(Beitrag für WeltTrends, Juli 2021, mit dem Titel „Lehren aus den Afghanistan-Einsätzen“)
Am Anfang standen die Terrorangriffe vom 11. September 2001 auf die USA. Die Afghanistan-Einsätze waren die Reaktion. Und: Wer bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus Fehler begeht, steht nicht auf derselben Stufe wie die Terroristen. Nur mit solch klaren Axiomen kann man die Afghanistaneinsätze kritisieren, ohne in die Falle zu laufen, die Opfer zu Tätern zu machen. Die Opfer waren zunächst und in aller erster Linie US-Amerikaner und ihre Besucher auf dem Boden der USA.
Die erste Lehre lautet, für Kritiker der US-Außenpolitik nicht leicht verdaubar: Auch eine Supermacht kann angegriffen werden. Sie ist nicht unverwundbar. Auch sie hat das Recht auf Selbstverteidigung und Bündnissolidarität. Selbst wenn der Präsident in Europa nicht beliebt ist.[1] Doch musste die Reaktion unbedingt militärisch ausfallen? Als damaliger Staatsminister im Auswärtigen Amt kann ich versichern: Die rot-grüne Bundesregierung hoffte inständig, dass die USA eine andere, eine nicht-militärische Strategie entwickeln würden. Leider kam es anders.[2]
Interventionen können nach drei Kriterien beurteilt werden: Legalität, Legitimität, Effizienz. Legalität und Legitimität können in Widerspruch geraten, wie der Kosovo-Konflikt gezeigt hat. Aus mangelnder Effizienz, die sich später erweist, kann nicht auf einen Mangel anfänglicher Legalität zurückgeschlossen werden. Und Legitimität bedeutet nicht, dass eine Maßnahme effizient und klug sein muss.
Die Reaktion der USA war völkerrechtlich legal: die USA waren aus dem Ausland mit Waffengewalt angegriffen worden. Die UNO bestätigte das Selbstverteidigungsrecht nach Art.51 der UNO-Charta.[3] Die entführten Flugzeuge waren Kerosinbomben, die Aktion war von ausländischen Mächten geplant. Die USA forderten die Taliban als De-facto-Machthaber Afghanistans auf, die dort lebenden Hinterleute des Terrors, die Logistiker und Aktivisten von Al Quaida, auszuliefern. Als diese sich weigerten, erfüllte der Staat Afghanistan den völkerrechtlichen Tatbestand der „Beherbergung“. Diese gilt als aktive Unterstützung. Daraufhin durften die USA zur Selbsthilfe greifen, solange die Verhältnismäßigkeit gewahrt war. An der folgenden „Operation Enduring Freedom“ (OEF) nahm, verpflichtet durch den Art. 5 des Nato-Vertrages, auch Deutschland teil. Sein Beistand war verfassungsrechtlich legal und angemessen: groß genug, um den USA als Solidarbeitrag zu gelten, klein genug für die Akzeptanz in der Wahlbevölkerung.[4] Kurz: Die USA und die Nato führten keinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg.
Die UNO rief alle Staaten auf, einen aktiven Beitrag zur Bekämpfung des Terrorismus zu leisten, by any means, also auch militärisch. Sie definierte den internationalen Terrorismus als eine der neuen Gefährdungen des Weltfriedens. Deshalb hat der damalige Verteidigungsminister Peter Struck von der SPD etwas anderes als Hohn für seine Aussage verdient, die deutschen Sicherheitsinteressen würden auch am Hindukusch verteidigt. Die Lehre lautet: die Globalisierung bringt neue transnationale Feinde und braucht eine globalisierte Sicherheitspolitik.
Die Reaktion der USA war legitim: Selbstverteidigung ist nach dem Naturrecht immer legitim. Die Legitimität wurde erhöht durch die erklärte Absicht, die Lebens- und Entwicklungschancen der von den Taliban terrorisierten Bevölkerung, besonders der Frauen, zu verbessern. Sie litt aber darunter, dass die USA keine sichtbaren nicht-militärischen Maßnahmen ergriffen, z.B. das Vermögen der Familie Bin Laden zu blockieren sowie Saudi-Arabien und den Jemen als Herkunftsländer der Terroristen zu markieren. Zudem hatten sie die Täter um Osama Bin Laden einst selbst im Kampf gegen die sowjetische Besatzungsmacht gefördert. Weitere Legitimation ging verloren, als das dritte Kriterium, die Effizienz, brüchig wurde.
