Staatsminister im Auswärtigen Amt
1998 – 2002
Nach der Bundestagswahl am 27. September 1998 bildeten die Grünen eine zwölfköpfige Kommission für die ersten Koalitionsverhandlungen im Bund. Ich wurde federführend für die Außen- und Sicherheitspolitik. Obwohl die SPD sechsmal so stark wie die Grünen war, gelang es, wichtige Elemente grüner und friedensbewegter Programmatik im Koalitionspapier zu verankern. Nicht zuletzt deshalb, weil mein SPD-Gegenpart, Günter Verheugen, die meisten Fragen ähnlich sah. Wir beiden hatten bereits 1994 für den denkbaren Fall einer rot-grünen Mehrheit entsprechende Vorgespräche geführt. Hilfreich war auch, dass Monate zuvor auf Vermittlung von Egon Bahr Außenpolitiker beider Parteien Gemeinsamkeiten sondiert und Grundlinien fixiert hatten. Verheugen und ich brauchten knapp zwei Stunden für die Verständigung – bemerkenswert, weil Medien seit langem den Eindruck geschürt hatten, wegen ihrer pazifistischen und Nato-kritischen Haltung könne man mit den Grünen keinen Staat machen. Später erwies sich die Außenpolitik nicht nur als dramatischen Krisen, Kriegen und Katastrophen gewachsen; sie entfaltete sogar kreatives, reformerisches Potential.
Wir Verhandler orientierten uns an einem „erweiterten Sicherheitsbegriff“, wie ihn die UNO kurz zuvor definiert hatte. Nicht mehr zwischenstaatliche Kriege standen im Vordergrund, sondern ethno-religiöse Konflikte, Staatszerfall, organisierte Kriminalität, massive Menschenrechtsverletzungen, soziale Krisen, Folgen von Umweltzerstörung und Klimawandel. Später kam der internationale Terrorismus hinzu. Entsprechend musste das Instrumentarium der Sicherheitspolitik durch nicht-militärische Institutionen, Strategien und Methoden zumindest ergänzt, wenn nicht gar ersetzt werden. Krisenprävention und zivile Konfliktbearbeitung wurden so zu Leitideen der rot-grünen Außenpolitik. Auf dieser Grundlage wurde ich am 27. Oktober 1998 als Staatsminister im Auswärtigen Amt (AA) vereidigt.
Neben mir erhielt Günter Verheugen dieses Amt, nach seiner Ernennung zum EU-Kommissar abgelöst durch Christoph Zöpel. Die Wahl des Ressorts und meine Ernennung waren innerhalb der grünen Kommission ausgehandelt worden. Dennoch wird gern bis heute kolportiert, der Außenminister habe mich ins Amt geholt, um mich als parteiinternen Widersacher zu neutralisieren.
Das Außenministerium funktioniert wie ein internationaler Konzern. Es hatte zu meiner Zeit etwa 3000 Mitarbeiter in der Zentrale, erst in Bonn, dann in Berlin, und 8000 in über 200 Auslandsfilialen, den Botschaften und Konsulaten. Alle drei Jahre wurde fast das gesamte Personal versetzt. Geführt wurde es vom Außenminister und seinen Stellvertretern, zwei parlamentarischen Staatsministern und zwei beamteten Staatssekretären, unterbaut vom Direktorium der etwa 8 Abteilungsleiter. Struktur und globale Aufgabenfülle brachten die Gefahr, sich im tagespolitischen Kleinklein zu verzetteln. Zudem war ein Großteil der Arbeitszeit durch regelmäßige Pflichten gebunden wie die Teilnahme an Fraktionssitzungen oder die Präsenz auf der Regierungsbank.
Ins Amt berufen wurde ich aber, um möglichst viele Reformen umzusetzen. Deshalb forderte die CDU/CSU-Opposition bereits kurz nach Amtsantritt meinen Rücktritt. Ich hatte in einem Pressegespräch verlangt, das historisch überholte „Stehende Heer“ – gemeint war insbesondere die Panzerarmee – durch Streitkräfte im Sinne der neuen sicherheitspolitischen Leitideen zu ersetzen und eine Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung zu schaffen. Ich überlebte die „Aktuelle Stunde“ dazu im Bundestag, die meisten Panzer wurden eingemottet.
