Mit-Gründer, Vorsitzender, Chronist und Kritiker von
DIE GRÜNEN und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Mit-Gründer

1979 trat ich – als Doktorand der Ruhr-Uni – in Bochum der „Sonstigen Politischen Vereinigung (SPV) Die Grünen“ bei, die sich für die Europawahlen bildete. Am 12. Dezember 1979 erklärten wir uns dort zum Kreisverband der geplanten Bundespartei „Die Grünen“. Meine erste Funktion: ich durfte die Delegierten-Wahl für den Gründungsparteitag am 12./13. Januar 1980 in Karlsruhe leiten. Am 6. März 1983 schaffte die neue Partei von Ökos und Pazifisten, Feministinnen und APO-Veteranen den Einzug in den Bundestag. Bis dahin arbeitete ich in der Landesarbeitsgemeinschaft Wirtschaft in NRW mit, besuchte im Juni 1980 in Dortmund zum ersten Mal eine grüne Bundesversammlung und wechselte 1982 aus privaten Gründen in den Kreisverband meiner Heimatstadt Gelsenkirchen. Mit der Wahl in den Bundestag, zunächst als „Nachrücker“, setzte ich den „Marsch durch die Institutionen“ fort.

Nach dem Wahlerfolg drohte die aus Protestbewegungen geborene „Anti-Parteien-Partei“  vom heftigen Richtungsstreit zwischen sog. „Realos“ (Befürworter einer Regierungsbeteiligung) und „Fundis“ (Fundamentaloppositionelle gegen alles und jeden) zerrissen zu werden. Deshalb sammelte ich Mitte der 1980er Jahre, erprobten Mustern meiner alten universitären „Basisgruppen“ folgend, „undogmatische Linke“ und begründete erst den „Gelsenkirchener Kreis“ und dann das „Linke Forum“ mit. Es kam uns darauf an, „von links zu integrieren“, eine Spaltung zu verhindern und auch den „radikaleren“ Parteiflügel für eine eventuelle rot-grüne Koalition zu gewinnen. Anders als die „Realos“ wollten wir an den weitreichenden Gründungsideen und Utopien festhalten, statt sie der Koalitionsperspektive zu opfern: radikal in den Zielen, pragmatisch bei der Umsetzung, lautete unsere Devise. Gewiss das schwierigere Projekt. In NRW reichte die Initiative, um den Landesverband aus dem Sumpf zu ziehen und im Mai 1990 endlich in den Landtag zu befördern.

Auch an einer Weiterentwicklung grüner Programmatik arbeitete das „Linke Forum“. Es nahm die Ideen des „ökologischen und sozialen Umbaus der Industriegesellschaft“, die in der Bundestagsfraktion erarbeitet wurden, ebenso auf wie die neuen Ansätze einer solidarischen Weltwirtschaft und entwickelte daraus die Grundlinien für einen neuen „sozial-ökologischen New Deal“, später Green New Deal genannt. Hier liegen die konzeptionellen Ursprünge einer radikalen Reformstrategie, die knapp dreißig Jahre später Mainstream westlicher Politik wurde.

Parteivorsitzender

Doch noch waren die integrativen Kräfte nicht stark genug, und so flogen die (West-) Grünen während der deutschen Einheitswirren am 2. Dezember 1990 aus dem Bundestag. Die große Mehrheit der Partei lehnte jetzt entschieden jede weitere Polarisierung ab. In einem Zeitungsartikel plädierte ich für „Königsmord und Dialog“. Die Mehrheit folgte meiner Strategie: besser die Ränder mit den Hardlinern der verfeindeten Flügel absplittern, als sich in der Mitte spalten und untergehen. So konnten „Undogmatische Linke“ gemeinsam mit „kritischen Realos“ die Zentrifugalkräfte bändigen und die Lage stabilisieren. Diese innerparteiliche Mitte-Links-Mehrheit wählte mich am 27. April 1991, neben Christine Weiske, zum Parteivorsitzenden („Sprecher“).

