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(Am 16. Oktober 1998 traf der Deutsche Bundestag die „konstitutive Entscheidung“ über eine deutsche Beteiligung an einem Militäreinsatz im Kosovo, auch ohne UNO-Mandat. Der Kosovo war völkerrechtlich noch Teil Serbiens. Dieses aber hatte begonnen, die kosovo-albanische Bevölkerung zu schikanieren und zu vertreiben. Es drohte eine humanitäre Katastrophe (Völkermord). Die Debatte fand im „Interregnum“ statt, d.h. es war ein neuer Bundestag mit rot-grüner Mehrheit gewählt, aber noch nicht offiziell konstituiert. So trat noch der alte Bundestag mit der schwarz-gelben Mehrheit zusammen und stimmte über einen Antrag ab, den die alte Bundesregierung vorgelegt hatte. Wie später herauskam, hatten sich die Vorleute der alten (Bundeskanzler Helmut Kohl/CDUCSU, Außenminister Klaus Kinkel/FDP) und der zukünftigen Regierung (Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine/SPD, Joschka Fischer/Grüne) ohne Kenntnis der Fraktionen darauf geeinigt. Weitere parlamentarische Entscheidungen gab es nicht mehr. Alle Redner plädierten für einen eventuellen Militäreinsatz. Ich hielt die einzige Gegenrede und plädierte für Enthaltung: PlPr.13/248)

 

Der Deutsche Bundestag befindet sich in einem Entscheidungsdilemma. Er befindet sich im Widerspruch zwischen der Legitimität und der Legalität eines Militäreinsatzes. Es kann keinen Zweifel darin geben, dass es überfällig war, den boshaftesten Despoten in Europa, der Krieg gegen sein eigenes Staatsvolk führt, es entwurzelt, in die Wälder treibt und ermorden lässt, in seine Schranken zu verweisen, um eine humanitäre Katastrophe noch größeren Ausmaßes zu verhindern. Es kann aber auch nicht bezweifelt werden, dass die notwendige völkerrechtliche Grundlage für ein Eingreifen der NATO nicht gegeben ist. Das Fehlen eines Sicherheitsratsbeschlusses kann nicht durch andere Rechtskonstruktionen aufgewogen werden.

Mein Respekt gilt allen, insbesondere den Kolleginnen und Kollegen der eigenen Fraktion, die sich ihre Entscheidung im Spannungsverhältnis von Völkerrecht und Bündnissolidarität nicht leichtgemacht haben und aus humanitären Motiven dem Einsatz nun zustimmen. Denselben Respekt aber verlange ich für diejenigen, die dem Antrag der Bundesregierung nicht zustimmen werden, weil sie in der Umgehung des Völkerrechts einen gefährlichen Präzedenzfall sehen, der mittelfristig mehr Schaden anrichten kann, als er kurzfristig Probleme löst.

Machen wir uns nichts vor: Die Argumentation, es handele sich um eine Ausnahme und nicht um einen Präzedenzfall, ist Augenwischerei. Jede beliebige Regionalmacht, die in Zukunft in ihrer Nachbarschaft Ordnung schaffen will und nur eine halbwegs zutreffende UNO-Resolution anführen kann, wird auf das Beispiel verweisen. Der Selbstmandatierung von Militärbündnissen ist Tür und Tor geöffnet; ein Sicherheitsrat, der immer dann umgangen wird, wenn ein Veto droht, ist als Garant des UNO-Gewaltmonopols außer Kraft gesetzt. Es ist ja kein Geheimnis, dass eine solche Entwicklung gerade dort Anhänger hat, wo die Verfügung über mächtige Militärapparate Anlass zu der Überlegung gibt, ob man denn die Macht mit zahlreichen anderen ärmeren, schwächeren Ländern im Rahmen internationaler Organisation teilen soll, wenn man stark genug ist, den eigenen Willen jederzeit überall durchsetzen zu können. Ich selbst gehöre zu denen, die dem Antrag nicht zustimmen werden, weil sie daran glauben, dass das Recht des Stärkeren auch international durch die Stärke des Rechts ersetzt werden muss. Nur eine Verdichtung und Verbreiterung des Völkerrechts, nur die Stärkung des UNO-Gewaltmonopols durch entsprechende Mandate und Ressourcen wird dazu beitragen, nicht seine Aushöhlung.

