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(Am 4. März 2021 interviewte mich der Berliner Journalist Ramon Schack zur politischen Ausrichtung der Grünen. Der Text erschien online bei www.telepolis.de/features/Noch-eine-Partei-der-Mitte-braucht-kein-Mensch-5072824.html und nun hier.)

RS: Herr Volmer, als Urgestein und Gründungsmitglied der Grünen, ehemaliger Staatsminister im Auswärtigen Amt bei Joschka Fischer, sind Sie so etwas wie ein Zeitzeuge, ein Chronist, was die programmatische Veränderung ihrer Partei im Laufe der Jahrzehnte angeht. Erkennen Sie in der heutigen ökoliberalen, transatlantisch orientierten Partei noch Kernelemente der Partei, an deren Gründung Sie so maßgebend beteiligt waren?

LV: Ökoliberale Ströme gab es von Beginn an, doch waren sie lange Zeit randständig. Man kann Winfried Kretschmann, einem Ökoliberalen der ersten Stunde, nicht vorwerfen, dass er Wahlen gewinnt. Das schließt Kritik an seiner Politik nicht aus – falls man ernsthaft bessere Alternativen hat. Sonst bleibt es bei Meckerei, die im schlimmsten Fall wieder die Konservativen an die Macht bringt. Mit dem Untergang des „realen Sozialismus“, den kein Grüner mochte, ist leider die gesamte Diskussion um Systemalternativen versandet. Viele Menschen glaubten, das Ende der Geschichte sei erreicht und man müsse sich nun möglichst bequem, individuell und originell einrichten. Dass nicht jeder das nötige Kleingeld dafür hat, wurde gern übersehen. Auch die Grünen arbeiteten lange nicht an der Bekämpfung der weiterhin bestehenden strukturellen Armut und Ungerechtigkeit, sondern an linksliberalen Themen. Seit Fridays for Future das grüne Standardthema Klima vehement auf die Straße bringt und mit der ökonomischen Frage verknüpft, sehe ich auch bei den Grünen wieder eine Trendwende hin zu sozialen und zumindest latent systemkritischen Positionen. Noch weiter in die politische Mitte rücken, um ein genügend breites Stimmenpolster zu haben, wäre schädlich. Wo bliebe bei einem solchen Manöver der Veränderungswille? Noch eine Partei der Mitte braucht kein Mensch.

RS: Nach der Verabschiedung des neuen Grundsatzprogramms der Partei, Ende des vergangenen Jahres, behaupten böse Zungen, die Grünen sind heute die Partei der „Besserverdienenden, der Bundeswehr und der Aufrüstung?“ Wie sehen Sie das?

LV: Die Behauptung ist am Text nicht belegbar. Nein, die Grünen haben sich nicht als Zweitpartei von Angela Merkel definiert, sondern kapitalismuskritische Elemente aus der Gründungsphase in zeitgenössischer Form wiederbelebt. Dass die meisten Grünen, soziologisch betrachtet, bürgerlich sind, kann man ihnen nicht vorwerfen. Die Frage, die man ihnen immer wieder stellen muss, lautet, wie sie mit ihrem gesellschaftlichen Status umgehen. Machen sie nur Klientelpolitik für Mittelschichten und Identitätspolitik für Minderheiten oder solidarisieren sie sich praktisch mit den Ärmeren? Entscheidend ist die Solidarisierungsrichtung: Mitte/Unten oder Mitte/Oben. Eigentlich waren die Grünen immer die Bürgerlichen mit dem sozialen Gewissen, dem Bewusstsein für die Verheerungen, die der Kapitalismus anrichtet, und einem Veränderungswillen, der vor Systemgrenzen nicht haltmacht. Es gibt Anzeichen, dass sie dahin wieder zurückkehren. Im außen- und sicherheitspolitischen Teil nähern sie sich dem an, was ich selbst vor über 20 Jahren in Abgrenzung sowohl zum Bellizismus als auch zu einem unpolitischen Gesinnungspazifismus als politischen Pazifismus definiert und als Orientierung vorgeschlagen habe. Und wer, außer einigen weltfremden Träumern, will die Bundeswehr abschaffen? Was wir brauchen, ist eine zeitgemäße Sicherheits- und Friedenspolitik. Da haben die Grünen, trotz aller Widersprüche und Mängel, das vielleicht beste außenpolitische Grundsatzprogramm aller Parteien.