Meine Aufmerksamkeit richtete sich vor allem auf Reformen, die mit den beschränkten Bordmitteln eines Staatsministers umzusetzen waren. Unterstützung erhielt ich von meinem Büroleiter, einem erfahrenen Diplomaten, den ich von meinem Vorgänger übernahm. Nach seiner Bestallung als Botschafter wählte ich eine junge Diplomatin, die mir aufgefallen war, weil sie in einer Personalversammlung dem Staatssekretär Widerworte gegeben hatte. Vier, fünf weitere MitarbeiterInnen kamen hinzu. Mit dieser kleinen, aber schlagkräftigen Crew, unterstützt von Beamten im Hause, die nur auf frischen Wind gewartet hatten, machte ich mich an die Arbeit.
Eine Hausmacht war wichtig, denn ein Staatsminister ist als MdB zwar nicht weisungsabhängig, aber auch nicht weisungsberechtigt gegenüber den Beamten. Er ist Solist und auf seine Überzeugungskraft angewiesen. Die großen transatlantischen Themen und Europa-Fragen waren Domäne des Außenministers; für die EU war der Staatsministerkollege zuständig. Aufgrund meiner Erfahrungen übernahm ich gern die Nord-Süd- und die globale Dimension, die bis zum Terror von 9/11 als zweitrangig galt, dann aber dominant wurde. Oft ging es um „Schwierige Staaten“ – Buschhemd- statt Nadelstreifendiplomatie. Auch Strategien nicht-militärischer Sicherheit waren mein Metier. Den globalen Fragen fügte ich die Umwelt-Außenpolitik hinzu.
In den vier Jahren als Staatsminister im Auswärtigen Amt konnte ich mehr nachhaltige Veränderungen durchsetzen als in all den Jahren als Abgeordneter. Regieren bringt mehr als opponieren, trotz der unvermeidlichen Kompromisse und zwiespältigen Position. Allerdings zeigte sich im Laufe meiner Amtszeit deutlich, dass öffentliche und parteiinterne Erwartungen an das Amt und die Ausstattung des Amtes mit Kompetenzen und Ressourcen zu weit auseinanderklafften. Eine Strukturreform, die den deutschen Staatsminister den britischen oder französischen Kollegen gleichgestellt hätte, war höheren Orts nicht erwünscht, und strittige Kompetenzfragen blieben ungeklärt, was unter anderem zur sogenannten „Visa-Affäre“ führte. Wegen dieser Einschränkungen im Amt und Entwicklungen in Fraktion und Partei erklärte ich, für eine zweite Amtszeit nicht zur Verfügung zu stehen. Am 22. Oktober 2002 schied ich aus, nicht ohne gewissen Stolz auf das Erreichte.
(Eine Zusammenfassung der „Grünen Akzente“ in der deutschen Außenpolitik findet sich als „erste“ und „zweite Jahresbilanz“ unter Texte & Kontexte.)
Wenn ich unser Land und seine Menschen auswärts vertreten durfte, bemerkte ich die große Wertschätzung, die wir inzwischen genießen. Auch weil wir keine Nationalisten sind. Deutschnationale sind in der Welt verachtet, Patrioten gern gesehen. Mein Tätigkeitsbericht aus dieser Zeit ist unten auf dem „Arbeitszettel“ zu finden. Farbigere Schilderungen und Reflektionen finden sich im Buch „Kriegsgeschrei und die Tücken der deutschen Außenpolitik“.
