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(erschienen am 8.4. in der online- und am 9.5.2022 in der Print-Ausgabe der Berliner Zeitung)

Putins mörderischer Angriffskrieg auf die Ukraine ist durch nichts zu rechtfertigen. Auch nicht durch Fehler, die der Westen begangen hat. Es ist aber fatal, wenn mit Verweis auf Putins Verbrechen hier jede tiefergehende Analyse verweigert und nur mangelnde Wehrhaftigkeit festgestellt wird. Pläne zur raschen Aufrüstung werden aktuell nicht nur von sicherheitspolitischen Traditionalisten als überfällige Zeitenwende bejubelt. Doch sind 100 Milliarden zusätzlich für die Bundeswehr, grundgesetzlich abgesichert, wirklich die richtige Antwort auf Putins Aggression?

Keine Frage, die Bundeswehr konnte in der Vergangenheit ihre Aufgaben bei internationalen Friedenseinsätzen nur mit Mühe erfüllen. Es fehlte an vielem. Das Beschaffungswesen ist in Bürokratie erstarrt. Es gibt einen objektiven Nachholbedarf. Wenn SoldatInnen in schwierige Einsätze entsandt werden, müssen sie bestens ausgerüstet sein. Und die Einsatzregeln sollten entrümpelt werden. Es ist einfach absurd, dass etwa SoldatInnen im Einsatzfahrzeug sich entsprechend der deutschen Straßenverkehrsordnung anschnallen müssen, sodass sie unter Beschuss nicht schnell genug rauskommen können. Es liegt vieles im Argen, nicht nur das Finanzielle.

Die 100 Milliarden sind ein politischer Reflex auf den Ukraine-Krieg. Wem helfen sie? Selbst wenn die Bundeswehr optimal ausgerüstet und geführt wäre – im Ukrainekrieg hat sie nichts zu suchen. Jedes manifeste Eingreifen von Nato-Staaten hätte mit großer Wahrscheinlichkeit den Dritten Weltkrieg zur Folge. Wer besitzt die Eskalationsdominanz, wer könnte den Konflikt eingrenzen auf konventionelle Waffen? Die Gefahr, dass nukleare Gefechtsfeldwaffen eingesetzt würden, wäre groß. Die militärische Logik führt dann leicht zu atomaren Mittestreckenraketen und zum finalen Schlag. Eine solche Zuspitzung würden wir nicht überleben. Der militärischen Beistandsbereitschaft sind Grenzen gesetzt.

Wenn selbst eine einsatzfähige Bundeswehr im Ukrainekrieg nichts ausrichten könnte, welche Funktion hat sie dann? Abschreckung? Auf der konventionellen Ebene ist die Nato bereits jetzt Russland haushoch überlegen. Diese Selbstgewissheit hat die Konfliktdynamik um die Ukraine eher befeuert. Sie schien den Westen von der Verpflichtung zu entbinden, genau zu beobachten, was die andere Seite als Bedrohung empfindet. Der Westen hätte im Sinne des friedlichen Zusammenlebens der Völker, das vom Völkerrecht gefordert wird, proaktiv an einer Deeskalation arbeiten müssen. Nicht mangelnde Schlagkraft der Bundeswehr war das Problem der letzten Jahre, sondern das Fehlen einer vorausschauenden und aktiven Außenpolitik im Sinne der Krisenprävention. Krisenprävention hat die Aufgabe, genau hinzuschauen, wo sich Probleme aufschaukeln und zu bewaffneten Konflikten zuspitzen könnten und frühzeitig Verhandlungen über eine zivile Konfliktlösung einzuleiten. Nur wenn ernsthafte Versuche der friedlichen Streitbeilegung nachweislich scheitern, kommt Militär ins Spiel. Dieser Ansatz, der den Primat des Politischen über das Militärische betont, wurde unter Rot-Grün 1998 zu einem sicherheitspolitischen Markenzeichen. Unter Merkels Führung wurde danach hingegen „auf Sicht gefahren“, statt alle Antennen auf die im Nebel liegende Zukunft auszurichten. Es wurde an der Dominanz der Nato gearbeitet und die in der Charta von Paris 1990 vertraglich vereinbarte gesamteuropäische Sicherheits- und Friedensordnung vergessen.