Die Militäraktion OEF war anfangs durchaus effizient. Sie zerschlug die Ausbildungs- und Planungscamps von Al Quaida. Sie wurde ineffizient, als die Terroristen nach Pakistan auswichen. Die Entwicklung lehrte, dass die globale strategische Überlegenheit einer Supermacht in einem asymmetrischen Krieg nicht viel wert ist. Die Attacken der USA wurden nun rabiater und großflächiger. Zudem wurden nun Cluster- und Aerosol-Bomben abgeworfen, deren Einsatz in bewohntem Gebiet völkerrechtlich geächtet ist. Immer mehr unbeteiligte Zivilisten wurden zu Opfern. Bis 2014 wurde OEF fortgesetzt, nachdem Bin Laden 2011 auf pakistanischem Gebiet durch ein Spezialkommando liquidiert wurde.
Während die USA das „Recht zum Krieg“ hatten, verletzten sie das „Recht im Krieg“ und verloren damit auch Legalität. Mit dem Gefangenenlager Guantanamo zerstörten sie ihren moralischen Anspruch fast völlig. Jahrelang wurden Hunderte Menschen als angeblich irreguläre Kombattanten in Käfigen eingepfercht, ohne die Rechte eines Kriegsgefangenen oder zivilen Untersuchungshäftlings zu erhalten, obwohl die meisten – auch nach US-Wissen – unschuldig waren. Die internationale Koalition gegen den Terror begann zu zerbröseln. Opfer – das lehrt diese Wendung – können ihre Unschuld verlieren und zu Tätern werden. Die USA geben ein beredtes Beispiel ab. Nach der Phase 1 des Anti-Terror-Kampfes folgte die Phase 2, der Angriff auf den Irak. Weil sie keine Waffen gegen den eigentlichen Feind, die Terroristen, hatten, schufen sie sich einen Feind, gegen den sie Waffen besaßen. Der Angriff war weder legal noch legitim noch effizient – er hinterließ einen Failed State, eine destabilisierte Region, schuf mit dem IS ein neues Terrornetzwerk und trägt Mitschuld an den grauenhaften Zuspitzungen in Syrien, an Flüchtlingsströmen, die zu uns kommen…
Die militärische Eskalation in Afghanistan basierte auf einer fatalen schleichenden Verschiebung des Feindbildes – von Al Quaida hin zu den Taliban. Damit nahm der Krieg eine Prägung an, die mit dem Selbstverteidigungsrecht nur noch schwer begründbar war und politischen Gegnern Stoff für die klassische Imperialismuskritik bot. Dabei war in Afghanistan nichts zu holen, weder Rohstoffe noch Märkte noch geostrategische Vorteile; es waren nicht einmal Sowjets zu vertreiben. Es ging darum, zu Hause einen Sieg vorweisen zu können. Befördert wurde das sich abzeichnende Desaster durch den guten Willen von Menschenrechtlern und Entwicklungspolitikern.
Bereits im November 2001 hatte die Bundesregierung die afghanischen Stammesfürsten nahe Bonn eingeladen, um eine „Loya Jirga“, eine große Stammesversammlung, vorzubereiten. Sie sollte gleichermaßen dem „State Building“ und „Nation Building“ dienen, dem „Top down-“ und dem „Bottom up-Ansatz“ beim „Post Conflict Peace Building“. Im Idealfall laufen diese Prozesse parallel. In Afghanistan liefen sie gegeneinander. In Bonn wurden weitreichende Pläne geschmiedet zur Demokratisierung und Institutionenbildung, für Entwicklung und Frauenförderung. Das Treffen setzte in der hiesigen Bevölkerung, bei NGOs und Hilfswerken eine Welle guten Willens frei. Jeder wollte nun aus dem wilden Afghanistan, das „wir“ so lange vergessen hatten, einen Musterstaat machen, auch dem sicherheitspolitischen Gedanken der „Prävention“ folgend.