„Arbeitszettel“
Selbstverständlich war ich an den Beratungen zu den damaligen großen Themen beteiligt wie dem Kosovo-Krieg und seiner Beendigung, dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus und der Vermeidung eines Irakkrieges. (Einige meiner Stellungnahmen finden sich unter Texte & Kontexte.) Es gab aber zusätzlich eigene Initiativen, die ich, unterstützt von meinem Büro, ergriffen und umgesetzt habe:
Als die OSZE Ende 1998 zur Überwachung des Waffenstillstandes im Kosovo 2000 Personen entsenden sollte, davon 300 aus Deutschland, war völlig unklar, wo diese Leute herkommen sollten. Es musste improvisiert werden, mit unbefriedigendem Ergebnis. Auch für Einsätze wie Wahlbeobachtung, Menschenrechtsmonitoring oder Wiederaufbauhilfe nach Krisen benötigte man einen neuen Typus Personal – nicht klassischer Diplomat, nicht Militär, nicht Entwicklungshelfer. Deshalb initiierte und managte ich ab Anfang 1999, während des Kosovo-Krieges und politisch unterstützt von rot-grünen Abgeordneten, im AA einen Arbeitsprozess zur Schaffung einer Personalreserve für derartige internationale Friedenseinsätze. Die größte Herausforderung stand am Anfang: andere Ministerien, die im auswärtigen Bereich tätig waren, wie Verteidigung, Entwicklungshilfe, Nachrichtendienst mussten überzeugt werden, einer Steuerungsgruppe unter Leitung des Auswärtigen Amtes beizutreten. So etwas war neu, aber es gelang. Am 1. September 1999 konnte ich die konstituierende Sitzung der Projektgruppe leiten. Auf der Basis eines Fachgutachtens, das auch gegen interne Bedenkenträger half, wurde die Einrichtung einer Durchführungsorganisation geplant. Sie sollte über den Aufsichtsrat an das finanzierende AA angebunden sein und in seinem Auftrag für Missionen von UNO, OSZE oder EU halbautonom ziviles Personal rekrutieren, ausbilden, in Einsätze entsenden, betreuen, nach Rückkehr reintegrieren und das gesamte Verfahren wissenschaftlich evaluieren und weiterentwickeln.
Am 24. Juni 2002 konnte ich das „Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF)“ am Ludwig-Kirch-Platz in Berlin einweihen. Es trug dazu bei, neue, nicht-militärische Formen der Krisenbewältigung zu implementieren und wurde im Laufe der Jahre zu einem weltweit geachteten und oft nachgeahmten Leuchtturmprojekt.
Für dieses und weitere geplante Projekte formulierte ich 1999 ein „Rahmenkonzept für Krisenprävention und zivile Konfliktbearbeitung der Bundesregierung“, das von der rot-grünen Parlamentsmehrheit beschlossen wurde.
Parallel gelang es mir, in den Bundeshaushalt einen eigenen Titel zur Finanzierung von Projekten der Krisenprävention oder des Wiederaufbaus in Regionalkonflikten einzustellen. Den bestehenden Titel „Ausstattungshilfe für ausländische Streitkräfte“ ließ ich umdefinieren in Demokratisierungs- und Katastrophenhilfe. Mit ihm wurden z.B. nordafrikanische Soldaten zu Feuerwehrleuten umgeschult oder Kindersoldaten in Südafrika ins Zivilleben reintegriert. Auf UNO-Ebene arbeitete ich daran mit, das Konzept umfassender Wirtschaftssanktionen gegen Staaten durch das der „Smart Sanctions“ zu ersetzen, die gezielt gegen ausgewählte Personen wirken. Unser Konzept der nicht-militärischen Sicherheitspolitik wurde auf meinen Vorschlag hin Schwerpunkt eines EU-Sondergipfels in Helsinki 1999 und dort in die „Europäische Sicherheitsstrategie“ aufgenommen. Auch Nato und G7/G8 und OSZE wurden damit befasst. Alle Initiativen flossen später in den, von der rot-grünen Mehrheit im Bundestag verlangten, umfassenden „Aktionsplan Krisenprävention“ der Bundesregierung ein.
Nach einer Inspektion des Krisenverhütungszentrums der Organisation Afrikanischer Staaten in Addis Abeba im Februar 1999 schlug ich nicht nur vor, dessen Ausstattung zu verbessern, sondern in Westafrika ein weiteres Zentrum zu gründen, ähnlich dem für Berlin geplanten ZIF. 2004 eröffnete Bundeskanzler Schröder in Ghana das hauptsächlich aus dem deutschen Etat für Krisenprävention finanzierte Kofi Annan Centre in Accra.
Bei Arbeitsaufnahme fand ich Konzepte für die Politik gegenüber Afrika, Asien, Lateinamerika und der Karibik vor, die einseitig auf deutsche Außenwirtschaftsinteressen ausgerichtet waren und nicht unserem Neuansatz einer „integrativen Außenpolitik“ entsprachen. So veranlasste und begleitete ich, unterstützt von hoch motivierten Beamten in den zuständigen Unterabteilungen, die Erarbeitung von differenzierteren „Regionalkonzepten“, in denen neben den Eigeninteressen der betroffenen Länder auch globale Fragen wie Ökologie und Menschenrechte Berücksichtigung fanden.
