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(Nach dem Ende des Kalten Krieges warfen „neue Bedrohungen“ die Frage auf, ob und wie Deutschland militärisch intervenieren sollte. Der Epochenbruch durch Putins Überfall auf die Ukraine und Trumps Zerstörung der westlichen Welt drängte diese Frage in den Hintergrund. Dieser Text nun versucht, den politischen Diskurs über Interventionen über die Zeit zu retten und zugleich methodisch zu strukturieren. Er war zunächst für die „Friedenswarte“ gedacht, wird nun aber wegen dortiger Kalamitäten hier erstveröffentlicht.)

 

Einleitung

Wenn immer eine demokratische Regierung erwägt, in einen eskalierenden Konflikt „out of area“ einzugreifen, entbrennt eine öffentliche Diskussion über das Für und Wider. Hoch im Kurs steht dabei der Gebrauch von Adjektiven. Die Intervention sei geboten, klug, richtig, unvermeidbar, angemessen, erfolgversprechend oder auch das Gegenteil von allem. Sie sei eine Frage der politischen Moral, des nationalen Interesses, der Bündnissolidarität, der historischen Verantwortung, der Gunst der Stunde oder aber ein Ausweis von Verantwortungslosigkeit, Überschätzung, Leichtsinn, Vasallentreue, Landesverrat.

Die Äußerungen spiegeln die innere Haltung der Diskutanten, oft zusammengesetzt aus mehr oder weniger genauem Wissen und rationaler Kalkulation sowie unreflektierter Voreinstellungen und emotionaler Bewegtheit. Bei politischen Entscheidungsträgern spielen weitere Überlegungen eine Rolle. Es geht nicht nur um eine in sich befriedigende Antwort auf die eigentliche sicherheits- und friedenspolitische Frage, sondern auch um deren Einfluss auf andere Themen oder auf die eigene politische Zukunft.  Die Diskussionen begleiten den anfänglichen Entscheidungsprozess zur Intervention, ihren Verlauf und ihr Ergebnis. Je nach Lage der Dinge können sich Einschätzungen ändern. So kann es vorkommen, dass aus der ex-post-Perspektive eine Intervention verurteilt wird, die in der Entscheidungsphase noch vehement begrüßt worden war. Die Unschärfe der öffentlichen Diskussion steigert sich in „sozialen Medien“ oft bis zum Wahnwitz.  Es könnte deshalb hilfreich sein, sich auf ein Set von Kriterien zu verständigen, nach denen eine Intervention und ihre Ergebnisse auf einer intersubjektiv geteilten Basis beurteilt werden können. Ein solcher Versuch ist nicht neu, aber nicht in Mode.[1]

Seit Jahrhunderten unternehmen Rechtsphilosophie und theologische Ethik den Versuch, Antworten auf die Frage zu finden, was ein „gerechter Krieg“ sei. Ihre elaborierten Lehren flossen in das moderne Völkerrecht ein, von dem sie abgelöst wurden. Dieses erhebt den Anspruch, zwischenstaatlich etwas zu leisten, was innerstaatlich zumindest in Demokratien gilt, nämlich das Recht des Stärkeren durch die Stärkung des Rechts zu ersetzen. Der Imperativ, die Außen- und Sicherheitspolitik im Sinne von Friedenspolitik und globaler Verantwortung zu zivilisieren, liegt auch diesem Text als Folie zugrunde. In der öffentlichen Diskussion aber spielen solche Überlegungen kaum eine Rolle oder werden auf gestanzte Formeln reduziert. Zumindest für politische Entscheidungsträger, etwa Abgeordnete, die im Parlament über einen Waffeneinsatz entscheiden müssen, wäre es aber praktisch, eine Handreichung für eine vertiefte Prüfung zu besitzen, wenn sie vor der Frage stehen: Soll ich einer deutschen Beteiligung an einer militärischen Intervention zustimmen oder nicht?

Ein differenziertes Set an Kriterien wird auf den Widerspruch derer treffen, die eindimensional das eigene „nationale Interesse“ als notwendige und hinreichende Bedingung ansehen. Für manche „Realisten“ und für prinzipielle Bellizisten gehört potenzielle Gewaltanwendung zur Wesenhaftigkeit eines Staates. Spätestens seit der Verabschiedung der Charta der Vereinten Nationen (VN) aber steht dieser Konstruktion das Postulat der „globalen Verantwortung“ gegenüber. Ein „nationales Interesse“, dessen Definition bereits innenpolitisch bestritten werden kann, muss sich im Lichte dieses Postulats auch im internationalen Raum hinterfragen lassen. Ein selbstreferentieller Interessenbegriff erscheint als reine Machtattitüde. Jede Sicherheitspolitik aber, besonders eine Intervention jenseits der unmittelbaren eigenen Verteidigung, benötigt eine umfassende Legitimation: es gilt das Friedensgebot des Völkerrechts.

Selbst Super- und Großmächte, die in der Gewissheit ihrer Stärke darüber hinweggehen, lernen die Kehrseite ihrer Selbstermächtigung kennen. Die Kumulation von Widersprüchlichkeiten in ihren öffentlichen Begründungen bringt den Vorwurf der doppelten Standards ein und kostet Legitimation. Militärische Macht allein sichert auf Dauer weder die eigene Hegemonie noch die Loyalität von Partnern. Der potenteste Unilateralismus bricht sich an multilateralen Strukturen. Glaubwürdigkeit, eine international nachvollziehbare Plausibilität, die Compliance mit universell anerkannten Werten und Normen sind letztlich unverzichtbar.

Das komplementäre Legitimationsproblem hat ein abstrakter Gesinnungspazifismus, der jeglichen Waffeneinsatz zu welchem Zweck auch immer ablehnt und ohne Ansehen der Gefechtslage die Verständigung mit dem Gegner fordert. Der Glaube, jedes Sicherheitsproblem ausschließlich ohne Waffeneinsatz lösen zu können, mag sich als ethisch hochstehend empfinden, geht aber an den Realitäten vorbei. Gesinnungsethiker argumentieren nicht außen-politisch, sondern außer-politisch. Ihre generellen Appelle an die Humanität mögen sympathisch wirken; sie sind im besten Falle hilflos.

Eine politische Verantwortungsethik hingegen, die sich in Abgrenzung zur interessengeleiteten Realpolitik wie zum abstrakten Gesinnungspazifismus auch als „politischer Pazifismus“ definieren kann, gleicht die humanitären Normen und die inhumanen Realitäten ab und wählt dann den Weg, der realistischerweise dem Postulat einer friedlichen Konfliktbeilegung und Zivilisierung der internationalen Beziehungen am nächsten kommt. Es geht um die Eindämmung und Ordnung von Gewalt. Die Geschichte der Menschheit kann – bei allen grauenhaften Rückschlägen – insgesamt als Prozess der Zivilisation beschrieben werden. Das Friedensgebot des Völkerrechts kodifiziert die weitere Zivilisierung als Norm. Deshalb verlangt es für den Einsatz militärischer Mittel eine besondere Legitimation.[2]

In die folgenden Erörterungen fließen implizit die sicherheitspolitischen Diskurse des „Westens“ ein, insbesondere der USA und Deutschlands. Die USA spielen eine Rolle, weil sie als verbliebene Supermacht einen herausragenden Status besitzen, zwischenzeitlich als Weltordnungsmacht galten und als Führungsmacht die westliche Allianz strukturierten. Bis der Trumpismus zum Epochenbruch führte. Deutschlands Haltung ist interessant, weil es erst nach den Umbrüchen von 1989 bis 1991 seine vollständige Souveränität gewann. Es musste und konnte seine Außen- und Sicherheitspolitik neu justieren. Dabei kam es zu heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen um Interventionsentscheidungen. Diese waren angesiedelt im Spannungsfeld zwischen den Lehren aus den nationalsozialistischen Angriffskriegen und der Verantwortung angesichts der von der VN konstatierten „neuen Bedrohungen“. Zugleich musste eine souveräne Einstellung zum deutschen Sicherheitsdilemma gefunden werden, von der Sicherheitsgarantie der USA abhängig zu sein, nicht aber über deren Kern mitentscheiden zu können. Es ging um die Rolle des neuen vereinigten Deutschlands in der Welt. Diese Frage spitzt sich nach der disruptiven Zerstörung der „westlichen Wertegemeinschaft“ weiter zu.

