(Kommentar für „WeltTrends“, 2/2021)
Die Erde hat sich weitergedreht, eine neue Generation ist nachgewachsen – alle zwei Jahrzehnte muss eine Partei ihren Kompass neu justieren, so auch Bündnis 90/Die Grünen. Nach dem „Saarbrücker Programm“ von 1980, dem „Grundkonsens“ von (West-) Grünen und ehemaligen DDR-Bürgerrechtlern von 1993 und dem „Grundsatzprogramm“ von 2002 wurde nun das neueste verabschiedet und als Ausweis beim Bundeswahleiter hinterlegt. Was manche, die die Partei in die politische Mitte bugsieren wollen, gehofft und Kritiker befürchtet hatten, ist ausgeblieben. Nein, die „Bündnis-Grünen“ haben sich nicht als Drittpartei der Union definiert, sondern sind ihren Gründungsideen treu geblieben. „Ökologisch, sozial, basisdemokratisch, gewaltfrei“ hießen die Grundwerte damals; heute etwas ausdifferenziert: „Ökologie, Gerechtigkeit, Selbstbestimmung, Demokratie und Frieden“. Während das Programm von 2002 nach den geopolitischen Turbulenzen der 1990er Jahre die wechselseitigen Bedingtheiten der unterschiedlichen Grundwerte auslotete, erweitert der jetzige Text sie in Richtung transformatorischer Policy-Konzepte. Solche Konzepte mittlerer Reichweite, für die sich der Begriff der „Wende“ einzubürgern beginnt, füllen den Raum zwischen illusionären Revolutionsfantasien einerseits und zu kurz greifenden Reförmchen andererseits.
Gewaltfreiheit bleibt das außenpolitische Leitmotiv. Dieses hat sich vom abstrakten Pazifismus der Friedensbewegungen der 1980er Jahre weiter entwickelt zu einem politischen Pazifismus, der jede Form militärgestützter Machtprojektion ablehnt, das Primat des Politischen im Rahmen einer rechtlich institutionalisierten Weltinnenpolitik einfordert und Abrüstung, zivile Krisenprävention, Deeskalationsstrategien sowie einen friedlichen Interessenausgleich zwischen den Völkern auf Basis einer globalen ökologisch-sozialen Strukturpolitik organisieren will. Nationalstaatliche Kompetenzen sollen an ein zu einem Föderalstaat verdichtetes Europa abgegeben werden, welches sich im Gegenzug als rechtsstaatliche Demokratie samt Gewaltenteilung konstituieren soll. Die Bedrohungsanalyse, die insbesondere jeder militärischen Verteidigungspolitik zugrunde liegen müsste, bleibt ein wenig unscharf. Schemenhaft tauchen einzelne Staaten als denkbare Gefahren auf, und auch Spielformen des politischen Islamismus werden als Gefahr erkannt. Die begonnene Klimakatastrophe erscheint als Brandbeschleuniger, dessen man auch aus friedenspolitischen Gründen Herr werden muss.
So weit, so gut. Ohne dass man es ihnen vorwerfen könnte, schaffen es aber auch die Grünen nicht, Antagonismen der internationalen Beziehungen widerspruchsfrei aufzulösen. Etwa das Verhältnis von Frieden und Menschrechten. Immer wieder werden letztere im Text so emphatisch betont, dass man den Eindruck bekommen kann, hier handele es sich um eine Beschwörungsformel, die die unleugbaren Ziel- und Wertekonflikte überdecken soll. Unklar bleibt zum Beispiel, wie militant für Menschenrechte eingetreten werden soll. Bleibt es beim eigenen Bekenntnis, soll Klage gegen andere geführt oder sogar versucht werden, unter Verletzung des Grundwertes der Gewaltfreiheit die Einhaltung von Menschenrechten zu erzwingen? Die Partei versucht sichtlich, ihr Kosovo-Trauma aufzuarbeiten, das damals objektiv vorhandene Dilemma, entweder den Grundwert Gewaltfreiheit aufzugeben, um einen drohenden Völkermord abzuwenden oder den Grundwert Menschrechte zu opfern, um die Gewaltfreiheit zu retten.