Parallel dazu suchte ich einen Neuansatz unserer Beziehungen zu Staaten, die als „schwierig“ galten. Dazu unternahm ich gezielte Delegationsreisen oder nutzte Gelegenheiten bei Routinebesuchen.
Den Beginn machte im Februar 1999 die Leitung einer EU-Troika-Mission nach Äthiopien und Eritrea, um in letzter Minute in Gesprächen mit den Staatspräsidenten Meles Zenawi und Isayas Afewerki einen drohenden Krieg abzuwenden. Uns war leider kein Erfolg beschieden.
Eine kulturpolitisch angelegte Andenreise im Juli des Humboldt-Jahres 1999 führte mich von Humboldts Landungsort Cumaná in Venezuela bis zu seinem Umkehrpunkt auf 5400 m Meereshöhe am Chimborazo in Ecuador (die Bergsteiger-Etappe natürlich privat). In Venezuela stieß ich im Gespräch mit dem Außenminister einen Besuch von Staatspräsident Chavez in Deutschland an, um diesen – so die Hoffnung – in die demokratische Variante des Sozialismus einzugemeinden. Beim Besuch in Berlin redete Bundeskanzler Schröder in diesem Sinne – der Rest ist bekannt.
In Kolumbien sprach ich, tief in der Drogen-Anbauregion, mit Betroffenen der Bürger- und Drogenkriege. Anschließend erklärte ich in Bogotá das Ende aller Sympathien der europäischen Linken für ehemalige Befreiungsbewegungen, die längst zu menschenverachtenden Drogenkartellen mutiert waren. Auch gelang es mir, einem deutschen „Geheimagenten“, der im Namen der alten Bundesregierung Geiselfreikäufe organisiert hatte, die Legitimation und dem Geiselhandel eine Geschäftsgrundlage zu entziehen.
In Peru solidarisierte ich mich offiziell und öffentlich mit Folteropfern gegen die Regierung Fujimori und in Bolivien versagte ich dem Staatspräsidenten Banzer, der Jahre zuvor als Militärdiktator für zahlreiche politische Morde verantwortlich gewesen war, einen Besuch in seinem Geburtsland Deutschland, wo er Persona non grata blieb.
Im Oktober 1999 setzte ich in Indonesien gegenüber Staatspräsident Habibie das ganze deutsche Gewicht dafür ein, die Sezession Ost-Timors und seine Gründung als unabhängiger Staat nicht länger militärisch zu bekämpfen. 2002 wurden, unterstützt durch die Arbeit des ZIF, Bonner Kommunalbeamte zum Aufbau eines Einwohnermeldewesens in das selbstständige Ost-Timor entsandt.
Im Juni 2000 führte ich in Algerien ausführliche Gespräche mit Staatspräsident Bouteflika. Das Land war nach einem Wahlsieg von radikalen Islamisten neun Jahre zuvor im Bürgerkrieg versunken. Die Islamisten massakrierten bestialisch Tausende Menschen, die ihnen nicht folgen wollten. Der Westen schaute weg. Demokratische Kräfte hatten später mit robuster Militärhilfe die Macht zurückerobert, was Menschenrechtler ihnen vorwarfen. Nun initiierte ich einen Empfang des Staatspräsidenten beim Bundeskanzler, sein erster Auftritt in Europa, und konnte so dem Land den Weg zurück in die Staatengemeinschaft ebnen.
Als ich im September 2000 in Libyen eine der „Jolo-Geiseln“ abholte, bei deren Befreiung libysche Diplomaten „gute Dienste“ geleistet hatten, führte ich ein Gespräch mit dem Sohn von Revolutionsführer Gaddafi, das ich im April 2001 mit seinem außenpolitischen Berater vertiefte. Die Initiative reihte sich in westliche Bemühungen ein, dem Land, das für Terroranschläge verantwortlich war, seit geraumer Zeit aber „good will“ demonstrierte, einen Weg zurück in die Staatengemeinschaft zu weisen. Ich schlug eine Scharnierrolle zwischen Europa und Afrika vor. Der Gedanke gefiel meinem Counterpart, Hoffnung kam auf; doch die Geschichte nahm einen anderen Lauf.