Heute sind wir mit dem Dilemma konfrontiert, welches Kritiker der Nato-Erweiterung seit Mitte der 1990er Jahre vorausgesagt haben. Der Sicherheitsgewinn für einige Beitrittsstaaten führte zu einem verstärkten Bedrohungsgefühl bei Nichtmitgliedern. Nicht nur in der Ukraine, auch in Russland. Was ist ausschlaggebend für ein solches Gefühl? Die „Absichten“, die ein anderer Staat formuliert oder seine „objektiven militärischen Kapazitäten“? Die Nato argumentierte mit ihren „guten Absichten“, ließ entsprechende russische Versicherungen aber nicht gelten. Russische Befürchtungen wurden selbst dann nicht ernst genommen, als sich unter George W. Bush in den USA Kräfte durchgesetzt hatten, die statt einer Modernisierungspartnerschaft die endgütige Niederschlagung russischer Geltungsansprüche verfolgten, auch mit militärstrategischen Mitteln. Die Lösung wäre die Integration aller Parteien in eine europäisch-transatlantische Sicherheitsgemeinschaft von Vancouver bis Wladiwostok gewesen. Die Verschränkung von Kommandostrukturen hätte eine strukturelle Nichtangriffsfähigkeit geschaffen. Ein Krieg um die Ukraine hätte nicht stattfinden können. Und vielleicht hätte Putin sich dann nicht vom westlich orientierten Modernisierer zum Faschisten gewandelt.

Nato und Bundeswehr können vor militärischen Angriffen schützen, aber nicht die westlichen Werte exportieren. Trotz aller Kritik an ihrer unzureichenden Umsetzung kann der Westen stolz sein auf seine Werte wie Freiheit, Emanzipation, soziale Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie. Doch diese werden herausgefordert von neuen starken Akteuren auf der Weltbühne, die andere Ideen zum Zusammenleben der Menschen vertreten, darunter autoritäre, despotische, faschistische. Menschenrechte sind universell, werden aber regional unterschiedlich interpretiert. Der Westen hält es für angebracht, andere Länder zu bewerten, Abstände zu seinen eigenen Normen zu messen, Noten zu verteilen, öffentlich anzuklagen und zu sanktionieren, um sie in einer Art Verhaltenstherapie zum Besseren zu bekehren. Meist bleibt der Versuch erfolglos. Soll dann etwa die Bundeswehr Menschenrechte durchsetzen?

Unsere Sicherheitspolitik muss früher und breiter ansetzen. Wir machen unsere Werte für andere Länder und Völker nur dann attraktiv, wenn diese spüren, dass mit ihnen auch eine merkbare Verbesserung ihrer eigenen Lebenslage einhergeht. Auch hier stehen wir in der Systemkonkurrenz. China etwa investiert Milliarden in aufstrebende Länder, ohne Demokratie anzumahnen. Ein willkommenes Geschenk für alle Despoten und Autokraten. Ein vergiftetes, denn irgendwann werden sie zurückzahlen müssen, in Form von Abhängigkeit.

Moralische Appelle des Westens helfen selten. Hilfreicher wäre, den Normentransfer mit einer Stärkung der Ökonomie zu verbinden, welche die Lebenslage der breiten Bevölkerung tatsächlich verbessert und so die Einsicht vermittelt, dass ein demokratisches Entwicklungsmodell letztlich besser ist als eine Despotie. Einen so weiten Bick muss die deutsche Sicherheitspolitik wiedergewinnen. Und das bedeutet: Die alleinige Stärkung der Bundeswehr ist viel zu defensiv gedacht. Das Hantieren mit Menschenrechtsforderungen und Sanktionen ist naiv angesichts der realen Kräfteverhältnisse. Deutschland, die EU, der Westen müssen weit über die klassische Entwicklungshilfe hinaus finanzielle Transfers vornehmen und ihren Anteil an der Ausbeutung reduzieren. Aber sie müssen auch den Kulturdialog und die bi- und multilaterale Entwicklungszusammenarbeit stärken, verbunden mit dem Gedanken globaler Verantwortung. Auch dafür braucht es Geld, viel Geld. Ein Teil der 100 Milliarden für diese Ziele wäre kein vergeudeter Reichtum, sondern ein sicherheitspolitisches Investment im Sinne der Krisenprävention und im Sinne des Werbens um Verbündete gegen die Autokraten und Despoten dieser Welt.