Bundesvorstand DIE GRÜNEN 1991 (Henry Selzer, Heide Rühle, Angelika Beer, Helmut Lippelt, Undine von Blottnitz, Ludger Volmer, Christine Weiske, Friedrich Heilmann, Renate Backhaus)

Zahlreiche „radikalökologische Fundis“ und „Hamburger Ökosozialisten“, aber auch einige hardcore-Realos traten aus. Eines Abends im Oktober 1992 erreichte mich die Nachricht, dass Petra Kelly, die wohl größte grüne Persönlichkeit, und ihr Lebensgefährte, der Bundeswehrgeneral Gert Bastian, tot aufgefunden seien. Am Tatort traf ich auf Lukas Beckmann, eine weitere grüne Führungsperson. Aus Entsetzen und Trauer erwuchs uns eine Aufgabe; denn Medien nahmen das tragische Ereignis als Fanal für den endgültigen Untergang der Grünen. Doch am Grab von Petra Kelly versöhnten sich viele, die zuvor überhitzt gestritten hatten.

Entscheidendes Ziel war der Wiedereinzug in den Bundestag, sonst wären die Grünen wohl von der Bildfläche verschwunden. Zunächst richtete ich Arbeitsgruppen ein, um auseinanderlaufende Ex-MdBs einzubinden und inhaltliche Akzente zu setzen. Mit MdB Werner Schulz, einem DDR-Bürgerrechtler, gab ich ein Buch heraus: „Entwickeln statt abwickeln. Wirtschaftspolitische und ökologische Umbau-Konzepte für die fünf neuen Länder“. Doch der Zug war bereits Richtung schwarz-gelb „blühende Landschaften“ abgefahren. Der Wille der anderen Parteien, das Asylrecht zu beschneiden, gab uns ein neues Thema. Dieses bedeutete aber auch die auf lange Sicht fatale Profilverschiebung von der sozial-ökologischen zur progressiv-liberalen Partei. Mein demonstrativer Versuch, als nichtgeladener grüner Chef an einer vom Kanzler einberufenen Asyl-Runde der Parteivorsitzenden teilzunehmen, kostete mich wegen Bannmeilenverletzung 10 Tagessätze a 80 DM auf Bewährung. Dann kam plötzlich aus heiterem Himmel die Forderung zweier KollegInnen, in die beginnenden Sezessionskriege Jugoslawiens militärisch einzugreifen. Sie stellte den pazifistischen Grundwert, ein Gründungsmotiv der Grünen, zur Disposition und eröffnete eine wilde Diskussion, welche die gerade konsolidierte Partei wieder zu zerreißen drohte.

Inhaltlich war für die bundespolitisch bedeutungslosen Grünen nichts mehr zu gewinnen. Deshalb meine Strategie: Zunächst musste die in Auflösung begriffene und desorientierte Partei auf das gemeinsame Ziel „Comeback“ fokussiert werden. Fällig war zudem eine gründliche Reform der Parteistrukturen, Kommunikationsmuster und Programme, die Gründung eines Jugendverbandes und die Neuordnung der grünen-nahen Stiftung. Nach dem Wegbrechen der Bundesebene sollten die grünen Landesminister, die es inzwischen gab, bundespolitisch zur Geltung gebracht werden. Und nicht zuletzt: Wir Grünen brauchten weitere Partner in Ost-Deutschland. So managte ich den komplizierten Fusionsprozess mit Bündnis 90 – Bürgerrechtlern der ehemaligen DDR. Es sollte keine Übernahme werden wie bei den anderen Parteien, sondern ein Dialog auf Augenhöhe. Am 14. Mai 1993 wurden Marianne Birthler und ich zu Co-Vorsitzenden der fusionierten Partei Bündnis 90/Die Grünen gewählt.