Im Oktober 2000 reiste ich als erster hochrangiger westlicher Regierungsvertreter auf eigene Faust nach Nordkorea. Vorausgegangen waren Gespräche mit dem nordkoreanischen Geschäftsträger in Berlin. Ich wollte herausfinden, ob und unter welchen Bedingungen Deutschland und die EU mit Nordkorea offizielle diplomatische Beziehungen aufnehmen könnten. Nach dem erfolgreichen Besuch in Pjöngjang plädierte ich während der ASEM-Konferenz in Südkorea Bundeskanzler Gerhard Schröder gegenüber für die Aufnahme; sie sollte der Unterstützung der südkoreanischen „Sonnenscheinpolitik“, der Entspannungspolitik mit dem Norden, dienen. Der Kanzler gab im Bunde mit den anderen Europäern grünes Licht.
Das Treffen der EU- und ASEAN-Staaten im Dezember 2000 in Thailand drohte an der Myanmar-Frage zu scheitern. ASEAN wollte das diktatorisch regierte Land aus guten Gründen aufnehmen. Dagegen standen Sanktionen der EU. In einem ausführlichen Vier-Augen-Gespräch mit dem Außenminister des Militärregimes gewann ich den Eindruck, das Regime suche nach einer Lösung ohne Gesichtsverlust und benötige dafür externe „gute Dienste“. Die EU-Delegation erwartete einen deutschen Vorschlag. Ich überließ die Präsentation meiner Idee dann der EU-Präsidentschaft Italien: Myanmar bekommt einen offiziellen Beobachterstatus bei der Konferenz und die EU im Gegenzug die Möglichkeit, mit einer Troika im Lande frei zu reisen und mit der Opposition zu reden. Die Lösung wurde angenommen und trug zum (vorübergehenden) Wandel des Landes bei.
Als Abgeordneter war ich in Kuba 1986 zum „Freund des Volkes“ erklärt worden. Eine Reise als Parteivorsitzender scheiterte später, weil Kuba verlangte, das Thema Menschenrechte auszusparen. Nun, im Februar 2001, wollte ich als erstes deutsches Regierungsmitglied nach Havanna reisen, um dessen Isolierung zu durchbrechen. Nachdem ich in Berlin vorab nebenbei auch die Menschenrechte erwähnte, telexte Präsident Fidel Castro höchst selbst, ich möge von meinem Visum keinen Gebrauch machen. Vor der UNO beschimpfte er mich lautstark als Chauvinisten. Baldige kubanische Entschuldigungen und Sonderemissäre konnten nichts mehr retten. Wenn der Chef mich auslud, müsste auch der Chef mich wieder einladen… Das war es mit der Freundschaft. Später reisten andere.
Im März 2001 flog ich nach Chile, das ich zur Zeit der Pinochet-Diktatur 1987 als Mitglied der halbkonspirativen „Internationalen Parlamentarierversammlung zur Wiedereinführung der Demokratie“ zwei Mal besucht hatte. Damals hatte ich von der sektenhaft-kriminellen „Colonia Dignidad“ eines deutschen Staatsbürgers erfahren, die auch als Folterzentrum diente. Mehrmals hatte ich das Thema erfolglos im Bundestag angesprochen. Als Staatsminister hatte ich nun offiziell einen Vertreter der traumatisierten Kolonisten empfangen. Jetzt versicherte ich der demokratischen Regierung Chiles, die offensichtlich glaubte, die Colonia stünde irgendwie unter deutschem Schutz, dass wir die schnellstmögliche Schließung und Bestrafung der Verantwortlichen wünschten, was auch geschah.
Zahlreiche Reisen dienten der Beziehungspflege mit Ländern, die nicht in der ersten Reihe standen wie Golfstaaten, Vietnam, Laos, Mongolei, südliches Afrika, Zentralamerika und Karibik. Manche führten in unterschwellige Konfliktregionen wie Hongkong, den Kaukasus, Jemen und die palästinensischen Autonomiegebiete. Dabei gelang es hin und wieder, eigene Akzente zu setzen.
