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Foto: Eröffnung des Zentrums für Internationale Friedenseinsätze (ZIF) im Juni 2002 in Berlin (von links: die MdBs Christian Sterzing, Ludger Volmer und Winfred Nachtwei)

(anlässlich des 20. Jubiläums des ZIF auf vielfachen Wunsch ein Rückblick auf den Gründungsprozess)

Ende 1998, erste rot-grüne Bundesregierung: Ich wurde Staatsminister im Auswärtigen Amt und nahm mir vor, mit den „Bordmitteln“, die dieses Amt hatte, möglichst viele Reformen umzusetzen. Nach Jahren des Reformstaus war dies auch in der Außenpolitik bitter nötig geworden. Denn die Weltlage hatte sich entscheidend verändert.  Der bisher vorgestellte Gegner, der Warschauer Pakt, existierte nicht mehr. Deutschland war vereinigt und von Freunden umzingelt. Ein Landkrieg mit Panzern in Zentraleuropa schien nicht mehr denkbar. (Putin und sein zivilisationsfeindliches Wüten waren noch nicht in Sicht und undenkbar.) Seit dem Ende des Kalten Krieges hatten sich weltweit Konflikte und Krisen entwickelt, für die das auf die bipolare Konfrontation atomar hochgerüsteter Militärblöcke geeichte Militär nicht geschaffen war.

„Neue Bedrohungen“ nahmen zu wie Bürger- und Sezessionskriege, Staatszerfall, privatisierte Gewalt, organisierte Kriminalität, ökologische und soziale Katastrophen. Hinzu kam bald der internationale Terrorismus. Die UNO hatte bereits 1992 eine entsprechende Denkschrift herausgegeben. Es war offensichtlich, dass den neuen Bedrohungen nicht mit Militär, zumindest nicht mit Militär allein, begegnet werden konnte. Bereits im Koalitionsvertrag hatten Günter Verheugen und ich, die Unterhändler von Rot und Grün, deshalb abgemacht, auf der Basis eines „erweiterten Sicherheitsbegriffs“ moderne Strategien und Instrumente nicht-militärischer Sicherheit zu stärken. Das Beharrungsvermögen von Bürokratien galt jedoch auch für Streitkräfte. In die Sicherheitsdebatte musste neuer Schwung gebracht werden. So forderte ich in einem Pressegespräch im November 1998 den Aufbau neuer ziviler Kräfte zur Krisenprävention und die Umorganisierung der Bundeswehr unter die aus der neuen Strategie ableitbaren Maximen. (Heute als „vernetzte Sicherheit“ bezeichnet.)

Beschleunigt wurde meine Initiative Anfang 1999 durch ein Treffen mit Jan Kubis, dem tschechischen Generalsekretär der „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“, die die ehemaligen feindlichen Blöcke des Ost-West-Konfliktes umfasst, ein Gebiet von Vancouver bis Wladiwostok. Die OSZE hatte in der Charta von Paris 1991 ein neues, stärker zivil ausgerichtetes Sicherheitsmodell für das 21. Jahrhundert verabschiedet. Ihr selbst kam dabei eine zentrale Rolle zu: „OSZE first“. Über die Einsätze auf dem Balkan jedoch eroberte sich die Nato ab Mitte der 1990er Jahre politisches Terrain zurück. So einigten sich die Mitgliedstaaten von OSZE, Nato, EU, GUS und Europarat auf die Formel von den „interlocking mutual reinforcing institutions“, den verschränkten, sich gegenseitig stärkenden Institutionen. Doch auch bei eingeschränktem Gewicht galt: die OSZE brauchte, sollte sie sicherheitspolitisch eine Rolle spielen, ein Instrumentarium und einen Personalpool zur Erfüllung ihrer Aufgaben. Sonst müsste zu schnell das Militär ran.