RS: In einem Kommentar zum außenpolitischen Teil des neuen Grundsatzprogramms der Grünen haben Sie geschrieben: „Gegen jeden Kulturrelativismus wollen die Grünen die universellen Menschenrechte verteidigen. Hier übersteigert sich der auf innenpolitisches Renommee zielende grüne Linksliberalismus fast zur Hybris. Wenn es um Scharia und Djihad geht – einverstanden. Aber verstoßen die „Asian Values“ gegen Menschenrechte? Erfüllen sich individuelle Freiheitsrechte im westlichen Ego-Individualismus? Der kompromiss- um nicht zu sagen skrupellose Machtpolitiker Henry Kissinger hat diesen Aspekt auf den Punkt gebracht, indem er die Völkerbunds-Politik von Woodrow Wilson mit der „Big stick“-Politik Theodor Roosevelts verglich. Nach seiner Interpretation ist das Bekenntnis zu universellen Werten die geschickteste Form, westliche Interessen durchzusetzen“. Möchten Sie damit behaupten, jene Grünen Politiker, die sich heute transatlantisch und pro NATO positionieren, setzen mit ihrer Programmatik westliche Interessen durch, oder lassen sich sogar vor einen Karren Washingtons spannen?

LV: Menschenrechte zu einer Grundkategorie der Außenpolitik zu erheben, als andere nur von Handelsvorteilen redeten, gehört zu den großen Verdiensten der Grünen. Aber jetzt neigen sie zur umgekehrten Verabsolutierung und vernachlässigen die Aspekte von Stabilität und Sicherheit, der Bewahrung des Friedens. Die Grünen wurzeln in der Friedensbewegung der 1980er Jahre, die den Kalten Krieg, die atomare Blockkonfrontation, ja, das Denken in Blöcken überhaupt überwinden wollte. Dann ist ein Block kollabiert und viele glaubten, nun müsse man mit dem Sieger der Systemkonkurrenz gemeinsam die Welt verbessern. Das war ein Irrtum, da sich der Sieger zu oft als das Problem und nicht als die Lösung erwies. „Siegerkomplex“ nannte es Gorbatschow. Jetzt sind neue Mächte auf die Bühne getreten. Es gibt grüne Akteure, auch im Bundestag, die wollen die neue Multipolarität nicht anerkennen, sondern definieren zwei neue Blöcke: der eine, der westlich-liberale, verwirklicht die universellen Menschenrechte, der andere, der östlich-autokratische, missachtet sie. Klingt ein wenig nach dem „Reich des Bösen“. Eine menschenrechtsorientierte Politik ist zweifellos richtig. Aber wie geht sie? Wollen die Grünen dem „Lager“ – wie sie sagen – der Menschenrechtsfeinde mit den konfrontativen Mustern des Kalten Krieges begegnen? Angeblich nicht. Sie glauben, man könne Despotien über eine konsequente Sanktionsmechanik in einer Art Verhaltenstherapie umerziehen. Auch das könnte ein gefährlicher Irrtum sein. Sicher, vieles ist aus unserer Sicht in anderen Ländern unakzeptabel. Man kann und soll dies auch als Zivilgesellschaft öffentlich benennen. Für die staatliche Außenpolitik gelten andere Gesetze. Es gibt viele Beispiele, dass „name, blame, shame“ durch staatliche Organe dazu führt, dass die Länder sich ideologisch verbarrikadieren und auch kritische Bevölkerungsgruppen sich mit den Machthabern solidarisieren, etwa im Iran. Noch schlimmer: Auch Despotien, in denen die bürgerlichen Freiheitsrechte nicht gelten, sind Ordnungen. Wenn man die Ordnung von außen zerschlägt, bekommt man stattdessen nicht unbedingt eine liberale Demokratie, sondern eher Chaos und Anarchie mit noch schlimmeren Auswirkungen auf die Menschen. Irak, Libyen, Syrien sind schreckliche Beispiele dafür. Und liberal-demokratische Wahlen können unter Umständen islamistische Mehrheiten erzeugen, die ein Terrorregime errichten, wie in den 1990er Jahren in Algerien. Dann schaut der Westen weg und Menschenrechtler geraten in eine ethische Bredouille. Nein, staatliche Außenpolitik muss Probleme in Verhandlungen thematisieren. Man beachte dann bitte auch die Größenverhältnisse, bevor man sich lächerlich macht. Geradezu verwerflich ist es, wenn man das Menschenrechtsthema missbraucht, um Länder aus wirtschaftsstrategischen Gründen zu destabilisieren. Und andere Länder öffentlich angreifen, um in der innenpolitischen Eindruckskonkurrenz die volle Punktzahl zu erzielen, ist provinziell.