Im Folgenden nun soll ein Vorschlag formuliert werden zur systematischeren und intersubjektiv nachvollziehbaren Bewertung von sicherheitspolitischen Entscheidungen zu Interventionen sowie deren Verlauf und Ergebnis. Es geht um „Blauhelme“ ebenso wie um „Krisenreaktionskräfte“ und „Kampfeinsätze out of area“. Im Teil eins werden zunächst die drei Begriffe expliziert und ihr Verhältnis zueinander skizziert. Im Teil zwei werden anschließend die Begriffe angewendet, um beispielhaft drei vergangene und bekannte Konflikte analytisch zu strukturieren. Dabei geht es nicht um eine umfassende Geschichtsschreibung, sondern um das Herauspräparieren von Aspekten, welche die vorgeschlagene Begrifflichkeit unterstützen.[3]

 

  1. Legalität, Legitimität, Effizienz

Diesseits der langen Ideengeschichte des „gerechten Krieges“ und ihres Kanons ethischer Postulate könnte für politische Praktiker und die interessierte Öffentlichkeit das folgende Prüfungsverfahren nützlich sein. Es ist zu fragen:

Ist eine Intervention legal? Ist eine Intervention legitim? Ist eine Intervention effizient?

Legalität, Legitimität, Effizienz – sie könnten eine erkenntnisleitende Folie bieten. Es ist nicht ausgemacht, dass bei einer Interventionsentscheidung alle drei Kriterien gleich ausfallen, positiv oder negativ. Eher bilden sie ein Dreieck und stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Man könnte von einer sicherheitspolitischen Triangulation reden. Zudem sind diskursive Fallen zu umgehen. Es beginnt bereits damit, dass die Begriffe Legalität und Legitimität in der Alltagssprache, aber auch im politischen Jargon, oft fälschlich als Synonyme verwendet werden. In der klassischen Lehre vom gerechten Krieg werden sie ebenso vermischt. Allerdings gibt es dort ein ständiges Bemühen, ethische Postulate in Rechtsförmigkeit zu überführen. Wie sich zeigen wird, muss Wert auf die strikte analytische Trennung beider Begriffe gelegt werden. Legalität und Legitimität sind zwei verschiedene Aspekte von Legitimation. Ähnlich verhält es sich in der englischen Sprache: legality und legitimacy bilden zwei Seiten von legitimation.

 

1.1. Legalität

Legalität hat zwei Dimensionen, das internationale Völkerrecht und das nationale Recht. Eine Intervention muss sich an das Völkerrecht halten, so wie es vornehmlich in der VN-Charta kodifiziert, aber auch vom VN-Sicherheitsrat beschieden ist. Waffeneinsatz ist demnach nur aus zwei Gründen erlaubt. Der erste ist das naturgegebene Recht zur Selbstverteidigung gegen einen Aggressor nach Artikel 51 der VN-Charta. Hier gilt der Vorbehalt, dass die Selbsthilfe suspendiert wird, wenn die VN effektive Maßnahmen gegen den Aggressor und zur Wiederherstellung des Friedens ergreifen.

Die zweite Ausnahme ist ein „friedenserzwingender Einsatz“ auf der Basis von Kapitel VII der VN-Charta. Sie setzt einen entsprechenden Beschluss des VN-Sicherheitsrates voraus, der Ziel und Grenzen des Einsatzes definiert. Die VN können eine ihrer regionalen Abmachungen wie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) mit der Thematik betrauen. Eine Selbstmandatierung eines Staates oder Staatenbündnisses („coalition of the willing“) ist nicht vorgesehen. Kapitel-VII-Einsätze sind im Zuge der Jugoslawienkriege in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zur Standardform einer legalen Intervention geworden. Sie werden durch reguläres Militär mandatierter Staaten getragen. Es hatte sich herausgestellt, dass „friedenserhaltende Einsätze“ durch „Blauhelme“ nach Kapitel VI der VN-Charta nicht funktionierten, wenn und weil bereits Kampfhandlungen stattfanden. Blauhelme gewannen nicht das Gewicht einer Ordnungsmacht, sondern wurden zu Opfern (Sarajewo) oder gar zu Kollaborateuren (Srebrenica).

In zahlreichen Staaten muss wie in Deutschland eine Intervention über den Beschluss der Regierung hinaus parlamentarisch befasst werden. Oft sind verfassungsrechtlich Grenzen gesetzt. In Deutschland ist das gesamte internationale Völkerrecht zum Bestandteil des nationalen Rechts erklärt worden. Das oberste Verfassungsgericht hat die Kompetenz, die Legalität einer Beteiligung an einer militärischen Intervention zu überprüfen und zu sanktionieren. Die Führung von Angriffskriegen ist mit dem Strafrecht bedroht.

Der Begriff „Krieg“ bietet die nächste diskursive Falle. Er bezeichnet sowohl eine Struktur als auch eine Handlung. Strukturell meint er die bewaffnete Auseinandersetzung zwischen zwei oder mehr Kombattanten. Handlungstheoretisch aber muss unterschieden werden zwischen Angriff und Verteidigung.  Allgemeinplätze wie „wir wollen keinen Krieg“ oder „Krieg ist keine Lösung“ beziehen sich auf die Struktur, die abgelehnt wird. Sie umgehen und verschleiern aber zugleich die eigentlichen Entscheidungsfragen, da sie zwischen den Handlungen „Angriff“ und „Verteidigung“ nicht kategorial unterscheiden. Beide Handlungen, die in derselben Struktur stattfinden, werden, was die Legalität angeht, unzulässig gleichgesetzt.

Ein ähnlicher Fehler unterläuft der feministischen Kritik. Einen Krieg als Imponiergehabe testosterongesteuerter Machos zu interpretieren, die ihren Rangplatz auf dem Affenfelsen auskämpfen, drückt sich ebenfalls an der Unterscheidung zwischen Angriff und Abwehr vorbei. Beim Angreifer mag der Hormonstatus durchaus eine Rolle spielen, und er mag sich aus feministischer Sicht der Lächerlichkeit preisgeben. Aber daraus kann nicht die Lächerlichkeit der Selbstverteidigung abgeleitet werden. Frau müsste geradezu hoffen, dass der zu Unrecht angegriffene potenter ist als der Aggressor, wenn es ihr nicht gelingt, diesen durch Appelle an die Friedensliebe zu besänftigen.

Die traditionelle völkerrechtliche Diskussion unterschied das „Recht zum Krieg“ und das „Recht im Krieg“. Die doppelte Verwendung des Wortes „Krieg“ könnte suggerieren, dass es sich in beiden Formeln um denselben Begriff handelt. Dabei ist mit dem ersten Begriff ein Angriffskrieg gemeint. Bis in die Moderne galt er als legale und legitime Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Angriff ist eine Handlung eines politischen Subjektes. Der zweite Begriff jedoch bezeichnet eine Struktur, den Kampf zwischen zwei oder mehreren Parteien. Die handlungstheoretische und die strukturtheoretische Verwendung zu vermischen, führt theoretisch und praktisch in Teufels Küche.

Ein „Recht zum Krieg“ ist heute völkerrechtlich nicht mehr existent. Angriffskriege sind per se geächtet. Über das Recht zur Verteidigung muss nicht mehr räsoniert werden; es ist naturrechtlich gegeben und in der VN-Charta fixiert. Kurz: Angriff ist immer illegal; Verteidigung ist immer legal. Das „Recht im Krieg“ jedoch bleibt eine relevante Kategorie. Es ist in mehreren vertraglich festgelegten internationalen Rechtsnormen zur „Humanisierung“ von Kampfhandlungen kodifiziert und bindet alle Kombattanten, auch Verteidiger. Daraus folgt: Auch wenn ein militärisches Eingreifen auf Seiten der Verteidiger zu Beginn legal war, kann es seine Legalität durch „unverhältnismäßige Mittel“ (teilweise) einbüßen. Dies bedeutet wiederum nicht rückbezüglich, dass eine Intervention von Beginn an illegal war.

Das Völkerrecht ist eigentlich kein Recht der und für Völker, sondern ein Staatenrecht. Es beruht nicht auf einer vom Volk beschlossenen Verfassung, sondern auf vertraglichen Übereinkommen von Staaten und ihrer „gewohnheitsmäßigen Praxis“. Verträge können geändert werden, wenn sie neue Realitäten nicht mehr erfassen; einem Gewohnheitsrecht kann die Aberkennung drohen. Wegen dieser Formen der Rechtssetzung ist es nicht illegal, einen formulierten Kodex in Zweifel zu ziehen, falls eine triftige Begründung vorliegt. Auch der Prozess der Rechtssetzung ist Teil des Rechts. Jeder Zweifel am bestehenden Recht aber muss zu neuem Recht führen und berechtigt nicht zur Selbstermächtigung, Wie bei der amerikanischen Verfassung und anders als beim deutschen Grundgesetz wird bei einer Rechtsreform die VN-Charta nicht im Wortlaut verändert, sondern erhält durch Resolutionen des VN-Sicherheitsrates und weitere universell gültige Vereinbarungen wie die Menschenrechtspakte oder die Völkermordkonvention eine zeitgemäß gültige Interpretation. Resolutionen der VN-Generalversammlung sind nicht bindend, aber geben die Tendenz der weltweiten Meinung wieder.

