sich meist als Taschenspielertrick: halbierte Abgaswerte bei verdoppelter Produktion lassen alles beim Alten.
Das Argument der Industrie, umweltgerechte Produktion schaffe Konkurrenznachteile, wird von CDU/CSU/FDP unterstützt. Statt gesetzliche Regelungen zu erlassen, die alle gleichermaßen verpflichten, gibt es ritualisierte Appelle unverbindlichster Art, die außer der Natur niemandem wehtun und den Konzernspitzen die Freiheit zum Achselzucken lassen. Die Unions-Parteien gehen gerade soweit, wie sie müssen, um nicht den konservativen Gestus des Bewahrens vollends preiszugeben, und wie sie dürfen, um nicht die Konzernbilanzen zu versauen.
Die SPD greift auf; ohne hinreichende Kraft zur Erneuerung von innen heraus, darauf angewiesen, von außen getrieben zu werden und bei uns Honig saugen zu können. Ihr Versuch der „ökologischen Erneuerung der Industriegesellschaft“ bietet zwar Anknüpfungspunkte für eine Zusammenarbeit. Doch die Grenzen liegen dort, wo sie sich weigert, ihre weltmarktorientierte Wachstumsstrategie, die nun um den Export von Umwelttechnik erweitert ist, und ihre Klientelinteressen – im Chemie- und Energiebereich, bei Gewerkschaften und technischer Intelligenz – hinter ökologische Einsichten zurückzustellen. An solchen Interessen bricht sich der ökologische Anspruch und verkürzt sich auf technischen Umweltschutz am Ende prinzipiell unangetasteter Produktionslinien.
Die PDS, die uns vom deutschen Einigungsprozess als neue Alt-Partei beschert wird, hat den Altstalinisten der SED einen grünen Kragen angelegt, in dem der Hals sich besser wenden lässt. Doch durch das Abschreiben aus grünen Programmen kann die Verantwortung für 4o Jahre Misswirtschaft, ökologische Zerstörung, Freiheitsberaubung und Menschenrechtsverletzungen nicht retuschiert werden.
Wachstum ist für alle Altparteien das Schmiermittel der Wirtschaft. Wachstum ist für uns das Schmiermittel, das die Flügel der Vögel im Watt von Neuwerk und an den Rügener Klippen verklebt. Der Wachstumswahn ist immer noch und schon wieder der Feind der Ökologie; auch wenn Wachstum Umweltschutz und deutsche Einheit finanzieren soll. Wir wollen nicht das pauschale Wachstum der Industriegesellschaft. Wir setzen dagegen das selektive Schrumpfen und Wachsen im Rahmen eines gezielten ökologischen und sozialen Umbaus – national und international. Wir wollen alle Zusammenhänge neu betrachten. Ökologie heißt vernetztes Denken und ganzheitliches Handeln.
II.
Die Zeichen der Zerstörung unseres Planeten sind nicht mehr zu übersehen. Seit Jahren beobachtete Phänomene wie Waldsterben, Algenblüte, Wüstenbildung, Pseudokrupp, Chlorakne, verstrahlte Lebensmittel, Müllberge haben sich zu ganzen Szenarien verdichtet. In der drohenden Klimakatastrophe, in der schleichenden Vergiftung von Land und Wasser bündeln sich wie in einem Brennspiegel die zerstörerischen Folgen des nach grenzenlosem Wirtschaftswachstum gierenden Produktions- und Konsummodells: der Autowahn, der ausufernde Energieverbrauch, die Wegwerfmentalität, die Chemisierung des Alltags.
Die Antwort kann sich nicht auf einzelne Umweltschutzmaßnahmen beschränken. Wir brauchen eine umfassende politische Ökologie, die gesellschaftspolitische Antworten gibt, Maß und Richtung technologischer Entwicklung, wirtschaftlichen Nutzen und Schaden neu definiert und eine tiefgreifende Demokratisierung einleitet, die nicht vor Fabriktoren und Kirchentüren, nicht vor Küche und Schlafzimmer stehenbleibt. Eine Gesellschaft, in der alle Menschen weitgehende demokratische Mitentscheidungsrechte haben, in der Armut abgebaut ist, in der niemand wegen persönlicher Merkmale diskriminiert wird, bietet größere Chancen, jedem einzelnen Menschen das Maß an Einsicht, Selbstbescheidung und Verantwortlichkeit abzuverlangen, das für eine Überwindung der globalen ökologischen Krise erforderlich sein wird. Wir brauchen ganzheitliche Ansätze – national und international -, in denen der Austausch von Mensch und Natur und der Menschen untereinander neu bestimmt werden. Mit unseren Umbaukonzepten für den ökologischen und sozialen Umbau der Industriegesellschaft und „auf dem Weg zu einer ökologisch-solidarischen Weltwirtschaft“ (das kurz vor der Fertigstellung steht) haben wir umfassende, detaillierte Vorschläge vorgelegt.
III.
In den GRÜNEN bündeln sich unterschiedliche geistesgeschichtliche Strömungen. Wir werden uns auf die Chance besinnen, die positiven Elemente aus den wertkonservativen, liberalen, feministischen, sozialistischen und freidenkerischen Traditionen zu filtern und im offenen solidarisch-streitigen Diskurs weiterzuentwickeln. Diese Vielfalt ist es, die uns stark gemacht hat.
