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Angesichts der eskalierenden Kriegsgefahr in der Ukraine unternahm ich Mitte Dezember 2021 mit einem „Non-Paper“ einen Versuch, ehemalige führende deutsche AußenpolitikerInnen für eine Friedensinitiative zu gewinnen. Trotz vereinzelter engagierter Zustimmmung verpuffte die Initiative, weil keine Institution sie organisatorisch weitertreiben wollte/konnte.

 

Wir, die Unterzeichnenden unterschiedlicher Parteien, waren an führender Stelle in Bundesregierung und Bundestag für die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland verantwortlich.

Wir haben uns aus Ämtern und Mandaten zurückgezogen, doch es drängt uns, nun unsere Stimme zu erheben. Wir sind sehr besorgt über die Konfliktentwicklung zwischen Russland, der Ukraine und der NATO. Die Dynamik der letzten Monate öffnet in immer rasanterem Tempo die Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung, die zu einem europäischen Flächenbrand werden kann. Vor dem Hintergrund unserer politischen Erfahrungen, die weit in den Kalten Krieg zurückreichen, warnen wir dringend davor, auf dem Weg von Provokation und Sanktion, Rüstung und Gegenrüstung weiterzugehen. Die jetzige angespannte Situation kann sehr schnell außer Kontrolle geraten. Es darf nicht dazu kommen, dass Zehntausende Tote und große Flüchtlingsströme später wird gesagt werden müssen: „Das haben wir nicht gewollt.“

Der Zerfall der Sowjetunion hat zuvor innenpolitische Widersprüche zu außenpolitischen Konflikten gemacht. Die Transformation in den Nachfolgestaaten hat neben Freiheit und Marktwirtschaft neue Ungerechtigkeiten und Traumata mit sich gebracht. Deren interne Bewältigung folgt nicht den im Westen anerkannten Mustern von Demokratie und Menschenrechten. Ein Transfer westlicher Normen ist bisher nicht vollständig gelungen, weder durch Dialoge noch durch Sanktionen. Weitere Drohungen und Maßnahmen werden nicht dazu führen, die jeweils andere Seite in die Knie zu zwingen. Im besten Fall werden sie die bestehenden Konflikte zum Nachteil aller einfrieren; im schlimmsten werden sie unkalkulierbar eskalieren.

Geografie ist Schicksal. Ein Staat kann sich seine Nachbarn nicht aussuchen. Bei der Frage nach Bündnisbildungen wird die Freiheit der eigenen Entscheidung begrenzt durch die Verantwortung für das friedliche Zusammenleben der Völker einer Region. Das Rüsten gegen eine vermeintliche Gefahr kann auf der anderen Seite als Bedrohung empfunden werden, die eigene Rüstungsanstrengungen nach sich zieht. Eine falsche Bedrohungsanalyse kann als ‚Selffulfilling Prophecy‘ so gefährlich werden wie eine wirkliche Bedrohung. Europa muss neue Rüstungsspiralen unbedingt vermeiden und aus der augenblicklichen Eskalationsspirale aussteigen. Längerfristige und nachhaltige Lösungen sind gefragt.

Die aktuellen Konflikte verweisen darauf, dass die Chancen auf eine Gesamteuropäische Friedensordnung in der Vergangenheit nicht konsequent genutzt wurden. Statt die Eskalation weiterzutreiben, um mit dem Risiko eines Weltenbrandes siegen zu wollen, sollte sich das politische Verantwortungsgefühl der Frage zuwenden, wann und an welchem Punkt der Vergangenheit die Entwicklungen aus dem Ruder zu laufen begannen.

Auf der Basis unserer eigenen Werte und Interessen fordern wir die Bundesregierung, die Europäische Union und die NATO auf, proaktiv mit Russland und der Ukraine in Verhandlungen mit folgenden Zielsetzungen zu treten:

  1. Die Ukraine tritt der NATO nicht bei. Ihr wird eine privilegierte Partnerschaft mit der EU angeboten. Zugleich kann sie Element der von Russland angestrebten euro-asiatischen Wirtschaftsregion sein. Die Ukraine kann als Scharnierstaat zwischen der EU und Russland eine wichtige friedenspolitische Rolle spielen und zugleich den Wohlstand ihrer Bevölkerung mehren.
  2. Eine hochrangige und kontinuierlich tagende Konferenz zur Revitalisierung der europäischen Sicherheitsarchitektur auf der Basis der Charta von Paris und der Helsinki-Schlussakte wird vorbereitet und einberufen. Die Regimes zur Kontrolle und Reduzierung von Nuklearwaffen wie der INF-Vertrag werden wieder in Kraft gesetzt und weiterentwickelt.
  3. Die Verhandlungen über eine Begrenzung der konventionellen Rüstung in Europa (KSE, Open Skies) werden als Neuansatz für europäische Rüstungskontrolle wieder aufgenommen. Die baltischen Staaten werden einbezogen. Die kleinräumigen Strukturen im Bereich der Baltischen Staaten und Kaliningrads dürfen ebenso wenig ein Hindernis bleiben wie Interpretationsunterschiede regionaler Konflikte (Abchasien, Südossetien, Berg-Karabach). Als Sofortmaßnahme verlegt Russland seine grenznahen Truppen zurück; die NATO verzichtet auf die Dislozierung substanzieller Waffensysteme in der Ukraine.
  4. Auf der Krim wird eine ordentliche, von UNO und OSZE organisierte und überwachte Volksabstimmung über die staatliche Zugehörigkeit durchgeführt. Der Donbass wird autonome Region innerhalb des ukrainischen Staatsgebietes. Russisch wird offizielle Amtssprache neben dem Ukrainischen.
  5. Die abgebrochene ‚Modernisierungspartnerschaft‘ zwischen EU, Russland und der Ukraine wird wiederbelebt und im Sinne des Klimaschutzes entsprechend dem Pariser Abkommen normativ und technisch ausgestaltet.