Die Konstruktion des VN-Sicherheitsrates mit ständigen Mitgliedern samt Vetorecht lässt Zweifel am Legalitätsprinzip selbst aufkommen. Legalität wird über das Verfahren der Abstimmung hergestellt. „Legitimation durch Verfahren“ aber besitzt eine nur schwache Plausibilität. Denn die Veto-Mächte nutzen ihr Recht nicht immer, um im Sinne globaler Verantwortung Gerechtigkeit und Wahrheit zu finden, sondern um eigene nationale Interessen durchzusetzen. So kann es geschehen, dass ein legitimes politisches Begehren keine legale Absicherung erhält.

 

1.2. Legitimität

 Mit Legitimität ist die ethisch-moralische Dimension einer Entscheidung gemeint. Sie gibt darüber Auskunft, ob eine Intervention im nichtjuristischen Sinne berechtigt oder sogar verpflichtend ist. Nicht alles, was rechtlich möglich ist, muss auch praktiziert werden. Zudem gibt es rechtsfreie Räume, in denen der ethisch-moralische Kompass gefragt ist. Auch können Maßnahmen für legitim gehalten werden, für die es keine passende Rechtsnorm und keinen zustimmenden Beschluss des Sicherheitsrates gibt. Kurz: Legitimität kann in Widerspruch zur Legalität geraten, muss dann manchmal zurückstehen, kann sich aber auch durchsetzen und eine Neuformulierung von Rechtsstandards erwirken.

Selbstverteidigung ist nicht nur legal, sie ist auch legitim, weil nach dem Naturrecht niemand einen Angriff auf sein Leben oder seine Gesundheit hinnehmen muss. Als Notwehrparagraf ist diese Figur in den meisten nationalen Gesetzgebungen fixiert wie im Bürgerlichen Gesetzbuch Deutschlands. Dieses geht über das Recht zur Notwehr hinaus und postuliert die Hilfe durch Dritte. Die Erlaubnis zur Nothilfe weitet sich unter Umständen zur Nothilfepflicht. Eine grobfahrlässig unterlassene Hilfeleistung kann strafrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Was im nationalen Rahmen gilt, erfasst zunehmend den internationalen Raum.

In der VN-Charta ist eine solche Verpflichtung im Begriff der kollektiven Verteidigung beinhaltet. Zahlreiche Beschlüsse des Sicherheitsrates und Resolutionen der Generalversammlung haben diese Verpflichtung spezifiziert, am deutlichsten im Postulat der „Schutzverantwortung“ („responsibility to protect“), das die VN zunächst an sich selbst richten. Im Kampf gegen den internationalen Terrorismus haben die VN durch ihren Generalsekretär sogar alle Staaten aufgerufen, auch eigenständig einen aktiven Beitrag zu leisten, „by any means“, d.h. auch militärisch.

Generell aber gilt die VN-Forderung nach einer „Kultur der Prävention“. Erst wenn alle verfügbaren Methoden und Mittel der Krisenverhütung und zivilen Konfliktbearbeitung, einschließlich robuster Diplomatie und wirtschaftlicher Sanktionen, nachweislich ausgeschöpft sind, ist ein Waffeneinsatz als „ultima ratio“ legitim. Die „prima ratio“ zu übergehen, um schnell militärisch eingreifen zu können, wäre illegitim. Auch gilt: Nicht alle legal möglichen Interventionen sind automatisch legitim. Wenn überwiegend negative Auswirkungen erwartbar sind, etwa hohe Kollateralschäden, die vertikale oder horizontale Eskalation des Konfliktes, kann es ethisch geboten sein, auf militärische Maßnahmen zu verzichten.

Die ethische Dimension ist nicht der VN-Charta nachgeordnet, sondern war Voraussetzung zu ihrer Formulierung und Verabschiedung. Sie führt deshalb immer wieder zur kritischen Frage, ob die juristischen Konstruktionen der VN einschließlich der Zusammensetzung und Kompetenz des Sicherheitsrates angesichts neuer Bedrohungen noch zeitgemäß sind. Sie motivierte zudem zur Ausarbeitung und Verabschiedung der Völkermordkonvention, der Menschenrechtskonvention und der Pakte für politische und soziale Menschenrechte. Mit diesen Konventionen werden nicht nur Rechte von Volksgruppen, Minderheiten und Individuen geschützt. Sie relativieren auch die in der VN-Charta formulierte Norm der „Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten“.

Die Charta ging vor der Fiktion aus, dass ein Staat seine Staatsmacht im Interesse seines gesamten Staatsvolkes nutzt. Die Realität aber sah anders aus. Es gab eine Reihe von innerstaatlichen Genoziden, Massenmorden, ethnischen Säuberungen, bei denen die Staatsmacht das eigene Staatsvolk attackierte. Es ist schon bemerkenswert, dass der Holocaust zwar einen Hintergrund für die Formulierung der VN-Charta bildete, der Umgang mit solchen Staatsverbrechen aber nicht besprochen wird. Erst die erwähnten Konventionen schafften hier Abhilfe. Heute darf und muss sich die internationale Staatengemeinschaft mit solchen Ereignissen befassen. Die Berufung eines Täterstaates auf die „inneren Angelegenheiten“ gilt immer weniger als legitim.

Bei den Nürnberger Prozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher des Nazi-Staates bestand eine Schwierigkeit darin, die Angriffskriege als Verbrechen im juristischen Sinne nachzuweisen. Die VN-Charta galt 1939 noch nicht. Der Briand-Kellogg-Pakt von 1928 ächtete Angriffskriege, seine Bindungswirkung aber blieb gering. Deshalb bemühten Ankläger und Gerichte in Nürnberg neben den knappen völkerrechtlichen auch überhistorisch-ethische Kategorien, zusammengefasst als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Auch hier zeigt sich, dass das Recht der Ethik folgen und modifiziert werden kann, wenn es aus der Zeit fällt. Ob Ethik eine Rolle spielt, ist wiederum eine Frage der Machtverhältnisse.

 

1.3. Effizienz

 Eine Intervention mag legal und legitim sein, zu prüfen wäre zudem ihre Effizienz in mehrfacher Hinsicht: Können die politisch erwünschten Ziele realistischerweise praktisch erreicht werden? Wird das Problem beim Scheitern der Maßnahme noch schlimmer? Treten an anderer Stelle oder zu anderen Zeiten dadurch neue gravierende Probleme auf, für die sich keine Lösung abzeichnet? Es geht um Prognose, nicht um exaktes Wissen. Dieses Kriterium ist ex ante am schwersten kalkulierbar.

Nicht immer verfügt ein von der VN oder ihren regionalen Abmachungen mandatiertes Land oder Bündnis auf Dauer über ausreichende militärische, finanzielle, personelle und politische Ressourcen für eine Intervention. Vielleicht gibt es keine aussichtsreiche Strategie, massive logistische Probleme, unakzeptable Kollateralschäden. Auch kann die Gefahr für einen intervenierenden Staat selbst zu groß sein, weil er mit Angriffen der Gegenseite oder hohen eigenen Verlusten rechnen muss. Reale oder prognostizierte Misserfolge stellen auch die aktive Zustimmung in der eigenen Bevölkerung und im Parlament in Frage. Mut und Entschlossenheit mögen manches Defizit überwinden können, Hurrageschrei aber kann falsche Erwartungen wecken, unglaubwürdige Durchhalteparolen können die öffentliche Stimmung umschlagen lassen. Kriegspropaganda kann die ohnehin angeschlagene Glaubwürdigkeit von Medien weiter herabsetzen. Die gesamte demokratische Kultur kann Schaden nehmen.