Bundesvorstand Bündnis 90/Die Grünen 1993
Bundesvorstand Bündnis 90/Die Grünen 1993 (Heide Rühle, L. Volmer, Marianne Birthler, Henry Selzer)

Auf dieser Basis gelang 1994 trotz eines extrem geringen Wahlkampfetats das Comeback in den Bundestag. Noch nie hatte eine Partei dies bisher geschafft. Wenige Monate zuvor hatten Bündnis 90/Die Grünen mit 10,3 % bei der Europawahl ihr bestes Ergebnis auf Bundesebene erzielt. Die Zeit im Vorstand nutzte ich zudem, um erste offizielle Beziehungen der Partei zur Bundes-SPD, zum Vorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes, dem Zentralrat der Juden und weiteren Verbänden aufzunehmen. Dies war eine wichtige Voraussetzung für die spätere Bildung einer rot-grünen Koalition im Bund. Nach dem Wiedereinzug in den Bundestag schied ich am 2. Dezember 1994 wegen der beschlossenen Trennung von Amt und Mandat als Parteivorsitzender aus.

Mediator

Meine Position war nun zwiespältig. Die Mehrheit der Partei stand wegen meines Integrationskurses hinter mir. Die Mehrheit der Fraktion, die davon durch Mandatsgewinn profitiert hatte, eher nicht; sie versagte mir eine Führungsrolle. So wurde es mein Job, Parteimeinungen gegenüber der auf Reputierlichkeit schielenden Fraktion zu vertreten und umgekehrt der Partei die parlamentarischen Lernprozesse zu vermitteln. Zentral ging es um die Jugoslawien-Kriege und die ins Liberale driftende grüne Wirtschaftspolitik. Meine Kritik am Fraktionskurs bot Medien den Stoff, den sie suchten, um nach dem Abgang der „Fundis“ nun mich in die Schurkenrolle zu schreiben. Ich wich in die Wissenschaft aus: als einer der letzten Internationalismus-Akteure aus den 1980er Jahren konnte ich „Die Grünen und die Außenpolitik“ als „schwieriges Verhältnis“ analysieren– der Selbstdisziplin und Objektivität halber organisiert als sozialwissenschaftliche Doktorarbeit.

Egon Bahr bei der Buchpräsentation September 1998

Die grüne Regierungsbeteiligung ab 1998 läutete ein neues Zeitalter für die Partei ein. Zu meinen Aufgaben als Staatsminister im Auswärtigen Amt gehörte es nun, schwierigste Entscheidungen zum Thema Krieg und Frieden gegenüber der mehr als kritischen Parteibasis zu vertreten. Beim Sonderparteitag am 13. Mai 1999 in Bielefeld zum Kosovokrieg hielt ich die wohl entscheidende Rede. Sie verhalf der rot-grünen Regierungspolitik samt ihrem realistischen Friedensplan zur Mehrheit, kostete mich aber einen Großteil meiner Basis. Ich war überzeugt: wenn nicht diese letzte Rede des Parteitags die Stimmung herumreißt, wird Rot-Grün am Ende sein, der Kosovokrieg weiter gehen und die Grünen werden – vor der historischen Situation als zu leichtgewichtig befunden – in der Versenkung verschwinden.

Auch wenn ich 2002 mit engagiertem Eintreten gegen den Irakkrieg Sympathien zurückbekam und noch einmal in den Bundestag gewählt wurde, war meine innerparteiliche Position besonders in NRW nun prekär. Alte Freunde, welche die Mehrheitsentscheidungen zum Kosovo, zum Terrorangriff von 9/11 und den nachfolgenden Afghanistaneinsätzen nicht akzeptierten, verengten mein ehemaliges „Linkes Forum“ nun zu einem sektenhaften Klübchen, in dem ich nichts mehr zu suchen hatte.  2004 wollten mir nationalkonservative Gegner in Bundestag und Medien die sogenannte Visa-Affäre anhängen. Die Solidarität in der Fraktion war jetzt meist anständig, ihr Fehlen in meinem Landesverband NRW geradezu unanständig. Zu viele dort, auch alte Freunde aus dem Ruhrgebiet und andere, die gern meine Positionspapiere mitunterzeichnet hatten, um zur Geltung zu kommen, witterten ihre eigene Chance. Und so kamen einige, die eigentlich ein mieses Ergebnis bei den Landtagswahlen zu verantworten hatten, kurz darauf in den Bundestag. Mit all diesen Leuten wollte ich nichts mehr zu tun haben. 2005, zum Ende der Wahlperiode, verabschiedete ich mich aus der aktiven grünen Politik, mied die Partei fortan und wurde wieder zu einem „heimatlosen Linken“.

