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(angesichts der Kritik zahlreicher „Linker“ an der Politik der gerade gebildeten rot-grünen Koalition schrieb ich diesen Essay, der am 15. Mai 1999 in der Frankfurter Rundschau erschien unter dem Titel „Sie dürfen nicht weniger wollen, als die ganze Welt zu verändern“)

 

Willy Brandt hatte unrecht. Es gibt keine stabile politische Mehrheit links der Mitte in Deutschland. Es gab sie noch nie, und es wird sie nicht geben. Die Revolutionen und Reformen von 1848, 1918 und 1968 verendeten im roll back konservativer Kräfte. Es gibt nur Mehrheiten unter Einschluss oder unter Ausschluss der Linken. Die Angst, der Kompromisslerei bezichtigt zu werden, trieb Linke regelmäßig dazu, sich in der Opposi­tionsrolle gemütlich und deutsch einzurichten. Man pflegte die Meinung und überließ den Rechten die Macht. Eine Linke, die diese Mentalität nicht restlos entsorgt, wird ihre Ne­benrolle als Zaungast der Weltgeschichte nicht mehr loswerden. Nur eine Linke, die sich diesseits der reinen Lehre in die Niederungen der Bündnisbildung begibt, hat faktischen Einfluss und kann verhindern, dass auch der Versuch von 1998 scheitert.

Dies erfordert Zugeständnisse und macht das Regieren nicht leicht. Doch es ist ein My­thos zu glauben, in der Opposition ließe sich heute mehr durchsetzen. Die sozialen Bewe­gungen der 70er und 80er Jahre, die einer grünen Opposition Stärke verliehen, sind ab­geflaut. Machtpolitisch erreichten sie zudem das Gegenteil dessen, was sie wollten. Sie entzogen der Regierung Schmidt die Mehrheit und bekamen Kohl als Alternative. Wenn linke Kritiker heute der Koalition aus SPD und Grünen – sei es aus berechtigter Enttäu­schung, sei es aus meinungsmanischer Besserwisserei – die prinzipielle Unterstützung entziehen, werden sie wie 1983 eine Mitte-Rechts-Regierung an die Macht bringen. Da­mals entsprang aus der Niederlage der SPD immerhin eine grüne Partei, ein neuer Hoff­nungsträger. Heute spekuliert mancher auf die PDS. Doch einer gestärkten PDS würde es ergehen wie linken Sozialdemokraten und Grünen – wirkungslose Opposition oder Arrangieren mit Kräften rechts der Mitte.

Die Linke muss lernen, mit Meinung und Macht anders umzugehen, als es ihr phylogene­tisch zu entsprechen scheint. Sie darf Programme nicht länger zelebrieren, sie muss sie in­vestieren. Eine linke Kraft, die 10% Zustimmung erhält, hat gleichzeitig 90% der Gesell­schaft gegen sich, nicht nur den rechten Radikalismus, den konservativen Mainstream, das alltägliche Vorurteil und die Massenträgheit, sondern auch das große Kapital – ein­schließlich der meisten Medien. Angesichts dieser Übermacht ist es der gesellschaftliche Normalzustand, wenn sich politisch nichts ändert. Doch drängt den linken Meinungsfeti­schismus alles danach, die Erfolglosigkeit gerade derer zu begackern, die den Versuch der Änderung wenigstens wagen. Wenn sie den Tiger reiten sollen, suchen sich viele Linke sofort ein Schoßhündchen.

