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(am 25.09.2001 skizzierte ich als Staatsminister für die grüne Bundestagsfraktion den bündnispolitischen und völkerrechtlichen Rahmen für Handlungsoptionen der Bundesregierung nach dem Terrorangriff vom 11.09.2001 auf die USA; bisher unveröffentlicht, hier leicht redigiert)

Bereits wenige Stunden nach den Angriffen auf die USA hat der Bundessicherheitsrat den Bündnisfall festgestellt. Dies war zunächst eine rein politische Verortung. Sie sollte den USA die Solidarität der Bundesrepublik signalisieren. In seiner schwersten Stunde musste Amerika sich sicher sein können, dass die europäischen Verbündeten an seiner Seite stehen. Mit demselben Tenor hat am nächsten Mittag die EU-Außenministerkonferenz getagt. Allen war bewusst, dass sich in dieser Situation das transatlantische Bündnis bewähren musste – oder aber es würde zerfallen. Es war nicht nur eine moralische Pflicht, Solidarität zu bezeugen, sondern lag auch im europäischen Interesse. Ein Amerika, im Stich gelassen, hätte vielleicht weniger besonnen reagiert; auch hätte es sich aus Europa zurückgezogen. Wir Europäer – und Deutschland weit vorn – müssten unsere Probleme allein lösen, von den Balkankonflikten bis zur Verteidigung gegen den internationalen Terrorismus. (Dass die USA am 07. Oktober militärisch gegen Afghanistan vorgehen würden, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar; die Bundesregierung hoffte noch auf eine weniger massive, gezieltere Reaktion, LV 3.1.2021)

Am frühen Mittwochnachmittag haben die USA die NATO-Mitgliedstaaten gebeten, den Bündnisfall nach Artikel 5 des NATO-Vertrages zu erklären. Der Artikel 5 tritt dann in Kraft, wenn ein NATO-Mitgliedstaat von außen bewaffnet angegriffen worden ist. Er löst die Verpflichtung der anderen NATO-Partner aus, dem angegriffenen Staat beizustehen. Der NATO-Rat – die Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten – haben dem Begehren der USA per Prüfauftrag zugestimmt. Ob die notwendigen Voraussetzungen für den Art.5 tatsächlich gegeben sind – ein bewaffneter Angriff, von außen gesteuert – wird der NATO-Rat in einem eigenen Feststellungsbeschluss noch zu verifizieren haben. Erst wenn dieser gefällt sein wird, ist der Artikel 5-Fall aktiviert.

Am selben Abend haben die USA den UNO-Sicherheitsrat angerufen. Dieser hat einstimmig festgestellt, dass es sich bei den Attacken um einen bewaffneten Angriff von außen handelt. Damit sind die USA völkerrechtlich legitimiert, auf der Basis von Artikel 51 der UNO-Charta sich – allein oder kollektiv – zu verteidigen. Es geht also nicht um Rache oder Vergeltung, sondern um Verteidigung. Zugleich hat die UNO den Angriff als Gefährdung des Weltfriedens und der internationalen Stabilität eingestuft. Damit ist jedes UNO-Mitglied berechtigt und verpflichtet, einen Beitrag zur Abwendung der Gefahr zu leisten. Die UNO hat diese Aussage präzisiert, indem sie alle Staaten der Welt aufforderte, die Täter, ihre Unterstützer und Finanziers zur Rechenschaft zu ziehen. Diese Bestimmung richtet sich ausdrücklich auch gegen diejenigen Staaten, die diese Gruppe unterstützen oder beherbergen. (Dem Begriff der Beherbergung kommt hier die entscheidende Bedeutung zu. LV 3.1.2021) Die UNO-Resolution ist in ihrer Sprache erheblich deutlicher als der NATO-Ratsbeschluss. Sie setzt wegen ihrer Präzision einen neuen völkerrechtlichen Standard. Sie muss als dringende Aufforderung an alle Staaten – einschließlich der Bundesrepublik – verstanden werden, einen aktiven Beitrag zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus zu leisten.

Das kollektive Selbstverteidigungsrecht der USA findet seine Entsprechung im Artikel 5 des NATO-Vertrages. Die dort vereinbarte Bündnisverpflichtung bindet alle NATO-Partner, legt sie aber nicht auf bestimmte Aktivitäten fest. Jeder einzelne Partner kann auf der Basis seiner eigenen Kapazitäten und verfassungsrechtlichen Voraussetzungen seinen Beitrag selbst definieren. Dies wurde auf Vorschlag einiger Partner noch einmal ausdrücklich in einer Notiz festgehalten. Auch auf deutsches Betreiben hin wurde die Verpflichtungsformel, nach der „any means“ (jedwedes Mittel) bereitgestellt werden müsste, ersetzt durch die Formel, „the means“ (die Mittel), d.h. es wird eine genaue Beratung der geeigneten Maßnahmen geben müssen. In der Praxis geschieht dies auf der Basis von Anforderungen, die vom NATO-Rat im Rahmen einer Gesamtkonzeption formuliert werden. Daraus abgeleitet wird es die Anfrage an die Bundesregierung geben, welchen Beitrag sie anbieten könne. Auf einer solchen Basis würde auch die Bundesregierung einen Beschluss über eine deutsche Beteiligung fassen. Wenn dieser Beschluss einen Einsatz der Bundeswehr beinhaltet, ist es verfassungsrechtlich geboten, ihn dem Deutschen Bundestag zur konstitutiven Befassung vorzulegen. Das Parlament kann den Antrag akzeptieren oder ablehnen, es kann ihn aber nicht modifizieren oder durch einen eigenen Antrag die Regierung binden. Bis heute, den 25. September 2001, haben die USA noch kein Unterstützungsersuchen an die anderen NATO-Partner gerichtet. Dementsprechend hat der NATO-Rat Deutschland noch nicht um einen Beitrag gebeten.

Für die Grünen bedeutet der politisch-rechtliche Rahmen folgendes: als Koalitionspartei im Bund sind wir in die Bündnisverpflichtung eingebunden. Die Koalition sind wir im vollen Bewusstsein eingegangen, dass wir die NATO-Mitgliedschaft Deutschlands akzeptieren. Die Frage ist also nur, welche Freiheitsgrade wir innerhalb der nun anstehenden Entscheidungsprozesse haben. Wie diese genutzt werden können, ist keine rechtliche, sondern eine politische Frage. Was kann der Außenminister leisten, welchen Einfluss hat die Fraktion, welchen der Koalitionsausschuss? Eine Diskussion darüber scheint mir legitim. Ein Vorratsbeschluss aber, der prinzipiell jedes militärische Mittel ausschließt, bricht mit dem NATO-Vertrag und zwangsläufig auch mit der Koalition. Meine Meinung dazu: Lieber mit unseren Stimmen die richtige Mission mittragen als zulassen, dass eine Große Koalition eine falsche beschließt.

(Nach der Beistandsanfrage der USA präsentierte das Verteidigungsministerium eine breite Palette von denkbaren militärischen Instrumenten zur Teilnahme an der „Operation Enduring freedom“. Außenminister Joschka Fischer und ich berieten diese und reduzierten den deutschen Beitrag auf die bekannten Elemente, die dann von Regierung und Parlament beschlossen wurden. LV 3.1.2021)