Eine ineffiziente Intervention kann zum Sieg der Gegenseite und zur Verfestigung der Zustände führen, die beseitigt werden sollten. Die militärische Intervention kann das Fenster für diplomatische Bemühungen für eine unabsehbare Zeit schließen. Eingedenk der völkerrechtlich verlangten „Verhältnismäßigkeit der Mittel“ läuft eine Intervention Gefahr, zu zögerlich zu sein. Dabei muss gelten: Wer eine Intervention beginnt, muss sie auch gewinnen wollen. Diese Eskalationsgefahr ist ebenfalls zu kalkulieren. Wenn sich entgegen optimistischen Annahmen ein Scheitern einer Intervention abzeichnet, muss es eine Exit-Option geben, die ebenso durchkalkuliert ist wie die Entrance-Strategie.

Die letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass Konflikte, die per Intervention eingedämmt werden sollten, sich in andere Regionen verlagern können. Die horizontale Eskalation kann Staaten erfassen, die bis dahin als menschrechtlich schwierig, aber außenpolitisch friedlich galten. Sie kann neue Kombattanten auf den Plan rufen, die mit anderen Zielen und Mitteln den Ursprungskonflikt mutieren lassen. Es kommt zu einer überkomplexen Konfliktstruktur mit schwer durchschaubaren Akteuren und Interessen, auch mit privatisierter Gewalt, die dem Völkerrecht nicht zugänglich ist.

Ein nachteiliges Ergebnis kann auch eine legitime, aber in den Konsequenzen nicht durchdachte Menschenrechtspolitik bringen. Denn eine Despotie ist eine Ordnung, auch wenn sie Menschenrechte verletzt. Ihr Sturz aber muss nicht zwangsläufig zur Demokratie führen; es kann auch eine neue, vielleicht schlimmere Diktatur entstehen oder Staatszerfall, völliges Chaos und die Tyrranei konkurrierender Warlords.

Wenn ein Staat aus triftigen und nachvollziehbaren Gründen keine Nothilfe durch die Beteiligung an einer legalen und legitimen Intervention leistet, macht er sich nicht mitschuldig am Elend derer, denen geholfen werden soll. Für deren Elend ist einzig und allein der Aggressor verantwortlich. Ein Helfer der ohnmächtig ist, steht nicht auf derselben niedrigen ethisch-moralischen Stufe wie ein Aggressor, der mächtig ist.

 

  1. Verantwortung und Freiheit

Und wo rangieren in dieser Systematik die „nationalen Interessen“? Sie stehen nicht darüber, sondern haben sich einzuordnen. Nationale Interessen sind dem Legalitätsprinzip unterworfen; sie können einen Aspekt von Legitimität ausmachen; sie geben nicht die geringste Auskunft über die Effizienz einer Intervention.

Die potenzielle Widersprüchlichkeit der drei Kriterien kann zu politischen Fehlschlüssen führen. Eine Intervention kann zum Beispiel legitim sein, obwohl sie einen Bruch mit dem geltenden Völkerrecht markiert und so gemessen am positiven Recht illegal ist. Welches Kriterium ist dann ausschlaggebend? Eine Intervention kann sich als ineffektiv herausstellen. Daraus lässt sich aber nicht auf eine fehlende anfängliche Legalität oder unzureichende Legitimität schließen. Sie kann legal und effizient sein und trotzdem einen Mangel an Legitimität aufweisen. Sie kann auch im Prozess ihren Charakter ändern. Für alles gibt es Beispiele. Die Widersprüche erzwingen eine bewusstere Reflektion der Entscheider. Sie erfordern eine präzise Zuordnung von Erkenntnissen und Mutmaßungen zu den einzelnen Kriterien. Ob dann ein, zwei oder alle drei Kriterien für eine positive Entscheidung erfüllt sein müssen, ist Sache einer politischen Bewertung. Es gibt keine mathematische Formel, die eine oft schwierige verantwortliche Entscheidung ersetzen kann.[4]

Im Folgenden nun sollen beispielhaft einige Interventionen bewertet werden. Dabei wird das historische Wissen der Hintergründe und des Verlaufs der Ereignisse vorausgesetzt.[5]

 

2.1. Kosovo 1999: Nato-Kampfeinsatz Allied Forces

Die Intervention von Nato-Staaten im Kosovo verstieß gegen das Völkerrecht, so wie es zu diesem Zeitpunkt geschrieben stand. Es gab keinen zustimmenden Beschluss des VN-Sicherheitsrates. Resolutionen der VN-Generalversammlung, die auf die dramatische Lage im Kosovo und insbesondere die Verantwortung der rest-jugoslawischen Regierung in Belgrad hinwiesen, waren rechtlich nicht bindend und ermächtigten allein nicht zum Eingreifen. Die Intervention war völkerrechtlich illegal. An diesem Punkt sind sich fast alle Völkerrechtler einig.

Bezogen auf das nationale deutsche Recht fiel die Entscheidung zwiespältig aus. Am 16. Oktober 1998 beschloss der Deutsche Bundestag auf der Basis einer Regierungsvorlage, unter Umständen an einer militärischen Intervention teilzunehmen.[6] Formaliter war der Vorgang in Ordnung. Dieser „konstitutive Beschluss“ war faktisch ein sogenannter „Vorratsbeschluss“, ein Beschluss, der für einen späteren Zeitpunkt gelten sollte, welchen man undeutlich vorausahnen, dessen konkrete Umstände man aber noch nicht wissen konnte. Mit dieser nach nationalem Recht korrekten Entscheidung wurde eine völkerrechtlich möglicherweise illegale Aktion innenpolitisch abgesichert. Mit weiteren Bundestagsresolutionen wurde sie später, als der Konflikt im Kosovo eskalierte, untermauert. Als es tatsächlich zur Intervention mit deutscher Beteiligung kam, betonte die Bundesregierung, dass es sich um eine Ausnahme handle, die der unzureichenden völkerrechtlichen Regelung geschuldet sei.

Die Motivation für dieses Manöver ergab sich aus Überlegungen der Legitimität. Im Kosovo drohte nach Auffassung der überwiegenden Mehrheit der politischen Beobachter inner- und außerhalb von Regierung und Parlament eine „humanitäre Katastrophe“. Dieser Begriff wurde als juristisch unverfängliche, weil unscharfe Bezeichnung eingeführt; er reflektierte auf gerade geschehene Völkermorde in Srebrenica und Ruanda, ohne den Völkermord-Begriff für das befürchtete Szenario ex ante zu verwenden. Es mögen sich in die Bundestagsentscheidung auch Aspekte des nationalen Interesses gemischt haben, die Hauptmotivation aber lag eindeutig in der ethisch-moralischen Selbstverpflichtung, die sich abzeichnende Katastrophe zu verhindern. Es ging um militärische Nothilfe. Manche Kritiker versuchten sich in Rabulistik: die Intervention sei nicht „humanitär“, weil sie nicht mit humanitären, sondern mit militärischen Mitteln geschähe. Richtig ist: die humanitäre Zielsetzung wäre mit rein humanitären Mitteln ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht erreichbar gewesen.

Die Prinzipien Legalität und Legitimität gerieten in Widerspruch zueinander. Legalität war wegen des angedrohten russischen Vetos im VN-Sicherheitsrat nicht zu erreichen. Das Prinzip der Legitimität trat in den Vordergrund, als es der internationalen Gemeinschaft trotz größter Anstrengungen nicht gelang, zu einem gewaltvermeidenden Verhandlungsfrieden zu kommen. Der von den USA mit Belgrad im Herbst 1998 ausgehandelte Waffenstillstand für den Kosovo wurde bereits im Spätwinter von der serbischen Seite massiv verletzt (Massaker von Racak). Der unmittelbar folgende Versuch, mit einer umfassenden Friedenskonferenz (Rambouillet) den Konflikt beizulegen, scheiterte einzig und allein an der Starrheit Belgrads. Die Veto-Macht Russland unternahm nichts, um seinen Verbündeten zum Einlenken zu bewegen und blockierte zugleich im Sicherheitsrat jede effiziente Maßnahme der VN. Vor diesem Hintergrund war die Nato-Intervention zwar nicht legal, aber ethisch-moralisch geradezu zwingend. Das Dilemma war augenscheinlich; zugespitzt: Wer einen drohenden Völkermord verhindern wollte, musste einem illegalen Waffeneinsatz zustimmen; wer diesen vermeiden wollte, nahm mit gewisser Wahrscheinlichkeit einen Völkermord in Kauf.