Ich kannte den OSZE-Sekretär aus gemeinsamer langjähriger Arbeit in der parlamentarischen Versammlung der OSZE. Bei unserem jetzigen Gespräch zeigte er sich verzweifelt. Immer öfter gab es die Anforderung an die OSZE, Personal für internationale zivile Einsätze zur Verfügung zu stellen. Das betraf z.B. Langzeitmissionen zur Beobachtung der Entwicklungen in einer Krisenregion, etwa im Kaukasus oder den baltischen Staaten. Gebraucht wurden auch Menschenrechtsmonitore, Wahlbeobachter, Vermittler bei Konflikten, Aufbauhelfer für Verwaltung und Justiz. Die größte Herausforderung brachte nun, Ende 1998, die „Kosovo-Verifikationsmission“ mit sich. Um einen Waffenstillstand zu überwachen, den der amerikanische Unterhändler Holbrooke mit dem Despoten in Belgrad, Milosevic, verhandelt hatte, sollten zweitausend OSZE-Beobachter in die Krisenregion entsandt werden, dreihundert allein aus Deutschland.

Aber wer sollte das sein, woher sollten die Leute kommen? Die Mission zeigte, dass für solche Aufgaben gar kein Personal zur Verfügung stand. Überall, auch bei uns, mussten ad hoc irgendwelche Leute zu dieser Aufgabe abkommandiert werden. So wurden einzelne Beamte, Polizisten, Juristen, humanitäre Helfer entsandt, oft bereits pensioniert, ohne angemessene Vorbereitung und Ausrüstung, mit unklarem Mandat. Oft waren sie in ihren Dienststellen nur kurzzeitig abkömmlich, und die Suche nach Ersatz brachte dieselben Probleme. Wegen der Polizisten und Juristen musste mit Landesministerien verhandelt werden, die nicht immer ein Einsehen in die Erfordernisse der internationalen Politik, jedoch einen engen Stellenplan hatten.

Angekündigt war mit meiner Initiative auch die Erfüllung des Koalitionsversprechens, die Außenpolitik zu zivilisieren. Zu viele Staaten, auch und gerade westliche, setzten stark auf militärische Machtprojektion, um eigene (Wirtschafts-) Interessen, oft getarnt als Menschenrechtsfragen, durchzusetzen, auch wenn in der zeitgenössisch-konservativen Sicherheitspolitik ein Militäreinsatz nur als „letztes Mittel“ galt. Was aber waren die „ersten Mittel“? Da gab es eine große Leerstelle. Es galt also, den Ideen der Krisenprävention und zivilen Konfliktbearbeitung einen institutionellen Rahmen zu verleihen. Zivile Sicherheitsstrategien sollten handlungsmächtiger werden. Es ging darum, möglichst viele militärische Elemente durch zivile zu ersetzen. Damit dies nicht pazifistischer Wunschtraum blieb, musste eine zivile Politik „Funktionsäquivalente“ aufweisen, die militärische Elemente real und effektiv ersetzen konnten. So lautete mein Programm eines „politischen Pazifismus“, der sich vom handlungsohnmächtigen Gesinnungspazifismus abgrenzte.

Durch die öffentliche Ankündigung, in diesem Sinne einen deutschen Personalpool für Friedenseinsätze aufzubauen, brachte ich mich Anfang 1999 selbst ins Obligo. Bei den zuständigen Beamten der UNO- und OSZE-Abteilung im Auswärtigen Amt rannte ich offene Türen ein. Sie hatten nur darauf gewartet, dass endlich ein frischer Wind die Ängstlichkeit und Phantasielosigkeit der Kinkel-Ära aus den Amtsstuben blies. Besonders die späteren Botschafter Trautwein, Horlemann und Nibbeling-Wriessnig, meine Büroleiterin, setzten sich engagiert für die Neuerungen ein. Im Bundestag fand ich die aktive Unterstützung durch Winfried Nachtwei von den Grünen und Uta Zapf von der SPD. Sie alle bildeten meine Hausmacht gegenüber dem mäßig interessierten Außenminister und dem anfangs irritierten Kanzleramt.