RS: Die Heinrich-Böll-Stiftung, als Parteistiftung von Bündnis 90/Die Grünen, propagiert in einem Aufruf für eine „substantielle Erhöhung“ des deutschen Militäretats und für ein Festhalten an der Stationierung von US-Atomwaffen in Deutschland. Die „nukleare Teilhabe“ sei ein „Kernelement der strategischen Verbindung“ zwischen den USA und der Bundesrepublik, heißt es in dem Appell den die Heinrich-Böll-Stiftung zur Amtseinführung von US-Präsident Joe Biden auf ihrer Website veröffentlicht hat. Als „Autoren und Unterzeichner“ werden unter anderem die Vorsitzende der Grünen-Stiftung Barbara Unmüßig sowie ein Generalleutnant a.D. der Bundeswehr genannt, der 2014 als hochrangiger NATO-Funktionär federführend mit der NATO-Neuausrichtung gegen Russland befasst war. Was halten Sie von diesen Thesen, welche unter der Überschrift “Transatlantisch? Traut Euch“ als Handlungsempfehlung für die Bundesregierung publiziert wurde? Weshalb propagieren ausgerechnet die Heinrich-Böll-Stiftung und grünennahe Denkfabriken, wie etwa das Zentrum für Liberale Moderne, heute außen- und verteidigungspolitische Theorien, welche man lange Zeit als nicht kompatibel mit der Programmatik der Partei angesehen hätte? Haben Sie hierfür eine Erklärung?

LV: Die Heinrich-Böll-Stiftung ist höchstens zur Hälfte, das Zentrum für liberale Moderne ist überhaupt nicht grünennah. Stiftungen dürfen keine Parteiarbeit machen: Die von den Grünen akkreditierte Böll-Stiftung hat aber von Beginn an ihre Parteiferne geradezu provokativ zelebriert. Unter der Führung von Ralf Fücks wurde eine Hälfte zu einem neokonservativen Thinktank. Seine Nachfolgerin macht es nicht anders. Von dem militärpolitischen Papier der Stiftung haben sich viele Außenpolitiker der Partei deutlich distanziert. Es entspricht in den wesentlichen Punkten nicht der Programmlage. Was die ökologische Umgestaltung des Landes angeht, leistet die Stiftung gute Arbeit, bei außenpolitischen Themen sollte der grüne Bundesvorstand qualifiziertere Berater hören. Manchmal frage ich mich: Was würde eigentlich Heinrich Böll selbst, der, auf der Straße sitzend, amerikanische Raketendepots blockiert hat, zum Treiben der Stiftung sagen, die seinen Namen trägt?

RS: Was treibt die Protagonisten an, also Ralf Fücks vom Zentrum Liberale Moderne sowie die Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung, Barbara Unmüßig, welche sie ja noch aus Ihrer Zeit als Bundestagsabgeordneter kennen? Ist das reine Überzeugung, die einstigen pazifistischen Grundpositionen über Bord zu werfen, oder erkennen Sie auch andere Motive?