Versuche internationaler und nationaler Akteure, ex post das Legalitätsprinzip gegen das der Legitimität durchzusetzen, scheiterten. Russlands Versuch, durch die VN-Sicherheitsrat eine Verurteilung der Intervention aussprechen zu lassen, fand keine Mehrheit.[7] Die internationale Gemeinschaft schien ein Gespür für die Lückenhaftigkeit der VN-Charta zu haben. Innenpolitisch wurde eine Verfassungsklage der Partei PDS gegen die Bundesregierung wegen Führung eines Angriffskrieges zurückgewiesen.[8] Die Argumentation des Gerichts war fragwürdig. Es urteilte, dass Deutschland nicht unilateral gehandelt habe, sondern als Teil einer Organisation gegenseitiger kollektiver Sicherheit. Es traf aber keine Aussage dazu, ob das Kollektiv als Ganzes gegen das Völkerrecht verstieß. Besser wäre es gewesen, auf den manifesten Widerspruch zwischen Legalität und Legitimität hinzuweisen und auf die Notwendigkeit einer Reform des Völkerrechts.

Letzteres geschah in den folgenden Jahren auf VN-Ebene. Nachdem mehr und mehr Konflikte entstanden, bei denen eine Staatsmacht gewaltsam eigene Bevölkerungsgruppen drangsalierte, anerkannte die VN-Generalversammlung eine „responsibility to protect“, eine Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft für bedrohte Volksgruppen – auch unter Verletzung des Prinzips der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten.[9] Es ging also darum, bisher „nur“ ethisch legitimierbaren Interventionen auch eine legale Basis zu verleihen.  Auch wenn diese Intention das Problem nicht löste, weil sie wie das Problem selbst Streitgegenstand wurde und im Zuge des Irak-Krieges versandete (siehe unten), belegt sie doch ex post ein Verständnis der internationalen Gemeinschaft für die Nato-Intervention im Kosovo.

Die Effizienz der Intervention war ex ante schwer kalkulierbar. Die Nato ging fälschlicherweise von einem schnellen Erfolg aus. Dieser aber blieb aus. Die Luftschläge der Nato trafen falsche Ziele und forderten zivile Opfer, was die Legitimität der Intervention zu untergraben begann. Folgerichtig nahmen die öffentlichen Forderungen nach einem Ende der Intervention zu. Eine sofortige Beendigung durch die Nato hätte bedeutet, die befürchtete humanitäre Katastrophe doch noch geschehen zu lassen. So kam es zu einem langwierigen, letztlich erfolgreichen Verhandlungsprozess um ein „militärisch-technisches Abkommen“, das zeitgleich die Intervention und die Vertreibungen der kosovarischen Bevölkerung durch Belgrad beenden sollte, von der VN akzeptiert durch die Resolution 1244 vom 10. Juni 1999.

Die ex-post-Bewertung der Effektivität, des „Erfolgs“ der Intervention, gerät oft unscharf. Der Nato wird vorgeworfen, mit ihren Aktionen nicht alle Probleme des Kosovo gelöst zu haben. Das ist zwar richtig, war aber nie das Ziel. Das Ziel bestand ausschließlich darin, den eskalierten Konflikt in Rest-Jugoslawien zwischen Serbien und dem Kosovo unter die Gewaltschwelle zu drücken und einer diplomatischen Bearbeitung zugänglich zu machen. Kriegsverbrecher sollten der Gerichtsbarkeit zugeführt werden können. Diese Ziele wurden erreicht. Ob der heutige Status befriedigend ist, ist eine andere Frage.[10]

 

2.2. Afghanistan 2001: OEF und ISAF

In der Öffentlichkeit wird oft fälschlich von dem Afghanistaneinsatz geredet. Dabei gab es zwei Interventionen mit unterschiedlicher Legitimation: Die Operation Enduring Freedom (OEF) der Nato unter Führung der USA als Kampfeinsatz und die Stabilisierungsmission ISAF der VN, an der nicht nur Nato-Staaten teilnahmen.

OEF war die direkte Reaktion der USA und verbündeten Nato-Staaten auf die Terrorangriffe vom 11. September 2001. OEF war völkerrechtlich legal: der Terrorangriff wurde auf Antrag der USA von der VN als bewaffneter Angriff einer ausländischen Macht eingestuft. Die entführten Flugzeuge funktionierten als Kerosinbomben, der Anschlag war von ausländischen Mächten geplant. Der Sicherheitsrat bestätigte das Selbstverteidigungsrecht der USA nach Art. 51 der VN-Charta.[11] Vor der Ergreifung militärischer Maßnahmen wurden die Taliban als De-facto-Machthaber in Afghanistan aufgefordert, die von dort agierenden Planer des Terrors auszuliefern und der Tätergruppierung Al-Qaida den Handlungsspielraum zu entziehen. Mit der Weigerung der Taliban erfüllte der Staat Afghanistan den völkerrechtlichen Tatbestand der „Beherbergung“. Eine solche gilt, anders als die Nichtentdeckung einiger Attentäter in Deutschland, als aktive Unterstützung. Da die VN selbst keine Maßnahmen ergriffen, durften die USA zur Selbsthilfe greifen, solange die Verhältnismäßigkeit gewahrt war. OEF galt als Selbstverteidigung der USA gegen potenzielle weitere Terroranschläge.

Der Angriff auf die USA löste den Art. 5 des Nato-Vertrages, die Beistandsverpflichtung, aus. In Deutschland wurde von Regierung und Parlament auf dem verfassungsrechtlich korrekten Weg eine Teilnahme an der Militärmission beschlossen. Die Nato führte, anders als manche Kritiker bis heute behaupten, also keinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Zudem rief der Generalsekretär der VN unwidersprochen alle Staaten auf, einen aktiven Beitrag zur Bekämpfung des Terrorismus zu leisten, „by any means“, also auch militärisch. Die VN definierten den internationalen Terrorismus als eine der neuen Gefährdungen des Weltfriedens.

Bald nach Beginn von OEF setzten die VN mit ISAF eine weitere Militärmission ein, unter eigener Oberhoheit, durchgeführt unter Führung der USA. Sie sollte parallel zum Kampf gegen den Terror der Absicherung von Entwicklung und Stabilität in ausgewählten Regionen dienen. Auch daran nahm Deutschland teil. Dieser Einsatz war ebenfalls völkerrechtlich und verfassungsrechtlich legal.

Die Reaktion der USA erfüllte auch das Kriterium der Legitimität. Selbstverteidigung ist immer legitim. Die intervenierenden Staaten suchten in der kritischen öffentlichen Diskussion weitere Legitimität zu gewinnen, indem sie die Absicht erklärten, die Lebens- und Entwicklungschancen der von den Taliban terrorisierten Bevölkerung, besonders der Frauen, verbessern zu wollen. Auf die Legitimität fiel ein Schatten, weil die USA keine sichtbaren nicht-militärischen Maßnahmen zu ergreifen schienen, etwa die Blockade des Bin-Laden-Vermögens oder diplomatische Initiativen gegenüber den Herkunftsländern der Terroristen Saudi-Arabien und Jemen. Verstörend wirkte zudem, dass die Täter um Osama Bin Laden durch die USA selbst einst im Kampf gegen die sowjetische Besatzungsmacht gefördert worden waren.

Weitere Legitimität ging verloren, als die USA eine große Anzahl von mutmaßlichen oder angeblichen Terrorunterstützern ohne Rechtsgrundlage in das Gefangenenlager Guantanamo sperrten. So diese als Kombattanten gelten konnten – immerhin war der Terrorangriff als kriegerischer Akt gewertet worden –, hätten sie Anspruch auf die Behandlung als Kriegsgefangene gehabt, als zivile Täter auf ein ordentliches Strafgericht. Die amerikanische Lesart, Täter, die das Völkerrecht verachteten, hätten keinen Anspruch auf dessen Schutzklauseln, hätte nicht zu Willkür führen dürfen, sondern Ausgangspunkt einer Reform des Völkerrechts sein müssen. Durch die Verweigerung jeglicher Rechtsmittel aber zerstörten die USA nicht nur ihren legitimen Anspruch, sondern untergruben auch das Legalitätsprinzip, auf das sie ihr militärisches Eingreifen gestützt hatten.

Die Legitimität von ISAF stand anfangs nicht infrage. Ihr Ziel war der Schutz von Entwicklung und Wiederaufbau. Der Versuch der USA, ISAF unter OEF zu subsummieren, wurde von der internationalen Gemeinschaft abgewiesen. Die Legitimität wurde brüchig, als ISAF immer öfter in Kampfeinsätze verwickelt wurde, mit zahlreichen Opfern auf allen Seiten, auch der Zivilbevölkerung. Nach der offiziellen Beendigung von OEF konzentrierten sich alle Aufgaben auf ISAF allein. Ob diese sämtlich durch das anfängliche Mandat legal gedeckt waren, kann bezweifelt werden. Zudem begann die Mission, massiv an Legitimität einzubüßen, als die humanitäre Zielsetzung sich immer weniger realisierte.