So verhandelte ich im September 2001 in Rom die Freilassung deutscher Demonstranten, die bei Aktionen gegen den G7-Gipfel in Genua festgenommen worden waren. Bei der UNESCO in Paris konnte ich einen deutschen Vizepräsidenten durchsetzen; immerhin war Deutschland mit Abstand der zweitgrößte Zahler. Kambodscha sagte ich die Mitfinanzierung einer Wahrheitskommission zur Aufarbeitung der Gräueltaten der Roten Khmer zu. In Argentinien gab ich Bürgerinitiativen im Tigre-Delta den Anstoß, einen Umweltverband zu gründen, um die Aufnahme des Feuchtgebietes in die Welterbeliste zu erstreiten. Die Goethe-Institute in den Andenstaaten forderte ich auf, statt nur deutsche Kultur zu verbreiten, mit einheimischen Kulturmittlern interaktiv zusammenzuarbeiten, was sie gern taten, aber bisher für unerwünscht hielten. In Uganda verabredete ich die verstärkte Kooperation beim Management von Nationalparks. Togo entzog ich bei bilateralen Gesprächen in Berlin die besondere, nachkolonial-traditionelle, deutsche Unterstützung der despotischen Regierungspartei. Nach Rückkehr von einem längeren Gespräch in Kenia mit der Umweltaktivistin und Frauenpolitikerin Wangari Maathai schlug ich sie dem Nobelpreis-Komitee vor. 2004 erhielt sie den Friedensnobelpreis.
Ein besonderes Thema war die EU-Perspektive der Türkei. Im Europaparlament warb ich dafür, dem Land einen Kandidatenstatus einzuräumen und es zugleich auf demokratische Reformen zu verpflichten. Im AA empfing ich als Erster offiziell eine kurdische Delegation.
Die rot-grüne Außenpolitik konnte und wollte nicht die Welt aus den Angeln heben, zeigte aber deutlich andere Konturen als die liberal-konservative der Vorgängerregierung. Vieles hat bis heute Bestand. Leider kam es an manchen Orten, auch bei uns, zu Rollbacks.
Angesichts der neuen Bedrohungen, in die vermehrt Zivilisten verwickelt wurden, Naturkatastrophen und Unglücke und unter Berücksichtigung des UNO-Konzeptes der „menschlichen Sicherheit“ gab es erhebliche Lücken im Krisenmanagement des Auswärtigen Amtes. Auf meine Initiative hin wurde beim Regierungsumzug Ende 1999 statt des bisherigen Provisoriums ein permanenter Krisenstab und ein entsprechend ausgerüstetes dauerhaftes Krisenzentrum eingerichtet.
Bereits wenige Monate später stellte das neue Instrument seine Effizienz unter Beweis, als eine Gruppe von Tauchtouristen, die meisten Deutsche, von Abu-Sayyaf-Islamisten in Malaysia entführt und monatelang auf der philippinischen Insel Jolo gefangen gehalten wurde. Es gelang uns unter erheblichen Anstrengungen, die Menschen unversehrt frei zu bekommen. Weitere Geiselnahmen in den folgenden Jahren gingen ebenfalls glimpflich aus.
Nachdem im Juli 2000 in Paris eine Concorde verunglückt war und verzweifelte Anrufe im Auswärtigen Amt eingingen, initiierte ich auf der nächsten Internationalen Tourismus Börse (ITB) in Berlin von Luftfahrtunternehmen, Tourismuswirtschaft und AA die systematische Kooperation ihrer bisher unverbundenen Krisenstäbe. Zudem drängte ich darauf, die bisher sporadischen „Reisehinweise“ und „Reisewarnungen“ zu systematisieren und zu verrechtlichen sowie eine „Hotline“ für Bürgeranfragen einzurichten und in allen Reisekatalogen abzudrucken. Bei der Tsunami-Katastrophe Weihnachten 2004 bewährte sich diese Maßnahme.
Manchmal konnte ich auch bei Anliegen im eigenen Lande helfen. Die Bewohner der bayerischen Gemeinde Holzkirchen/Vallay hatten jahrelang mit einem hochfrequenten, leistungsstarken Militärsender der USA Richtung Osteuropa zu kämpfen. Bürgerinitiativen, deren Klagen über eine Häufung von Leukämie, Neurodermitis, Schlafproblemen etc. von der Vorgängerregierung abgewimmelt worden waren, fanden bei mir Gehör. Das AA war zuständig für den Stationierungsvertrag mit den USA. Ich sagte Hilfe zu und fand einen Weg, den Sender stillzulegen und abzubauen.