Sie versucht es, indem sie die UNO als oberste Instanz internationaler Konfliktregulierung stärken will. Dabei ist das Veto-Recht im Weg, das, wenn es schon nicht abschaffbar erscheint, im Falle eines nationalegoistischen Missbrauchs durch eine Abstimmung der Generalversammlung umgangen werden soll. Diese hatte damals immerhin eine Verurteilung der Militärintervention abgelehnt, die nach dem Scheitern aller intensiven politischen Friedensbemühungen unausweichlich war, und eine Lücke im Völkerrecht anerkannt: Was soll geschehen, wenn ein Staat seine Souveränität missbraucht, um eine ganze Bevölkerungsgruppe zu vertreiben oder zu massakrieren? Ausgerechnet der Holocaust, der einen Hintergrund für die Gründung der Vereinten Nationen bildete, ist in der UNO-Charta nicht überzeugend berücksichtigt.
Unterhalb dieser Ebene stellen sich weitere Fragen: Um welche Menschenrechte geht es, um die politischen oder auch um die gleichwertigen sozialen? Wie geht man damit um, wenn ein Land seine Bevölkerung vom Hunger befreit, dabei aber die individuellen Freiheitsrechte beschneidet? Oder umgekehrt, wenn eine halbwegs demokratisch gewählte Regierung sich nicht um das soziale Wohlergehen großer Bevölkerungsgruppen schert? Sind Menschenrechte wichtiger als Menschenleben? Es scheint, als habe die Partei sich hier entschieden: nur völkermörderische Vorgänge können den Einsatz von Leben, das der eigenen Soldatinnen und Soldaten, rechtfertigen. Zu einem anderen Widerspruch findet sich keine Antwort: Wie soll man mit einem Staat umgehen, der die Freiheitsrechte missachtet, wegen seines Gewichts aber für eine wirksame Klimaschutzpolitik unabdingbar gebraucht wird? In der Theorie lässt sich manches harmonisieren, was im wirklichen Leben hart aufeinanderprallt.
Das wirkliche Leben! Die Grünen haben ein gutes Programm erarbeitet, vielleicht unter allen Parteien das plausibelste. Es unterscheidet sie hinreichend, hält sie aber anschlussfähig. Und da beginnt das Verhängnis: Mit wem wollen die Grünen ihre wunderbaren Ideen durchsetzen? Unter einem CSU-Kanzler, dessen regionalistisches Denken nicht einmal die nationale Ebene, geschweige denn die europäische oder gar die globale erreicht? Der Ökonomie und Ökologie angeblich versöhnen will? Vielleicht nach dem Motto eines alten bayerischen Werbeslogans: „Es gibt zu viele Autos auf der Welt, aber zu wenige BMWs.“
Besser die Grünen erhöben selbst Anspruch auf die Führung der Regierung. Dann allerdings stellten sich andere spannende Fragen, etwa: Ist die SPD als Ganze bereit, eine grüne Kanzlerin mitzutragen? Und ist die Linkspartei willens, die in ihren Reihen weit verbreiteten Dogmatismen und verqueren Geschichtsbilder über Bord zu werfen? Sind die Bündnis-Grünen stark genug, gemeinsam mit europäischen Partnern die nötigen internationalen strittigen Diskussionen anzuzetteln und durchzustehen? Oder wenden sie sich unter dem Druck des transatlantischen Onkels, mit dem sie immer noch eine Wertegemeinschaft postulieren, vom Zivilmachtkonzept ab zugunsten des traditionellen Toolbox-Ansatzes, der alle Mittel erlaubt, die sich gerade als zweckmäßig darstellen?
Gegen jeden Kulturrelativismus wollen die Grünen die universellen Menschenrechte verteidigen. Hier übersteigert sich der auf innenpolitisches Renommee zielende grüne Linksliberalismus fast zur Hybris. Wenn es um Scharia und Djihad geht – einverstanden. Aber verstoßen die „Asian Values“ gegen Menschenrechte? Erfüllen sich individuelle Freiheitsrechte im westlichen Ego-Individualismus? Der kompromiss- um nicht zu sagen skrupellose Machtpolitiker Henry Kissinger hat diesen Aspekt auf den Punkt gebracht, indem er die Völkerbunds-Politik von Woodrow Wilson mit der „Big stick“-Politik Theodor Roosevelts verglich. Nach seiner Interpretation ist das Bekenntnis zu universellen Werten die geschickteste Form, westliche Interessen durchzusetzen. Eingebunden in den Westen, sind die Grünen prädestiniert zum Brückenschlag nach Osten, hieß es früher in Wahlprogrammen. Die letzte Dimension kommt inzwischen zu kurz. Und die westliche Dimension dürfte gern zu Gunsten der globalen etwas blasser werden.