Die Effizienz der von den USA geplanten militärischen Maßnahmen wurde ex ante zumindest in der deutschen Bundesregierung bezweifelt. Hier hoffte man auf eine multilaterale nichtmilitärische Strategie gegen den transnationalen Terrorismus, konnte und wollte aber einen eigenen Militärbeitrag wegen der Nato-Beistandspflicht  nicht verweigern.

OEF war anfangs in begrenztem Umfang durchaus effizient. Sie zerschlug die Trainings- und Planungscamps von Al-Qaida auf dem Boden Afghanistans. Sie trug zur Vertreibung der Taliban von der Staatsmacht bei, obwohl dies zunächst nicht definiertes Ziel war. Sie wurde jedoch zunehmend ineffizient, als Al-Qaida nach Pakistan auswich. Die USA agierten nun großflächiger und eskalierten die Vehemenz ihrer Angriffe. Dabei wurden auch Cluster- und Aerosol-Bomben eingesetzt, deren Abwurf in bewohntem Gebiet völkerrechtlich geächtet ist. Immer mehr unbeteiligte Zivilisten wurden zu Opfern. Die globale strategische Überlegenheit einer Supermacht fand in diesem asymmetrischen Krieg seine Grenzen. Die internationale Solidarität begann zu zerbröseln. Dennoch wurde OEF bis 2014 fortgesetzt. Bin Laden wurde zwar 2011 auf pakistanischem Gebiet durch ein Spezialkommando liquidiert, doch die Ausbreitung terroristischer Netzwerke konnte nicht verhindert werden.

Angesichts der sich abzeichnenden Grenzen von OEF forderten die USA bereits Ende 2001 eine größere Anstrengung der Verbündeten. Als diese zurückhaltend reagierten, wurde mit ISAF ein Kompromiss gefunden. Während diese Mission den sozial-strukturellen Aufbau ausgewählter Regionen von unten absichern sollte (nation building, bottom up), betrieb OEF weiterhin mit militärischen Mitteln die Sicherung zentraler politischer Macht in der Hauptstadt (state building, top down). An diesem Widerspruch in der Strategie scheiterte ISAF. Von der Bevölkerung „on the ground“ wurde die Mission zunehmend als unfreundlich wahrgenommen; das machtpolitische Vakuum nach dem Ende von OEF konnte und wollte sie nicht ausfüllen. Sie geriet militärisch und politisch in die Defensive und endete mit einem fluchtartigen, politisch schmachvollen Rückzug. Es erwies sich einmal mehr als unmöglich, ein archaisches Land mit externen militärischen Mitteln in einen modernen Nationalstaat zu wandeln.[12]

 

2.3. Irak 2003: Operation Iraqi Freedom

Als die USA und eine „Coalition oft he Willing“ im März 2003 den Irak mit der Begründung angriffen, das Land verfüge über Massenvernichtungswaffen und sei bereit, diese einzusetzen, gab es dafür kein Mandat des VN-Sicherheitsrates. Die USA griffen zur Selbstermächtigung auf der Basis der Sicherheitsrats-Resolution 1441.[13] Diese hatte verlangt, dass der irakische Despot Saddam Hussein seine angeblich existierenden Massenvernichtungswaffen offenlege und beseitigen lasse. Mit diesem Verfahren handelten die USA in mehrfachem Sinne illegal. Sie ersetzten zum einen den fehlenden Beschluss des Sicherheitsrats durch den Verweis auf eine vorangegangene Sicherheitsrats-Resolution. Diese wiederum basierte auf einem fragwürdigen Kompromiss zwischen den bereits zum Angriff entschlossenen USA und europäischen Kriegsgegnern wie Deutschland, die meinten, die USA durch diesen  Kompromiss vom unmittelbar drohenden Äußersten abhalten zu können. Dabei enthielt die Resolution 1441 einen Trick, der – als weitere Rechtsverletzung – die Beweislast umkehrte: dem Irak musste nicht mehr der Besitz von Massenvernichtungswaffen nachgewiesen werden, sondern Saddam Hussein sollte seine Unschuld beweisen. Ein solcher Beweis war nicht zu erbringen, da die US-Administration jede irakische Unschuldsbeteuerung mit der Behauptung besonders raffinierter Verstecke konterte. Tatsächlich existente Produktionsstätten für Raketen und Sprengköpfe hatten VN-Inspektoren auf der Basis einer VN-Resolution bereits vollständig vernichten können. Die USA legten in der Resolution nun handlungslogisch die Eskalation Richtung Intervention an.

Als finalen „Schuldbeweis“ legten die USA kurz vor der Intervention der VN öffentlich Luftaufnahmen angeblicher mobiler Chemiewaffenlabore vor. Exakt diese Bilder waren dem Auswärtige Ausschuss des Deutschen Bundestages bereits ein halbes Jahr zuvor präsentiert worden. Dieser hatte in geheimer Sitzung die Aussagekraft der Bilder und die Seriosität der Quelle bezweifelt. Im Nachhinein stellten sich die „Labore“ als Trucks mit agrarischen Pestiziden heraus. Den Auftritt der USA vor der VN bewerteten die politischen Entscheidungsträger in Deutschland mehrheitlich als Beleg dafür, dass der US-amerikanischen Sicht jegliche Rechtsgrundlage fehlte.[14]

Die Operation gegen den Irak war von Beginn an völkerrechtlich illegal. Die Bundesregierung legte dem Bundestag keinen Antrag zur Beteiligung an der Militäraktion vor. Im Parlament überwogen bei weitem warnende und vehement ablehnende Stimmen.

Anders als im Kosovo gab es auch keinen „übergesetzlichen Notstand“, der die fehlende Legalität durch eine ethische Verpflichtung legitimerweise hätte kompensieren können. Despoten vom Kaliber Saddam Husseins gab es viele. Warum also gerade den Iraker angreifen? Zudem meinten politische Entscheider, dass sich der Despot bereits gemäßigt habe, und verlangten eine Aufhebung der gegen den Irak Jahre zuvor verhängten Wirtschaftssanktionen.[15] Dass der amerikanische Präsident Gorge W. Bush die left-overs des von seinem Vaters Gorge Bush geführten Irak-Krieges „desert storm“ erledigen wollte, mochte eine interessante Spekulation sein, Legitimität lieferte sie nicht. George Bush sr. war bei der Mission zur Befreiung Kuweits von der irakischen Besatzung aus gutem Grunde an der irakischen Grenze stehen geblieben.

Als nach begonnenem Angriff immer deutlicher wurde, dass keine Massenvernichtungswaffen zu finden seien, änderten die USA die Legitimationsfigur. Plötzlich ging es um „regime change“ wegen der Menschenrechtslage. Viele führende Leute in der Bush-Administration hatten bereits Jahre zuvor in einem neokonservativen Memorandum Präsident Bill Clinton aufgefordert, den Irak anzugreifen und waren abgeblitzt. Statt ethischer Legitimität beanspruchte diese Politik die durch nichts ausgewiesene Vision, den gesamten Nahen und Mittleren Osten durch den militärischen Kampf gegen den zentralen Despoten Saddam Hussein im westlichen Sinne demokratisieren zu können.[16]

Zudem spielte der Irak für die USA eine zentrale Rolle beim Anti-Terror-Kampf. Die Operation in Afghanistan galt offiziell als Phase eins. Die Phase zwei war der Angriff auf den Irak. Dabei gab es kein triftiges Indiz dafür, dass der arabisch-nationalistische Führer Saddam Hussein den islamistischen Fundamentalismus unterstützte.  Doch weil sie keine Waffen gegen den eigentlichen Feind, die Terroristen, hatten, schufen sich die USA einen Feind, gegen den sie Waffen besaßen. Aus dem asymmetrischen Kampf gegen den Terror, der allein militärisch nicht zu gewinnen war, machten sie einen symmetrischen Staatenkrieg, aus dem sie meinten, als Sieger hervorgehen zu können. Legitim war dies nicht.

War es effizient? Als George W.  Bush den Sieg verkündete, hatte er den Krieg gewonnen, aber den Frieden verloren. Bagdad war eingenommen, der Diktator gestürzt. Doch dann entwickelte sich genau das Desaster, vor dem Kritiker ex ante gewarnt hatten: die Despotie wandelte sich nicht zur Demokratie, es entstanden Chaos und Anarchie. „Regime change“ führte zum „failed state“. Der Staat zerlegte sich in seine drei ethnisch-religiösen Entitäten der Sunniten, Schiiten und Kurden, die heftige Machtkämpfe ausfochten.