Als erste Delegation nach Amtsübernahme fand sich die betriebliche Vertretung der Homosexuellen bei mir ein. Erfolgreich sorgte ich dafür, dass gleichgeschlechtliche Paare bei Versetzungen an Botschaften Heteros gleichgestellt sein sollten; der Botschafter konnte jetzt auch seinen Mann, die Botschafterin ihre Frau mitnehmen – eine Blaupause für das bald folgende umfassende Antidiskriminierungsgesetz.
Gemeinsam mit dem Menschenrechtsbeauftragten Gerd Poppe führte ich einen regelmäßigen Dialog mit Menschenrechtsorganisationen. Es ging insbesondere um die „asylrechtlich relevanten Lageberichte des AA“, die von Gerichten bei Asylentscheidungen zugrunde gelegt wurden. In einem langwierigen, intensiven Arbeitsprozess mit zahlreichen Anhörungen von Flüchtlingsräten, Pro Asyl, dem UNHCR und Länderexperten wurden ca. 40 Berichte gründlich überarbeitet.
Nachdem ich zahlreiche haarsträubende Einzelfälle vorgefunden hatte, bei denen die Vorgängerregierung mit abenteuerlichen Begründungen dreimonatige Besuchervisa verweigert hatte, veranlasste ich – im Rahmen der geltenden Gesetze – eine humanere Auslegung der Ermessensspielräume („Volmer-Erlass“). Ziel war die Vermeidung von Härtefällen besonders bei Familienbesuchen sowie die Modernisierung des Grenzmanagements nach dem Ende des Kalten Krieges. Visastellen, die Visitenkarte Deutschlands, sollten ein freundliches Gesicht zeigen. Daraus konstruierten Konservative und ihre Medien die „Visa-Affäre“. Die monatelange Rufmordkampagne gegen mich, bei der auch die Solidarität meiner Partei sehr zu wünschen ließ, mündete in einen Untersuchungsausschuss, der mich ausdrücklich von allen Vorwürfen freisprach. Mein Staatsministerkollege Christoph Zöpel schrieb später: „Was Dir im Zusammenhang des sogn. Volmer Erlasses angetan wurde, ist ein bleibender Skandal…“ Im Zuge des Anti-Terror-Kampfes ab 2001 sorgte ich trotz allgemeiner Personaleinsparungen in Bundesbehörden für die Verbesserung der finanziellen, personellen und räumlichen Ausstattung von Konsulaten und Visastellen.
Auch in vielen menschenrechtlichen Einzelfällen weltweit versuchte ich zu helfen. So konnte ich z.B. dazu beitragen, den ehemaligen sowjetischen U-Boot-Kommandanten und nun aktiven Umweltschützer Alexander Nikitin, der Hintergründe der „Kursk-Katastrophe“ veröffentlicht hatte, aus den Fängen des FSB zu befreien und in Berlin zu empfangen. In einer komplizierten Diplomatie konnte ich mitbewirken, dass die Türkei das Todesurteil gegen den militanten Kurdenführer Abdullah Öcalan in eine lebenlängliche Haft umwandelte.
Weil neben der „Staatenwelt“ auch die „Gesellschaftswelt“ zunehmend stärker internationale Beziehungen einging, schien es mir angebracht, sie zur Steigerung der Kohärenz besser zu vernetzen, d.h. über die Wirtschaftslobbyisten hinaus. Besonders Nichtregierungsorganisationen, Verbände und Wissenschaft hatte ich im Blick. So rief ich 1999 das „Forum Globale Fragen“ ins Leben, das zu ausgewählten Themen die gesamte Community im Auswärtigen Amt zusammenbrachte, auf der Basis von Gleichberechtigung und persönlicher Meinung, mit hochrangigen RednerInnen – und einem Glas im Stehen.
In der „Ampel“-Koalition 2021 kündigte die Grüne Außenministerin Annalena Baerbock eine „feministische Außenpolitik“ an. Ob das offensive Labeling sinnvoll war, sei dahin gestellt. Für Außenminister Joschka Fischer und mich war diese Politik bereits selbstverständliche Praxis. Sie betraf die Personalpolitik im AA ebenso wie Programme bei Auslandsreisen, die Beachtung der besonderen Rolle von Frauen als Opfer in Konflikten, aber auch als konstruktive Kräfte bei Friedenssicherung und Entwicklung. Dieser Hinweis sei mit über 20-jähriger Verspätung erlaubt.