Nun wenden einige ein, dass das Recht auf dem Balkan nach Lage der Dinge nur durch Waffen erzwungen werden könne. Nicht allen, die das formulieren, nehme ich die Ernsthaftigkeit des Arguments ab. Warum sind denn auch von NATO-Staaten die Sanktionen gegen Milosevic unterlaufen worden? Warum wurde der jugoslawischen Fluggesellschaft so spät und unvollständig das Landerecht entzogen? Ich kann nicht begreifen, wie jemand einen Kampfauftrag für die NATO ohne UNO-Mandat befürwortet, der nicht einmal bereit war, Jugoslawien die Teilnahme an der Fußballweltmeisterschaft zu verwehren. Alle Fachleute sind sich einig, dass eine solch scheinbar läppische Maßnahme für den größenwahnsinnigen Diktator eine empfindlichere Schmach gewesen wäre, die ihm eher die Sympathie seiner Bevölkerung entzogen hätte, als die geplanten Bombardierungen.

Zu erinnern ist auch daran, dass die bündnisgrüne Bundestagsgruppe bereits 1991 in einem Antrag auf die Gefährlichkeit der Situation im Kosovo hingewiesen hat. Anlässlich des Dayton-Abkommens (zur Beendigung des Bosnien-Konflikts) forderten wir, den Kosovo-Konflikt mitzulösen. Das hielt man aber nicht für nötig. Wenn heute über Militäreinsätze entschieden wird, dann sollen das diejenigen verantworten, die unsere frühen Mahnungen nicht ernst genommen haben, schlimmer noch, die der Kosovo nur unter der Fragestellung interessierte, wie sie die Kosovo-Flüchtlinge wieder zurückschicken könnten.

Wir diskutieren heute unter dem Eindruck der Verhandlungserfolge. (Gemeint ist der Vertrag, den der amerikanische Unterhändler Holbrooke unter der Nato-Androhung von Luftschlägen mit Milosevic geschlossen hat. Er bannte die unmittelbare Kriegsgefahr.) Diese Erfolge sind ausdrücklich zu begrüßen. Es wird die Aufgabe der kommenden Regierung sein, sie zu untermauern. Aber man kann nicht sagen: Ende gut, alles gut. Erstens ist der Konflikt nicht zu Ende, und zweitens hat mir niemand die Frage beantworten können, was denn nach den ersten Bombardements gekommen wäre. Eine Invasion mit Bodentruppen? Ein Krieg, der die gesamte Region erfasst hätte? Ein Wiedererstarken von Milosevic und die totale Unterdrückung der Opposition? Eine gestärkte UCK, die nun ihrerseits Terror verbreitet? Das Dilemma jeder Abschreckungspolitik besteht darin, ein Übel anzudrohen, das schlimmer ist als das aktuelle, und den festen Willen zu haben, es auch eintreten zu lassen. Es scheint, als seien wir noch einmal davongekommen; aber wir waren nahe dran.

Um so wichtiger ist es in der Zukunft, in der internationalen Politik alles zu tun, was solche Zuspitzungenunterbinden kann. Dies ist auch der Grund, warum wir Grünen uns an dieser Frage nicht zerstreiten werden; denn wir sind uns einig, dass auch in der deutschen Politik Mechanismen gestärkt werden müssen, die bereits bei der Konfliktentstehung ansetzen: Frühwarnsysteme und eine Verstärkung krisenpräventiver Maßnahmen, wie die OSZE sie anbietet. Solange diese Mittel nicht ausprobiert und ausgereizt werden, wird ein Militäreinsatz bei uns immer auf wenig Verständnis stoßen. Das ist der Grundsatz grüner Außenpolitik. Wir freuen uns darauf, diese Elemente der Konfliktprävention und Konfliktbeilegung mit friedlichen Mitteln in einer neuen Regierung weiterentwickeln zu können mit einem Außenminister Fischer, der dafür meine und die volle Unterstützung unserer Fraktion haben wird.