Die Bundesregierung war skeptisch. Viele dort – auch der Autor – stellten sich eher die Frage, wie wir aus dem Schlamassel wieder herauskämen. Doch die humanitären Strategien waren auf Dauer angelegt. Dabei waren die Taliban im Weg. Dieser Umstand traf sich mit dem Wunsch der USA, das deutsche Militärkontingent zu verstärken. Die Bundesregierung wollte keine Aufstockung der OEF-Truppen, konnte aber das US-Begehren nach größerem Engagement nicht zurückweisen. So kam es zu einem Kompromiss, der sich ISAF nannte: ab Ende 2001 operierte eine von afghanischer Seite erbetene, von der UNO legitimierte internationale Militärmission zur Stabilisierung „befriedeter“ Regionen und Quasi-Schutztruppe für die sich bildenden „regionalen Aufbauteams“. Einen späteren Versuch der USA, ISAF unter OEF-Kommando zu stellen, konnte die Bundesregierung abweisen. Die schmerzlichen Verluste an Soldatinnen und Soldaten wie einheimischen ZivilistInnen, die ISAF neben kleineren Erfolgen brachte, wurden innenpolitisch heftig diskutiert.
Strategisch bedeutsam wurde die Tatsache, dass State Building und Nation Building in Widerspruch gerieten. Die Staatsmacht Afghanistans reicht kaum über Kabul hinaus. Hier wurden Behörden geschaffen, Polizeikräfte trainiert, einheimische Soldaten ausgebildet. Hier entwickelte sich Moderne, hier gingen nun Mädchen zur Schule. Aber hier logierte auch die Schutzmacht USA. Hier kam es immer wieder zu Terroranschlägen durch die vertriebenen Taliban. Und von hier gingen weiterhin Bombardierungen und Zerstörungen ländlicher Lebenswelten aus. Der Staat erschien der Masse der Bevölkerung als Fremdkörper, von außen aufgezwungen, ohne sinnvolle Funktion für die gesellschaftliche Organisation.
Denn – so die komplementäre Entwicklung – das Volk in seiner Breite wollte keine nationale Demokratie nach westlichem Muster. Es hing an seiner Stammeskultur, folgte lieber dem eigenen Chief, der sich im Stammesgerangel als potent erwies. Ob Chief oder Warlord, gern nahm er Angebote der internationalen Entwicklungshilfe an, wenn sie seine Geltung gegenüber dem Zentralstaat in Kabul erhöhte. Die Lehre: „Nation Building“ zerschellte an den Klippen des Tribalismus. „State Building“ versumpfte in der regionalen Drogenökonomie. Und beide Ansätze wirkten gegeneinander.
Was tun, wenn eine Strategie nach fast 20 Jahren nicht die erhofften Ergebnisse zeigt? Ist die Dosis zu gering oder der Ansatz falsch? Vielleicht muss der Westen einsehen, dass nicht jedes Volk der Erde nach seinen Vorstellungen leben möchte. Vielleicht gibt es nicht nur eine imperialistische Überdehnung von Einflusszonen, sondern auch von ethisch-humanitärer Großherzigkeit. Auch das könnte eine Lehre sein. „Lasst die Finger von Afghanistan“, riet dem Autor sein ehemaliger pakistanischer Counterpart im Jahre 2006. „Sie wollen leben, wie sie leben, ein archaisches Volk. Die Männer wollen Waffen tragen wie Ihr eine Krawatte. Die Frauen wollen waffentragende Männer. Zieht ab! Sie werden gegeneinander kämpfen, und irgendwann wird sich eine Ordnung durchgesetzt haben, die sie alle akzeptieren.“ Ob es so kommt?
Die wahrscheinlichere Prognose lautet: Die Taliban werden wieder die Staatsmacht ergreifen und einen Gottesstaat errichten. Was dann? Wegen der Menschen-, der Frauenrechte wieder intervenieren? Dieses Mal total? Mancher Maulheld denkt so. Vielleicht aber ist es wirklich besser, das Land einfach zufrieden zu lassen. Nur wenn von dort wieder Angriffe ausgehen, dann verteidigen wir uns – auch am Hindukusch.
[1] Der extraordinäre Trumpismus überdeckt heute das schlechte Image von George W. Bush.
[2] Vgl. Ludger Volmer, Kriegsgeschrei und die Tücken der deutschen Außenpolitik, MünchenWienBerlin 2013
[3] SR-Resolution 1368 vom 12.09.2001 und 1373 vom 28.09.2001
[4] Kommando Spezialkräfte KSK, zur Aufklärung auf dem Boden; Medivac-Hospitalflugzeuge; ABC-Spürpanzer auf der arabischen Halbinsel, die nur den deutschen Beitrag üppiger erscheinen lassen sollten; Marineschiffe zur Rückraumsicherung im Indischen Ocean, später umgewidmet zum Schutz vor Piraterie; Transportflieger.