Hier einige Beispiele, an die ich mich rückblickend erinnere:
Personalpolitik:
Ich habe als erster (Staats-)minister eine BüroleiterIN eingesetzt. Sie hat als erste BürochefIN eines Ministers an den morgendlichen Lagebesprechungen der Führung des AA teilgenommen. Sie wurde danach erste BotschafterIN bei einer multilateralen Institution (UNESCO in Paris) und anschließend die erste PressesprecherIN der Botschaft in Washington. Später erhielt sie weitere Botschafterposten. Ihr folgte in meinem Büro eine weitere Frau nach. Meine AmtsnachfolgerIN als StaatsministerIN hat diese allerdings sofort durch einen MANN ersetzt. Ich habe mit dafür gesorgt, dass zum ersten Mal eine Frau Leiterin des bedeutsamen Haushaltsreferates wurde. Einer Büro-Mitarbeiterin im gehobenen Dienst habe ich die Möglichkeit eingeräumt, über Sonderprüfungen in den höheren Dienst aufzusteigen. AM Fischer hat ähnlich gehandelt. So vergrößerten wir den Pool an Frauen, die perspektivisch für Spitzenpositionen infrage kamen.
(Die Amtsnachfolger aus SPD und FDP haben die Frauenförderung anschließend beendet oder sogar rückgängig gemacht. Von Grünen geförderte Frauen und Männer wurden kaltgestellt oder bei Beförderungen übergangen. Meiner ersten Büroleiterin wurde sogar verweigert, dass ihr Bild in die „Ahnengalerie“ der ersten weiblichen Spitzenkräfte aufgenommen wurde.)
Diplomatie:
Regelmäßig führte ich bei Auslandsreisen Gespräche mit Frauengruppen. Das betraf etwa die „Mütter der Verschwundenen“ oder im Untergrund agierende Feministinnen in diktatorischen Staaten, Soldatenmütter und Menschenrechtsaktivistinnen in Russland, Umweltschützerinnen in Afrika. Dass ich eine von ihnen, Wangari Matthai, anschließend erfolgreich für den Friedensnobelpreis vorschlug, wurde bereits erwähnt.
Besonders pikant war der feministische Ansatz in der arabisch-islamischen Welt. In Kuweit z.B. erhielt ich eine Einladung zu einer Diwanija; es handelt sich dabei um eine Männerversammlung, bei der – in lange weiße Gewänder gekleidet – jeder Mann ohne Ansehen seines sozialen Status mitreden darf. Ich habe ultimativ darauf bestanden, dass meine begleitende Büroleiterin ebenfalls teilnehmen durfte – ein erfolgreicher Tabubruch. Im Jemen besuchte ich eine konspirative Versammlung von Frauen, die – tief verschleiert – berieten, wie der Missbrauch des Korans für patriarchalische Unterdrückung bekämpft werden könnte.
Besonders traurig wurde die Begegnung mit der schwedischen Außenministerin Anna Lindh. Bei internationalen Kongressen habe ich sie oft unterstützt, wenn sie die spezifischen Perspektiven einer Frau oder zur Lage der Frauen ansprach. Kurz nach einem unserer gemeinsamen Auftritte wurde sie von Rechtsextremisten ermordet.
Krisenbearbeitung:
Während des Kosovokrieges hatten wir das Thema Massenvergewaltigung als Methode der Kriegsführung besonders im Blick. Bei der Intervention in Afghanistan als Antwort auf die Terroranschläge von 9/11 galt ein Hauptaugenmerk der Verbesserung der Lebenssituation und gesellschaftlichen Stellung der Frauen.
Bei der Überarbeitung der „asylrechtlich relevanten Lageberichte“ habe ich dafür gesorgt, dass Gewalt gegen Frauen systematisch aufgeführt wurde.
Globale Fragen:
Für das „Forum globale Fragen“, das ich geschaffen hatte, suchte ich stets prominente Vortragende. Die erste Referentin überhaupt war die Beauftragte der Vereinten Nationen für Frauenfragen. Hier bereits wurde „feministische“ Politik als Leitidee der neuen rot-grünen Außenpolitik implementiert.