Die allgegenwärtigen Bedenkenträger waren bald in der Defensive. Die eigentliche Schwierigkeit bestand in der Einrichtung einer fachübergreifenden Steuerungsgruppe, der unter Federführung des Auswärtigen Amtes das Verteidigungs-, das Innen- und Entwicklungsministerium angehörten, zudem der Bundesnachrichtendienst, das Technische Hilfswerks und Vertreter von Nichtregierungsorganisationen. Denn der „erweiterte Sicherheitsbegriff“ bedurfte als Antwort einer „vernetzten Sicherheit“, die zahlreiche Ressorts und Akteure integrierte. Ministerien aber waren an diese enge Form von Kooperation nicht gewohnt. Sie waren auf Abstand bedacht, ihre Abteilungen benahmen sich gern wie selbständige Ministerien. Besonders spröde gab sich das Entwicklungsministerium. Es hatte sich die „zivilen Friedensdienste“ an Land gezogen. Diese aber waren für längere Entwicklungsprojekte geeignet, nicht aber für ad-hoc-Interventionen auf der Basis von völkerrechtlichen Mandaten von UNO, OSZE oder EU sowie zur zivil-militärischen Zusammenarbeit. Auch das Verteidigungsministerium musste akzeptieren, dass Sicherheit nicht mehr allein dem Militär überlassen werden konnte und das AA von seinem, im Geschäftsverteilungsplan der Regierung fixierten, Recht Gebrauch machte, die Grundlinien der Sicherheitspolitik festzulegen. Letztlich gelang es mir, die „Steuerungsgruppe“ aus Ministeriumsvertretern zu konstituieren, die bald zum festen „Koordinierungskreis“ wurde und für eine kohärente Politik, die „Vernetzung“, sorgte.

Mit der regelmäßigen Leitung des Kreises betraute ich den ehemaligen Generalsekretär der OSZE, den deutschen Botschafter a.D. Wilhelm Höynck. Nachdem das Grundgerüst interministerieller Kooperation feststand, wurde nun die Formulierung der Aufgaben im Einzelnen vordringlich. Einem Vorschlag meiner Beamten folgend, konnte ich Winrich Kühne, den Afrikaexperten und stellvertretenden Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) gewinnen, ein inhaltliches Konzept für die neue Institution zu formulieren. Die Idee lautete, dem AA eine Durchführungsorganisation an die Seite zu stellen, die Personal für internationale Friedenseinsätze rekrutierte, ausbildete, in Einsätze entsandte und betreute. Erfahrungen sollten darüber hinaus – so Kühnes explizite Forderung – systematisch wissenschaftlich ausgewertet und in die internationale Diskussion getragen werden.  Es gelang mir, dieses Konzept im AA und Bundeskabinett durchzusetzen und für die notwendige Finanzierung zu sorgen.

Bald wurden die ersten Pilotkurse durchgeführt, mit so großer Resonanz, dass die Beharrungskräfte, die in AA, Regierung und Parlament noch existierten, überwunden werden konnten. Geplant wurde nun die Institutionalisierung durch die Gründung eines „Zentrums für internationale Friedenseinsätze“. Zwei Jahre noch dauerte das Gezerre hinter den Kulissen um Sitz, Rechtsform, Finanzierung, Personal- und Kompetenzausstattung, Beteiligung der Ministerien, des Parlaments und der Nicht-Regierungsorganisationen, dann war es geschafft. Im Juni 2002 konnte ich das ZIF, wie es kurz heißt, am Ludwig-Kirch-Platz in Berlin einweihen, als Untermieter der Stiftung Wissenschaft und Politik. Winrich Kühne wurde zum Gründungsdirektor bestellt. Er hauchte der Institution Leben ein und entwickelte sie über die Jahre zu einem weithin be- und geachteten Leuchtturmprojekt. ZIF-ExpertInnen waren bald in zahlreichen internationalen Missionen gern gesehen.

Das ZIF nahm eine rasante Entwicklung. Die Zahl der Kurse stieg enorm, es wurden Aufbau- und Spezialtrainings eingerichtet, die ersten internationalen Teilnehmer kamen nach Berlin. Nach kurzer Zeit gab es einen Personalpool von mehreren hundert qualifizierten Fachleuten, von denen immer mehr in Missionen von OSZE, UNO oder Europäischer Union entsandt wurden. Die Anfänge machten das Monitoring im Kosovo, die Grenzbeobachtung zwischen Georgien und Aserbeidschan, die Überwachung des russischen Truppenrückzugs im Baltikum, die Wahlbeobachtung im Kaukasus und die Waffenstillstandskontrolle in Mazedonien. Heute ist das ZIF weltweit vernetzt und leistet über die Trainings und die Einsatzbetreuung hinaus wesentliche Beiträge zur Erfassung von Krisen, zur Untersuchung und Bilanzierung von Kriseneinsätzen und zur Optimierung dieses sicherheitspolitischen Ansatzes.