Die eigentliche Sensation ist unter diesen objektiven und subjektiven Umständen das Ge­lingen auch des kleinsten Reformschrittes. Die Grünen müssen nicht Abschied von ihren Programmen nehmen. Sie dürfen nicht weniger wollen, als die ganze Welt zu verändern. Wenn sie dies praktisch nicht schaffen, hat niemand das Recht, sie auszupfeifen. Es ent­spricht den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen. Es ist keine Niederlage, wenn bei der Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts der Doppelpass nicht bruchlos eingeführt wird, es ist vielmehr ein großer Erfolg, wenn auf langjährigen Druck der Grünen das Blutsrecht aus der Kaiserzeit endlich abgeschafft wird. Es ist keine Niederlage, sondern der gesell­schaftliche Normalzustand, wenn der Ausstieg aus der Wiederaufbereitung und Plutoni­umwirtschaft nicht über einen einfachen Gesetzesakt gelingt; doch es ist ein großer Er­folg der Grünen, wenn nach dreißigjährigem Kampf der Atomaustieg überhaupt als offi­zielle Politik festgeschrieben wird. Es ist keine Niederlage, wenn es noch Rüstungsexpor­te gibt, sondern es ist ein Erfolg der Grünen, wenn auch nur ein einziges Exportbegehren abgelehnt wird, das ohne sie genehmigt worden wäre. Und wenn die Grünen den Koso­vo-Krieg nicht verhindern konnten, beweist das nur, dass sie keine Großmacht sind.

Wenn die Linke scheitert, dann nicht so sehr an der Gesellschaft- diese kann nichts für sich selber- sondern nur an den eigenen moralisierend überzogenen Ansprüchen. Auf der Basis einer klaren Analyse der ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen aber hat sie immer wieder die Chance, bei der Suche nach einem Kompromissgleichgewicht in einer Regierungskoalition Einfluss zu nehmen. Die Suche nach eigener Kenntlichkeit darf sie dabei nicht zum Sektierertum verführen.

Linke haben sich immer als Motor der gesellschaftlichen Entwicklung begriffen. Histo­risch wollten sie die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern, damit sich die Produktivkräf­te besser entfalten könnten. Als Reaktion auf diese längst überholte materialistische Ori­entierung bildete sich seit den 70er Jahren der Postmaterialismus. Doch die ökonomi­schen Krisen der letzten Jahre haben gezeigt, dass eine postmaterielle Lebensform nur auf der Basis einer funktionierenden Ökonomie gedeihen kann. Heute kommt es deshalb dar­auf an, beides zusammenzubringen. Das heißt: links sein und Moderne sind keine Gegen­sätze. Linke modernisieren die Gesellschaft, aber sie modernisieren sie modernisie­rungskritisch. Sie fördern die Produktivkraftentwicklung, aber sie verbinden dieses Ziel mit dem der ökologischen Nachhaltigkeit. Sie stärken die mittelständische Wirtschaft, doch ohne zur Mittelstandspartei zu werden. Sie suchen vielmehr Bündnisse für einen sozial-ökologischen Interessenausgleich zwischen Arbeitnehmern, Arbeitslosen, Familien und den neuen Mittelschichten. Sie treten für eine Gesellschaftspolitik ein, die den heuti­gen Wohlstand nicht auf Kosten der nächsten Generation sichert. Sie definieren Men­schenrechte nicht nur als bürgerliche Freiheitsrechte, sondern auch als soziale Mindest­standards und als Recht auf Entwicklung. Sie kämpfen für die Zivilisierung der Außen­politik, für die Verdichtung des Völkerrechts und die Stärkung der UNO. Sie pflegen den Dialog der Kulturen, innen- und außenpolitisch. Ihre Antwort auf die Globalisierung heißt global governance, internationale Strukturpolitik.

Ein solches Politikangebot kann für unsere Gesellschaft attraktiv sein. Attraktiver jeden­falls als eine fünfte Partei der Mitte. Die Grünen können nur diesen Weg gehen. Im Ge­menge mit vier anderen Mitteparteien würden sie sich bis zur Unkenntlichkeit banalisie­ren. Eine solche grüne Partei bietet der postsozialistischen Linken eine neue Chance. Wenn Grüne dies nicht begreifen, bedeutet dies nur das Ende der Partei. Wenn die Linke das nicht begreift, hat sie historisch ausgespielt.

 

Bonn, 24.1999