Chronist und Kritiker

Zum 30. Jubiläum der Grünen wurde ich von Literaturagenten aufgefordert, eine Parteigeschichte zu schreiben. Das hieß, ich musste den längst verdrängten Stoff wieder in den Arbeitsspeicher laden. So entstand 2009 das Buch „Die Grünen. Von der Protestbewegung zur etablierten Partei. Eine Bilanz“. Kein Best- aber ein Longseller, gilt es heute als die solideste kohärente Geschichte der ersten 30 Jahre. 2013 dann schob ich das Buch „Kriegsgeschrei und die Tücken der deutschen Außenpolitik“ nach. Es schildert vor dem Hintergrund meiner Regierungserfahrungen und privaten Globetrotterei auch die grünen Kontroversen um Krieg und Frieden.

Die Entwicklung der Partei gefiel mir immer weniger. Strittige Diskurse wurden durch das geschäftsmäßige Abtauschen von Positionen abgewürgt, Kritiker als „unzeitgemäß“ veralbert, die Partei verbürokratisierte und dümpelte lange bei 8 bis 10 Prozent, Tendenz abnehmend. Der soziale und der pazifistische Grundwert, beide wurden fast völlig eliminiert, das ökologische Grün verblasste, die Wirtschafts- und Finanzpolitik begann sich an der schwäbischen Hausfrau zu orientieren, in den Vordergrund traten linksliberale Themen und ihre Übertreibungen – von Bürgerrechten über oft romantisiertes Multikulti bis zum Gender*sternchen. 

Buchauslage Buchmesse
Leipziger Buchmesse 2010

Hin und wieder kritisierte ich die Entkernung und Verflachung in Essays und Interviews scharf: die Grünen träten nicht mehr für sozialökologisch-strukturelle Veränderungen ein, sondern für die Verschönerung des bürgerlichen Lebens. Klientel- und Identitätspolitik eben, welche die gesellschaftliche Fragmentierung eher vertieft. Die Addition noch so vieler Minderheiteninteressen macht noch keine Gesellschaftspolitik. Die Klimakatastrophe, vor der wir Grünen seit Mitte der 1980er Jahre gewarnt hatten, brachte zum Glück neue, junge, radikalere Aktivisten und Massenbewegungen hervor, die auch den Grünen Druck machten. Ihnen sei gedankt, dass die Bündnis-Grünen wieder in die Spur zu kommen scheinen. Mit ein bischen mehr Geschichtsbewußtsein könnten die Grünen zudem erkennen, dass die Grundlinien des „Green New Deal“, der nun in Europa Mainstream geworden ist, Ende der 1980er Jahre von ihnen selbst entwickelt wurden. Unverkrampfte Vorstände und ein frisches Grundsatzprogramm setzen seit 2019 erfolgreich neue (nämlich die verschütteten alten) Akzente und verdoppeln damit die öffentliche Zustimmung. Und so bin ich zum 40. Jahrestag meiner Mitgliedschaft nicht ausgetreten, sondern hoffnungsvoll in den Berliner Kreisverband Berlin Charlottenburg-Wilmersdorf gewechselt.

Im Gespräch mit Ramon Schack für Impulsiv TV im Oktober 2018 über Die Grünen, von den Anfängen bis heute

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