Zu einigen Weiterungen konnte ich selbst beitragen. So formulierte ich 1999 ein „Rahmenkonzept für Krisenprävention und zivile Konfliktbearbeitung der Bundesregierung“, das vom Bundestag beschlossen wurde und später in den „Aktionsplan Krisenprävention“ einfloss. Die deutsche G7- und EU-Präsidentschaft im ersten Halbjahr 1999 nahm ich zum Anlass, den EU-Sondergipfel von Helsinki anzuregen, der im Herbst d.J. das Konzept fast eins zu eins in die neue europäische Sicherheitsstrategie (ESS) übernahm. Der Folgegipfel empfahl allen Staaten, ZIF-ähnliche Institutionen einzurichten. Auch die Nato übernahm Elemente ziviler Prävention und Ideen zur zivil-militärischen Zusammenarbeit bei der Konfliktbewältigung. Mein Besuch beim afrikanischen Krisenverhütungszentrum in Addis Abeba Anfang 1999 mündete nicht nur in die technische und finanzielle Ertüchtigung dieser Einrichtung. Ich plädierte in der Bundesregierung dafür, das in Gründung befindliche militärische Trainingscenter für westafrikanische Staaten in Accra/Ghana massiv finanziell zu unterstützen, verbunden mit der Anregung, Peacekeeping und Krisenprävention ins Zentrum zu rücken. Im Januar 2004 wurde das Kofi Annan International Peacekeeping Center eingeweiht, dessen Hauptgebäude wegen der deutschen Verdienste nach Bundeskanzler Schröder benannt wurde.

Krisenprävention wurde so zu einem Markenzeichen der rot-grünen Außenpolitik. Manch einer hatte mich gefragt, warum ich als „Pazifist“ beim Beginn des Kosovo-Krieges nicht aus Protest als Staatsminister zurückgetreten sei. Es gab zwei Antworten. Die eine hatte mit der Konfliktdynamik selbst zu tun. Es lag nicht an einer falschen Politik der deutschen Regierung, dass der Krieg im März 1999 ausbrach, sondern einzig und allein an der Blut-und-Boden-Politik des serbischen Despoten. Die andere lautete: gerade jetzt muss jemand die nichtmilitärischen Instrumente und Strategien weiterentwickeln, damit bei einem erneuten Konflikt mehr Handlungsmöglichkeiten verfügbar sind und eine militärische Beteiligung sich vielleicht erübrigt. Nach dem Ende des Krieges wurden in der Phase der Friedensstabilisierung und des Wiederaufbaus im Kosovo zahlreiche Kräfte eingesetzt, die das ZIF ausgebildet hatte.

Mit der zweiten Direktorin Almut Wieland-Karimi machte das ZIF ab 2009 noch einmal einen Quantensprung. Angewachsen auf über 80 feste MitarbeiterInnen, mit einer andauernden institutionellen Förderung im Bundeshaushalt versehen, mit professionellen Verträgen für die entsandten Fachkräfte, geachtet auch bei der ehemaligen Opposition, wird es international als Modell geradezu gerühmt und nachgeahmt. Auch wenn Krisenprävention nichts ausrichten konnte gegen den atavistischen Imperialismus von Putin – zum 20. Jubiläum am 23. Juni 2022 machten zahlreiche internationale Gäste bis hin zur Generalsekretärin der OSZE und dem stellvertretenden UNO-Generalsekretär deutlich: Das ZIF ist aus der internationalen Sicherheits- und Friedenspolitik nicht mehr wegzudenken.

Seine Arbeit ist im Internet zu verfolgen: www.zif-berlin.de