Die Gesellschaft ist von einem vielschichtigen Konfliktgefüge durchzogen, das nicht mit einem einzigen goldenen Hebel gelöst werden kann. Für Frieden durch konsequente Abrüstung, für die Emanzipation der Frauen, für die strukturelle Beseitigung von Armut, für den Ausgleich der Lebenschancen zwischen Nord und Süd, für gleichberechtigte und geschützte Lebensmöglichkeiten von Minderheiten, für die radikale Demokratisierung aller Lebensbereiche werden wir auch in Zukunft konsequenter eintreten als alle anderen Parteien. Unsere historische Aufgabe aber war und ist die Entdeckung und Thematisierung der ökologischen Krise unseres Globus. Diese Frage ist für uns keine beliebige unter anderen. Sie steht für uns im Vordergrund und erzwingt Antworten, die alle anderen politischen Bereiche tief durchdringen. Das Engagement für Wirtschafts- und Lebensweisen weltweit, die den Austausch der Menschen mit der Natur auf eine neue, ökologische Basis stellen, wird uns GRÜNE – bei allen Diskussionen über Einzelfragen – in letzter Instanz auch in Zukunft verbinden. Es gibt keinen inhaltlichen Grund für eine Spaltung.
Wir müssen feststellen, dass die zentralstaatlichen Planungsmodelle Osteuropas noch schwerer wiegende ökologische Schäden produziert haben als die kaum geregelten Marktkräfte bei uns; dass das Bild bei uns freundlicher aussieht, liegt allerdings im Wesentlichen an der Möglichkeit der westlichen Industriestaaten, die Umweltzerstörung in die „Dritte Welt“ zu exportieren. Zentralgelenkte Planwirtschaften wie auch die ungebremste Geltung privater Verwertungsinteressen haben sich als untauglich erwiesen, ökologisch zu wirtschaften und strukturelle Armut zu verhindern. Die berechtigte und notwendige Kritik an den einen kann keine vorbehaltlose Zustimmung zu den anderen bedeuten. Wir GRÜNEN suchen einen neuen Weg: Wir wollen die Eigeninitiative von Einzelnen, Gruppen und Gemeinschaften fördern, gleichzeitig aber die Bildung einer strukturellen Vormachtstellung dieser Schicht über den Rest der Gesellschaft verhindern; wir wollen die Produktion von Gütern denen überlassen, die das „know how“ besitzen, ihre Produktion aber streng an ökologische Standards binden; wir wollen den Märkten die Verteilung der Güter überlassen, wenn auf politischem Wege soziale Kriterien für Verteilungsgerechtigkeit festgelegt werden; wir wollen die Entfaltung von produktiver Kreativität ermuntern, die sich aber an einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion über die ökologisch sinnvolle Nutzung der vorhandenen Ressourcen auszurichten hat. Wir wollen nicht die Verfügung über Eigentum infrage stellen, wollen mit neuen Formen gesellschaftlichen Eigentums aber dafür sorgen, dass die Versprechung „Eigentum macht frei“ auf möglichst alle Gesellschaftsmitglieder zutrifft. …
IV.
Weil die GRÜNEN, das erfolgreichste politische Neugründungsprojekt der Nachkriegszeit, nicht dem deutsch-deutschen Vereinigungsprozess zum Opfer fallen dürfen, werden wir uns umgehend auf die neue Situation auch bündnispolitisch und organisatorisch umstellen. Es ist unumgänglich, dass wir sehr schnell eine möglichst enge Zusammenarbeit mit inhaltlich verwandten Gruppierungen in der DDR festlegen. Wir lehnen die Einverleibungspolitik von Westparteien den DDR-Gruppierungen gegenüber strikt ab. Wir meinen, dass bei jedem Vereinigungsprozess die unterschiedlichen Erfahrungswelten, die sich bis in den Gebrauch einer vordergründig gleichen Sprache niederschlagen und die Verständigung oft sehr schwer machen, berücksichtigt werden müssen.
Doch bleibt wegen des nicht verhinderbaren Anschlusses der DDR nach Art.23 GG, wegen des gültigen Parteiengesetzes, dessen Reformierung zurzeit nicht durchsetzbar ist, und wegen der drängenden Zeit kaum noch Spielraum für Grundsatzdebatten und Experimente, die unserer Einstellung gerecht werden könnten. Bei realistischer Sicht der Dinge, zu der wir gezwungen sind, bleibt offensichtlich nur noch eine Möglichkeit, die zu ergreifen wir auch unseren PartnerInnen in der DDR vorschlagen. Wir regen an,
– dass die beiden Parteien des Spektrums, die GRÜNEN der BRD und die GRÜNE PARTEI der DDR, ihre Fusion vorbereiten, um bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen als einheitliche Partei antreten zu können; (sie fusionierten faktisch am Tag nach der Bundestagswahl, mit dem Ergebnis, dass die Grünen-West an der 5%-Hürde scheiterten und die Grünen-Ost gemeinsam mit Bündnis 90 als Gruppe in den Bundestag einzog. LV 2024)
– dass den nichtparteiförmigen Gruppen der DDR gegenüber wie Neues Forum, Demokratie Jetzt, Unabhängiger Frauenverband, Initiative für Frieden und Menschenrechte, Vereinigte Linke und Einzelpersönlichkeiten das gemeinsame Interesse an möglichst enger Zusammenarbeit ausgedrückt wird, die eine eigenständige Weiterexistenz dieser Gruppen nicht berührt;
– dass VertreterInnen dieser Gruppen auf den zukünftigen Landeslisten, insbesondere in den Ländern, die aus der heutigen DDR hervorgehen, aussichtsreiche Plätze eingeräumt werden sollen.
Die Übertragung des GRÜNEN Projekts auf die gesamtdeutsche Ebene ist die schwierigste Aufgabe, der sich grüne Politik bisher stellen musste. Wir bitten alle ökologisch-emanzipatorisch denkenden Menschen, uns mit aktiver, kritisch-solidarischer Unterstützung zu begleiten.