Auch regionalpolitisch und im Antiterrorkampf war der „Sieg“ ein Desaster. Die Schiiten im Irak gewannen an Gewicht. Der Irak fiel als Gegengewicht zum schiitischen Iran aus, der seine Aggressivität nun auf Israel konzentrieren konnte. Als Gegengewicht wurde nun Saudi-Arabien umworben, aus dessen wahhabitisch-reaktionären Kreisen sich der Al-Qaida-Terrorismus gebildet hatte. Kurden sahen endlich die Chance auf einen eigenen Staat, was zu bewaffneten Grenzaktionen seitens der Türkei führte. Aus Afghanistan waren militärische, finanzielle und politische Kräfte abgezogen worden, um das Irak-Abenteuer zu bestehen und fehlten nun dort. Die VN standen geschwächt da; ihr Konzept der „responsibility to protect“ war desavouiert, nachdem die USA es zur Begründung ihres Einmarsches missbraucht hatten. Unmenschliche Behandlung und Folter von Gefangenen zerstörten den moralischen Anspruch der USA völlig. In der arabischen Welt radikalisierten sich nicht nur männliche Jugendliche. Das Unbehagen am Westen steigerte sich in Hass, der weitere Terroranschläge nach sich zog.

Auch war der Krieg nicht vorbei; er wandelte seinen Charakter vom symmetrischen Staatenkrieg zum asymmetrischen Guerillakrieg. Massenhaft radikalisierten sich Saddams Getreue und bildeten der Kern eines neuen gefährlichen Terrornetzwerkes, den „Islamischen Staat (IS)“. Die USA hatten einen Terrorismus von „Gotteskriegern“ erschaffen, den es zuvor nicht gab. Dieser sickerte in die gesamte euro-arabische Welt ein, beging einen Völkermord an den Jesiden und wurde zur offensiven Bürgerkriegspartei in Syrien. Seine Aktionen und der westliche Kampf dagegen produzierten Flüchtlingsströme, auch nach Deutschland, die zu größten innenpolitischen Friktionen führten.

Der Irak-Krieg war illegal, illegitim, ineffizient. Zur Rechenschaft gezogen wurde niemand.[17]

 

Fazit und Ausblick

 Die Beispiele haben gezeigt, dass die begriffliche Triangulation einen Erkenntnisgewinn und eine systematischere Entscheidungsfindung befördern kann. Sie macht politische Entscheidungen nicht einfacher, kann aber die intersubjektive Verständigung erleichtern. Sie hilft zudem, Missverständnisse zu vermeiden. So kann etwa aus dem schlechten Ausgang einer Intervention wegen mangelnder Effizienz nicht zurückgeschlossen werden auf die Legalität ihres Beginns. Vorhandene Legalität und Legitimität garantieren noch keine Effizienz. Legalität und Legitimität können in Widerspruch geraten. Im Verlauf eines Prozesses können anfängliche Legalität und Legitimität ganz oder teilweise verloren gehen; dieses bedeutet aber nicht, dass sie anfangs nicht gegeben waren. Und für manches gibt es absolut keine gute Begründung; das „nationale Interesse“ steht blamiert da.

In Deutschland gab es institutionalisierte Bemühungen, ex post den Kosovo- und den Afghanistankrieg aufzuarbeiten – beide verliefen erschreckend defizitär. Zum einen versuchte die Partei Bündnis 90/Die Grünen zu ermitteln, ob die für die Partei schmerzlichen Entscheidungen im Kosovokrieg „richtig“ waren. Der Versuch wurde zum Paradebeispiel dafür, wie es nicht laufen darf. Randfiguren der damaligen Entscheidungsfindung konstituierten sich als eine Art Jury. Die Hauptakteure, die in Regierung und Bundestag über nicht allgemein zugängliches Hintergrundwissen verfügt hatten, die Wirkung der Entscheidungsalternativen intensiv abgewogen, die Entscheidungen vorstrukturiert und letztlich implementiert hatten, wurde nicht einmal angehört.

Nicht viel besser agierte der Bundestagsuntersuchungsausschuss, der die Verantwortlichkeiten für den desaströsen Abzug aus Afghanistan herausarbeiten sollte. Er befasste sich in der Hauptsache kleinteilig mit den Entwicklungen der letzten Jahre. Trotz intensiver Interventionen von außen, die Entscheidungen zu Beginn von OEF und ISAF einzubeziehen, kam es nur zu kurzen Befragungen der damals verantwortlichen Minister. Damit wurde das Thema extrem weit verfehlt. Denn es hätte sich herausgestellt, dass nicht allein Steuerungsprobleme in der Wirrnis der finalen Phase für das Desaster verantwortlich waren, sondern politische Fehlentscheidungen etwa 15 Jahre zuvor. Der Abzug amerikanischer Ressourcen aus Afghanistan, um einen unsinnigen Krieg im Irak zu beginnen, hätte das Signal zum verhandelten und gesichtswahrenden Exit sein müssen, zumal nach der Vertreibung der Taliban eine reguläre Regierung ins Amt gekommen war.

Die jüngste Geschichte beschert uns die Rückkehr des Staatenkrieges mit Angreifer und Verteidiger, die wir zumindest in Europa für überwunden hielten. Hier stellt sich die Frage nach einer Intervention ebenfalls, nur dass es nicht um ein eigenes bewaffnetes Eingreifen im Kriegsgebiet geht, sondern um politische, finanzielle, humanitäre, aber auch militärische Hilfe von außen. Auch in diesem Fall erweisen sich die drei Begriffe als nützlich: Der russische Überfall auf die Ukraine war völkerrechtlich illegal. Legitimität beansprucht Russland wegen der als bedrohlich empfundenen Nato-Erweiterungsstrategie[18] und der Behandlung der russischsprachigen Bevölkerungsgruppe im Osten der Ukraine durch die Zentralregierung. Der Westen weist diese Begründungen zurück und wirft Moskau großrussischen Imperialismus vor. Ein Völkermord wie einst im Kosovo drohte jedenfalls in der Ost-Ukraine nicht; ein derartiger Vergleich ist abwegig. Zu Beginn war der russische Überfall ineffizient. Danach entwickelte er Effizienz im Bemühen, Regionen der Ukraine militärisch zu besetzen, die europäische Friedensordnung zu zerstören, die VN-Charta zu torpedieren, nationalistisch-despotische Regimes zu stärken und in Allianzen zu vereinen. Die Selbstverteidigung der Ukraine ist legal und legitim; die Effizienz wird sich zeigen. Die westliche Solidarität mit der Ukraine ist legal und legitim. Die Legitimität schützt den Westen aber nicht vor der Pflicht zur selbstkritischen Überprüfung seiner Erweiterungsstrategie und Einflusszonenpolitik.[19] Der Effizienz scheinen Grenzen gesetzt zu sein, sowohl bei der Bereitstellung von Ressourcen als auch bei der Bildung internationaler Allianzen. Legale und legitime Solidarität schließt nicht aus, permanent nach realistischen Ansatzpunkten für einen Verhandlungsfrieden zu suchen.[20] Sonst könnte die Legitimität der Solidarität Schaden nehmen.

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[1] In mehreren meiner Aufsätze und Essays sowie in meinen Hauptseminaren an der Freien Universität Berlin seit 2006 habe ich die hier explizierte Systematik seit langem ansatzweise eingeführt, weiterentwickelt und diskursiv getestet, schriftlich zum ersten Mal in Volmer 2009a, S. 87 ff. Eine zustimmende Bewertung der Methodik durch Prof. Hans-Joachim Giessmann von der Berghof-Stiftung im Zusammenhang mit der Aufarbeitung des Abzugs aus Afghanistan hat mich nun veranlasst, das Gedankengebilde zusammenfassend aufzuschreiben.

[2] Volmer 1998, S. 566ff; 572 ff. Hier wird zum ersten Mal das Konzept des „Politischen Pazifismus“ skizziert, dessen Axiome auch diesem Text zugrunde liegen.

[3] Dabei wird auf Nachweise und Literaturbezüge weitgehend verzichtet. Die Vorgänge sind bekannt sowie gut dokumentiert und wissenschaftlich aufgearbeitet. Der Autor erlaubt sich lediglich die Hinweise auf einige seiner eigenen Schriften zum Thema, die der Illustration dienen können.