 

(Nach Beginn des Kosovo-Krieges kritisierte ein Vertreter der Linkspartei heftig die Grünen wegen ihrer Zustimmung ohne UNO-Mandat. Zwischenzeitlich aber hatte auf grüne Initiative im Auswärtigen Amt hin der Friedenskongress von Rambouillet stattgefunden. Er war ausschließlich an der starren Haltung Serbiens gescheitert. Die völkermörderischen Vertreibungen gingen weiter. So kam es zum Militäreinsatz, den auch Kritiker wie ich aus Gründen ethischer Legitimität mittrugen. Die Linkspartei hatte das Völkerrechtsargument nur vorgeschoben. Sie hätte auch bei Vorliegen eines UNO-Mandates nicht zugestimmt. In der Bundestagsdebatte vom 5. Mai 1999 antwortete ich spontan in einer „Kurzintervention“ auf den Redner der Linkspartei. PlPr. 14/38)

 

Der Vorredner hat gerade einige Äußerungen angesprochen, die die Kollegin Beer und ich in der Vergangenheit zur völkerrechtlichen Grundlage eines eventuellen militärischen Einsatzes der NATO gemacht haben. Dazu möchte ich folgendes ausführen, Herr Kollege Wolf. Niemand bestreitet, dass es richtig war, danach zu fragen, ob es für eine eventuelle militärische Aktion eine ausreichende völkerrechtliche Grundlage gibt. Diese Diskussion ist bis heute strittig geführt; es gibt sehr unterschiedliche Meinungen dazu. Auch die Völkerrechtler und Verfassungsrechtler mögen dazu weiterhin unterschiedlicher Meinung sein.

Ich möchte von Ihnen nur eine Antwort haben, die Sie und Ihre Fraktion bis heute nicht gegeben haben. Alle, aber auch wirklich alle Versuche sind von dieser Bundesregierung unternommen worden, auf dem Verhandlungswege zu einer friedlichen Lösung zu kommen und den beginnenden Völkermord zu stoppen. Wie gehen Sie damit um, dass in dieser bestimmten historischen Situation nicht nur diese Regierung, sondern das gesamte Parlament und jeder einzelne in das Entscheidungsdilemma geraten ist, zwischen völkerrechtlicher Legalität und moralischer Legitimität und Verpflichtung, dort einzugreifen, abwägen zu müssen? Ich nehme jedem, der anderer Meinung ist als ich selbst, die Ernsthaftigkeit seiner Entscheidung ab, wenn ich erkennen kann, dass er sich diesem Dilemma zwischen Legalität und Legitimität wirklich ausgesetzt hat. Das kann ich bei Ihnen und bei Ihrer gesamten Fraktion nicht erkennen. Wie Bundesminister Fischer in der letzten Debatte zu Recht dargestellt hat, betätigen Sie sich als Weißwäscher von Milosevics Politik, weil Sie nicht bereit sind zu beschreiben, welche Gräueltaten im Kosovo stattfinden.

Den Krieg hat nicht die NATO begonnen; den Krieg hat ein Despot gegen einen Teil seines eigenen Staatsvolks angezettelt. Genauso, wie wir beschreiben können, dass ein Militäreinsatz ohne Zustimmung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen einen völkerrechtlichen Mangel aufweist, genauso können wir sagen, dass das gesamte Völkerrecht eine große Lücke in dem Bereich aufweist, wo es keine Regelungen dafür vorsieht, wie die internationale Gemeinschaft vorgehen kann, wenn in einem innerstaatlichen Konflikt ein Despot einen großen Teil seines eigenen Volkes massakriert.

Daraus kann und muss man ableiten, dass es in bestimmten historischen Situationen eine Art übergesetzlichen Notstand und eine Art Nothilfeverpflichtung gibt. Aus dieser singulären Tatsache kann man nun gerade nicht ableiten, dass dies zum Völkergewohnheitsrecht wird. Von daher ist es richtig, kritisch darauf hinzuweisen, dass es diese völkerrechtlichen Mängel gibt. Ich lasse mir diese Kritik von jedem gefallen, der sich dem Dilemma wirklich aussetzt. Ich lasse sie mir aber nicht von jemandem gefallen, der die Realität verbiegt, nur um sein eigenes Weltbild zu retten.