(als Staatsminister setzte ich mich für eine Neufassung des Vertrages über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) ein, die in Wien unter dem Dach der OSZE verhandelt wurde. Hier ein bisher unveröffentlichtes Policy Paper vom 3. April 1999 für die Bundestagsfraktion der Grünen. Leider trat der Vertrag nie in Kraft, weil er wegen russischer Truppen in Georgien von westlichen Staaten nicht ratifiziert wurde. Er hätte wahrscheinlich die Eskalation, die 2022 zum russischen Überfall auf die Ukraine führte, verhindert.)
Trotz der dramatischen Krise im Kosovo gelang am 30. März 1999 eine wichtige Weichenstellung in der Rüstungskontrollpolitik. Die 30 Vertragsstaaten der KSE, des Vertrages über konventionelle Streitkräfte in Europa, haben in Wien eine Grundsatzentscheidung zur Anpassung des Vertragswerkes an die veränderte sicherheitspolitische Landschaft gefällt. Nachdem der erste KSE-Vertrag noch von zwei sich gegenüberstehenden Militärblöcken ausging, hat die Neufassung das gesamte Vertragsgebiet in einzelne Regionen zerlegt. Damit wird sie dem Ende der Blocklogik ebenso gerecht wie der der Tatsache, dass einige Mittelosteuropäische Staaten – gemessen an den alten Kategorien – die Seite gewechselt haben. Insbesondere den russischen Bedenken angesichts des NATO-Beitritts von Polen, Tschechien und Ungarn wird dadurch Rechnung getragen. Zudem sind an der Südflanke des Vertragsgebietes, insbesondere in der Kaukasusregion neue sicherheitspolitische Fragen entstanden. Es besteht unter den Vertragsstaaten trotz unterschiedlicher Teilinteressen ein beachtlicher Zielkonsens, unserem Kontinent auf dem Weg in das 21.Jahrhundert eine präzedenzlose konventionelle Stabilität zu ermöglichen. Schon jetzt zeichnet sich infolge einer Grundsatzentscheidung der Gemeinsamen Beratungsgruppe (GBG), dem zuständigen KSE-Verhandlungsforum, als Zwischenergebnis ab, dass zukünftig potenziell destabilisierende Streitkräftekonzentrationen noch wirkungsvoller als bisher verhindert werden können. Mit dem Inkrafttreten des neuen KSE-Vertrages, dessen Unterzeichnung anlässlich des OSZE-Gipfels in Istanbul am 18./19.November angestrebt wird, werden die KSE-Vertragsstaaten ihre konventionellen Potentiale wie niemals zuvor offenlegen. Waffenumfänge, Dislozierungen und militärische Aktivitäten aller Art, von dauerhaften Fremdstationierungen bis hin zu vorübergehende Verlegungen, werden dann kaum noch sinnvoll zu steigernden Kontrollen unterworfen. Zugleich wird die bislang geschlossene KSE-Vertragsgemeinschaft geöffnet. Mit weiteren Beitritten von Staaten des Ostseeraums wie auch Südosteuropas wird sich über ganz Europa ein einzigartiges Netzwerk erhöhter konventioneller Stabilität legen.
Im Kern wird diese auf einem neuen doppelten Begrenzungssystem gründen, auf nationalen und territorialen Obergrenzen. Die Vertragsstaaten werden sich zu möglichst abgesenkten nationalen Obergrenzen für die kampfentscheidenden Hauptwaffensystem verpflichten, also für Panzer, gepanzerte Kampffahrzeuge, Artilleriesysteme, Angriffshubschrauber und Kampfflugzeuge. Dabei wird Deutschland seine nationalen Waffenanrechte aus dem derzeitigen KSE-Vertrag durchschnittlich mindestens um 10 Prozent reduzieren. Weitere Reduzierungen der nationalen Obergrenzen sind vorstellbar, insbesondere wenn andere, vor allem Staaten mit großen konventionellen Potentialen, in einem Gemeinschaftswerk des guten Beispiels mitmachen.
Von den erlaubten nationalen Obergrenzen sind bei uns wie bei den anderen Vertragsstaaten die zukünftigen Entscheidungen zu den tatsächlichen Waffenbeständen zu unterscheiden. In ganz Europa zeichnen sich inzwischen weitergehende Absenkungen der Bestände an schweren konventionellen Waffen ab. Indem nationale Obergrenzen nicht voll genutzt werden, wandeln sie sich zunehmend zu einer die reale Abrüstung fördernden Rückversicherung. Angesichts eines gerade für Deutschland durch die NATO-Erweiterung zusätzlich verbesserten Sicherheitsumfeldes werden zukünftig auch die deutschen Waffenbestände teilweise deutlich unterhalb der rechtsverbindlichen nationalen Obergrenzen liegen. Dabei sind neue Anforderungen an zukünftige Einsätze der Bundeswehr bei Friedensmissionen zu berücksichtigen. So sollten die Bestände an gepanzerten Fahrzeugen, die in erster Linie dem Schutz unserer Soldaten dienen, vergleichsweise weniger, die hohen Kampfpanzerbestände deutlich stärker abgebaut werden. Die inzwischen eingesetzte Strukturkommission der Bundeswehr wird sich hiermit nüchtern und bedarfsorientiert befassen müssen.