[4] Beispiel: Eine Studentin des Autors zog in einer Hausarbeit zur Beurteilung des Nato-Einsatzes im Kosovo 1999 einen der historischen Kataloge zum „gerechten Krieg“ heran, in dem neben vielen anderen auch das Kriterium der „Gleichheit der Waffen“ auftauchte, und verurteilte die Intervention als „ungerecht“. Denn die Nato setzte die Luftwaffe und keine Bodentruppen ein. So geht es sicherlich nicht:  eins von vielleicht zehn Elementen geht nicht auf und schon stimmt die gesamte Gleichung nicht. Im Umkehrschluss hätte dies bedeutet, dass die Intervention, die von der (russischen) Studentin persönlich ausdrücklich abgelehnt wurde, beim Einsatz von Bodentruppen „gerecht“ gewesen wäre.

[5] Die beispielhaft ausgewählten Konflikte fanden alle zur Zeit der rot-grünen Regierung von 1998 bis 2005 statt. Bundeskanzler war Gerhard Schröder, Verteidigungsminister zunächst Rudolf Scharping, dann Peter Struck (alle SPD); Außenminister war Joschka Fischer, der Autor (beide Grüne) war als Staatsminister im Auswärtigen Amt und MdB an allen Entscheidungen beteiligt. Die führenden Personen der CDU/CSU-Opposition waren in wechselnden Funktionen Angela Merkel und Wolfgang Schäuble. Zeitlich vor den ausgewählten Beispielen gab es bereits Bundestagsentscheidungen über militärische Beiträge, etwa Blauhelmeinsätze nach Kapitel VI der VN-Charta. Die hier diskutierten Fälle allerdings führten zu den entscheidenden und richtungsweisenden Weichenstellungen der deutschen Politik.

[6] Die Entscheidung fand in einem „Interregnum“ statt. Bei der Bundestagswahl kurz zuvor hatten SPD und Grüne gemeinsam eine Mehrheit gewonnen, Gerhard Schröder war als neuer Kanzler designiert, aber noch nicht im Amt und der Bundestag noch nicht neu konstituiert. Es galt also noch die alte Mehrheit mit Kanzler Helmut Kohl. Ob in der neuen Mehrheit die Abstimmung ähnlich ausgefallen wäre, bleibt Spekulation. Es gab bei den Grünen zahlreiche Nein-Stimmen und Enthaltungen.

[7] Der Resolutionsentwurf erhielt auf der 3989. Sitzung des Sicherheitsrats am 26. März 1999 3 Ja-Stimmen (China, Namibia und Russische Föderation) und 12 Nein-Stimmen (Argentinien, Bahrain, Brasilien, Frankreich, Gabun, Gambia, Kanada, Malaysia, Niederlande, Slowenien, Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland und Vereinigte Staaten von Amerika), bei keiner Stimmenthaltung, und wurde nicht verabschiedet, da er nicht die erforderliche Stimmenzahl auf sich vereinigen konnte.

[8] Bundesverfassungsgericht, Beschluss des Zweiten Senats vom 25. März 1999 – 2 BvE 5/99.

[9] VN-Generalversammlung, Resolution 60/1. Verabschiedet auf der 8. Plenarsitzung am 16. September 2005.

[10] Vgl. zur Illustration der deutschen Debatte: Volmer 2009a, S. 85-92, 2009b, S.386-402, 2012, 2013, S.94-119.

[11] SR-Resolution 1368 vom 12.09.2001 und 1373 vom 28.09.2001.

[12] Vgl. zur Illustration der deutschen Debatte: Volmer 2001, 2009b, S. 403-420, 2013, S. 120-136, 2021a, S. 46-51.

[13] SR-Resolution 1441 vom 08.11.2002.

[14] Der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU allerdings behauptete als Ergebnis der geheimen Sitzung der Presse gegenüber, die „smoking gun“ sei gefunden worden. Die CDU/CSU tat wie der größte Teil der Medien in dieser Zeit alles, um der rot-grünen Regierung Antiamerikanismus und den Marsch in die Isolation vorzuwerfen. Die deutsche Verständigung mit Frankreich, das den Krieg ebenfalls ablehnte, wurde – trotz deutsch-französischer Freundschaft – als „Achsenbildung“ denunziert. Die CDU selbst trat mehr oder weniger offen für eine deutsche Kriegsbeteiligung ein. Angela Merkel plädierte für den Schulterschluss mit den USA. Faktisch wird nur die Regierungspolitik nach dem Kriterium der Legitimität beurteilt, nicht aber die Oppositionsrede. Entschuldigt haben sich Union und deutsche Medien wegen ihrer Fehlleistung später nicht (anders als die New York Times).

[15] z.B. der entwicklungspolitische Ausschuss des Dt. Bundestages unter Vorsitz eines CSU-Abgeordneten.

[16] http://www.newamericancentury.org/lettersttements.htm: Letter to President Clinton on Iraq, January26, 1998; Letter to President Bush on the War on Terrorism, September 20, 2001.

[17] Vgl. zur Illustration der deutschen Debatte: Volmer 2003, 2009b, S. 403-420, 2013, S.137-159.

[18] Vgl. zur Illustration der deutschen Debatte: Volmer 1997a, 1997b

[19] Vgl. zur Illustration der deutschen Debatte: Volmer 2016

[20] Ein fehlgeschlagener Versuch kurz vor Kriegsbeginn findet sich hier: Volmer 2021b

 

Literatur

 Volmer, Ludger  (Beschränkung auf eigene Beträge)

(alle online-Verweise abgerufen am 21.08.2024)

­­1997a, Gemeinsame Sicherheit für das 21. Jahrhundert statt Nato-Erweiterung, online: https://ludger-volmer.de/gemeinsame-sicherheit-fuer-das-21-jahrhundert, nachgedruckt in: WeltTrends, Nr. 189, Juli 2022, S. 44-50,

1997b, Rede vor dem Deutschen Bundestag zur Nato-Ost-Erweiterung, BT-Plenar-Protokoll 13/184 vom 26. Juni 97. Online: https://ludger-volmer.de/nato-osterweiterung-neue-risse-in-europa

1998, Die Grünen und die Außenpolitik – ein schwieriges Verhältnis, Münster, S. 564ff; 572ff.

2001, Der Bündnisfall – Terrorangriff auf die USA, internes policy-paper, nur online: https://ludger-volmer.de/der-buendnisfall-terrorangriff-auf-die-usa

 2003, Bundestagsrede zur Regierungserklärung zum Irak-Krieg, BT-Plenar-Protokoll 15/25 vom 13. Februar 2003, online: https://ludger-volmer.de/plaedoyer-gegen-den-irak-krieg-bundestagsrede

2009a, Der notwendige Krieg, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 3/2009, S. 85-92 (Den Titel hat die Redaktion eigenmächtig gesetzt.); online: Der Kosovo-Krieg – Erbe eines Politikversagens: https://ludger-volmer.de/der-kosovo-krieg-erbe

2009b, Die Grünen. Von der Protestbewegung zur etablierten Partei – Eine Bilanz, München (darin die Kapitel: 24. Zerreißprobe Kosovokrieg, S. 386-402, 25. Terror – Afghanistan und Irak, S. 403-420).

2012, Politischer Pazifismus und Zivilmacht, deutsche Übersetzung von: Pacifisme politique: l‘Allemagne comme puissance civile, in: Allemagne d’aujourd’hui, No 202, Oktober-Dezember 2012, online: https://ludger-volmer.de/politischer-pazifismus-und-zivilmacht

2013, Kriegsgeschrei und die Tücken der deutschen Außenpolitik, Wien-Berlin-München (darin die Kapitel: 7. Ostern, als die Bomben fielen – zum Kosovokrieg, S. 94-119, 8. Aus Wüstencamps gegen Wolkenkratzer – zu den Afghanistaneinsätzen, S. 120-136, 9. Achsenbruch im Wüstensturm – zum Irakkrieg, S. 137-159).

2016, Siegen oder Frieden? Online: https://ludger-volmer.de/siegen-oder-frieden-offener-brief-an-die-gruenen

2021a, Lehren aus dem Afghanistaneinsatz, in: WeltTrends, Nr. 177, S. 46-51; online: https://ludger-volmer.de/abzug-aus-afghanistan-was-lernen-wir-aus-den-einsaetzen

2021b, Verhandlungsfrieden für die Ukraine – ein Versuch, online: https://ludger-volmer.de/verhandlungsfrieden-fuer-die-ukraine-ein-versuch

 

Literatur

Volmer, Ludger

(Beschränkung auf eigene Beträge. Alle online-Verweise abgerufen am 21.08.2024)

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