LV: Wegen der Doppelspitze in der Stiftung gilt das Zwei-Schlüssel-Prinzip, das den anderen Teil, der ausgezeichnete Arbeit leistet, dummerweise mit in Haftung nimmt. Motive? Da müssten Sie Ralf Fücks selbst fragen. Im Kuratorium seines Zentrums tummeln sich neben strukturkonservativen Transatlantikern Wirtschaftslobbyisten von CDU und FDP, Ex-MdBs, die als Scharfmacher gegen grün aufgetreten sind. Das Zentrum scheint viel Geld zu haben, was die Frage nach der Quelle aufwirft. Immerhin rühmt sich Fücks immer wieder enger Kontakte zu Anti-Putin-Oligarchen in Russland. Und in den USA weitete er als Befürworter des Irakkrieges die Dialogstrategie der Böll-Stiftung tief in das Lager der Neocons aus. Seine gesamte politische Biografie, beginnend als einer der Chefideologen des maoistischen KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschland), weist eine stramme Stoßrichtung gegen Moskau aus. Manchen gefällt`s. Doch Teilnehmer des „Petersburger Dialogs“, der eigentlich der Verständigung mit Russland dienen sollte, beschweren sich inzwischen, dass Fücks und seine Leute das Forum für permanente Angriffe gegen Moskau umfunktionieren.

RS: Jürgen Trittin wurde neulich in der TAZ mit folgenden Worten zitiert, bezüglich der außenpolitischen Thesen der Böll-Stiftung: „Wer von einer Neubestimmung des transatlantischen Verhältnisses redet, sollte mehr liefern, als Rezepte der 80er Jahre. Wer das anachronistische zwei Prozent Ziel, Aufrüstung und nukleare Abschreckung zum Kern eines neuen Bündnisses liberaler Demokratien machen will, singt ganz alte Lieder.“ Würden Sie Trittin zustimmen und stellt seine Kritik so etwas wie eine Minderheitenposition in der Partei da, oder vertritt er die schweigende Mehrheit?

LV: Jürgen Trittin vertritt damit die Position des neuen Grundsatzprogramms. Leider war diese, auch wegen eigener innerparteilicher Fehler, zwischenzeitlich in die Defensive geraten. Man kann nur hoffen, dass die Partei wieder in die Spur zurückfindet, die sie hat entstehen lassen.

RS: Die Grünen befinden sich auf Erfolgskurs, gemäß den aktuellen Umfragewerten. Befürchten Sie im Falle einer schwarz-grünen-Regierung auf Bundesebene, dass die Grünen in der Außen- und Verteidigungspolitik die Union rechts überholen?

LV: Was sollen die Grünen machen, wenn es für Grün-Rot-Rot nicht reicht? Wieder eine schwarz-rote Koalition zulassen und dann meckern, dass es keine konsequente Klimapolitik gibt? Um eine GRR-Koalition zu bekommen, müssten viele Leute noch eine Menge tun – tun sie aber nicht. Es gibt in Deutschland keine linken Mehrheiten, nur Mehrheiten mit oder Mehrheiten ohne Linke. Eine rechnerische Mehrheit für GRR gibt es nur, wenn die SPD, vielleicht auch die Grünen, weit in die rechte Mitte ausholen. Was ist, wenn es dann rechnerisch reicht, die Linkspartei aber nicht regierungswillig und -fähig ist? Dass die Grünen sich auf den wahrscheinlichen Fall von Schwarz-Grün vorbereiten, kann man ihnen nicht verdenken, wenn man keine praktische Alternative im Angebot hat. Schwarz-Grün kann die Grünen Kopf und Kragen kosten. Das Hohngelächter wird groß sein im linken Lager – bis ihm dämmert, dass die einzige reale Hoffnung auf Veränderung verspielt ist.