Der entscheidende Stabilisator des neuen Begrenzungssystems besteht jedoch in einem Netzwerk an territorialen Obergrenzen für bodengebundene schwere Waffensystem, also Panzer, gepanzerte Kampffahrzeuge und Artilleriesysteme. Hierdurch wird im Vergleich zum derzeitigen KSE-Vertrag, der dies nicht in dem Maße gewährleistet, eine Konzentration schwerer Kampfformationen in einem Vertragsstaat erheblich erschwert. Vor dem Hintergrund der erfolgten NATO-Erweiterung liegt hierin eine entscheidende Sicherheitsgarantie insbesondere für Staaten außerhalb des Bündnisses wie zum Beispiel Russland. So wird die zukünftig in Polen dauerhaft erlaubte territoriale Panzerdichte, die dann übrigens niedriger liegt als im benachbarten Weißrussland, die heutigen nationalen Panzeranrechte Polens nicht überschreiten. Im Sinne einer Stabilitätsgarantie kann es zumindest rüstungskontrollpolitisch keine bessere Antwort auf bestimmte russische Sicherheitsbedürfnisse nach der NATO-Erweiterung geben, denn umgekehrt sieht sich Polen weiterhin den sehr viel größeren konventionellen Potentialen Russlands, der Ukraine und Weißrusslands gegenüber.
In einer Zeit, wo überall in Europa die Bedeutung von dauerhaften Fremdstationierungen abnimmt – die NATO beispielsweise hat am 14. März 1997 einen Verzicht auf neue substanzielle dauerhafte Stationierungen von Kampftruppen erklärt – ist die Notwendigkeit gewachsen, Krisenverstärkungen zukünftig klaren Regeln zu unterstellen. Der bisherige KSE-Vertrag sah dies nur in schwachen Ansätzen vor. Der neue Vertrag wird allen Vertragsstaaten oberhalb ihrer territorialen Obergrenzen eine vorübergehende Verstärkung durch ausländische Streitkräfte bis zu einer Brigade ermöglichen. In extremen Bedarfsfällen darf diese Größenordnung zwei Divisionen nicht überschreiten. Außerdem sind dann neben verstärkten Transparenz- und Verifikationsmaßnahmen politische Kontrollmechanismen im OSZE-Rahmen zu nutzen. Selbst unter Berücksichtigung solcher außerordentlichen Verstärkungen würden die nach dem derzeitigen Vertrag in einem Vertragsstaat theoretisch möglichen Streitkräftekonzentrationen bei weitem nicht erreicht.
Im östlichen KSE-Raum gilt zusätzlich eine Flankenregelung. Sie will dem Umstand Rechnung tragen, dass die großen Staaten Ukraine und Russland hohe nationale Obergrenzen haben, somit auch zukünftig über die stärksten konventionellen Potentiale in Europa verfügen können, und zwar weit vor jedem ihrer Nachbarn, d.h. vor allem Moldova, den Kaukasus-Staaten und den Staaten des Ostseeraums. Deshalb wurden die großen Staaten in einzelne Regionen aufgeteilt. In den nördlichen und südlichen Regionen, den Flanken, gilt wie für andere Flankenstaaten, Norwegen und die Türkei, gleichermaßen eine Begrenzung zukünftiger Verstärkungsmöglichkeiten. Diese zusätzlichen Begrenzungen werden sowohl stabilitätskonform sein, wie auch die berechtigten russischen Sicherheitsinteressen im Süden angemessen berücksichtigen.
Für die europäische Sicherheit bleibt der KSE-Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa ein unverzichtbarer Eckstein. Dieses Rüstungskontrollabkommen, ein Erfolgsprojekt der OSZE, ist weder dort aus der Mode gekommen, wo heute der Friede dauerhaft zu herrschen scheint, noch ist er umgekehrt ein Zaubermittel gegen fortbestehende oder aufflammende Krisen. Seine beste Wirkung entfaltet er in einem kooperativen Sicherheitsumfeld. Dann erweist er sich als Multiplikator einer durch vielfältige politische, wirtschaftliche und soziale Faktoren bestimmten Stabilität. In einem spannungsgeladenen Raum kann er militärische Instabilitäten abbremsen helfen und so zur Minderung politischer Spannungsursachen wesentlich beitragen. Ihn als inzwischen verzichtbares Relikt der Schlussphase des Kalten Krieges zu behandeln, wäre also verantwortungslos. Vielmehr wäre ohne ihn eine Modernisierung der Sicherheitskultur und ihre Verbreitung in und außerhalb Europas nicht vorstellbar.