(erschienen in „Freitag“, 23. April 1991, vor der Neuwahl des Parteivorstandes am 26. April 1991 bei der Bundesdelegiertenkonferenz in Neumünster. Hier wird m.W. zum ersten Mal das Konzept des sozial-ökologischen New Deals, später: Green New Deal, öffentlich vertreten. Es findet sich ausführlicher beschrieben in einigen Essays über „Ökologie und Ökonomie“ auf dieser Seite. Auf Basis dieser Positionsbestimmung wurde ich zum Partei-Vorsitzenden gewählt.)
Nahezu Konsens für eine Strukturreform. Sehr unterschiedliche Ideen zur politischen Ortsbestimmung der Grünen. Das ist die Lage vor dem Parteitag. Die Konzepte einer „ökologischen Bürgerrechtspartei“ (vertreten durch die Parteiströmungen „Aufbruch“, Ökolibertäre, Realos) und einer „linksökologisch-emanzipatorischen Partei“ (Linkes Forum, kritische Realos, Unabhängige) stehen in Konkurrenz. Die überholten Ideen einer reinen „Bewegungs- und Protestpartei“ spielen nur noch als franselig wehendes Fähnchen eine Rolle, mit dessen fester Umklammerung die RadikalökologInnen auf dem Parteitag unterzugehen beabsichtigen.
Die „ökologische Bürgerrechtspartei“ wurde vom „Aufbruch“ als Patentlösung für die Krise der Grünen entdeckt, als starke Volksbewegungen in den mitteleuropäischen Staaten sich gegen die stalinistischen Herrschaftskartelle durchsetzten. Deren erfreulichen Erfolg und Ruhm nun als Schwungmasse auch für die Westgrünen zu nutzen, war das Projekt derer, denen die Linksorientierung der grünen Partei seit langem missfiel. Der projektive Bezug auf die Bürgerrechtsgruppen schlug ganze Fliegenschwärme mit einer Klappe: die Gruppen schienen zu beweisen, dass die „Linke“ das Böse und der alt-neue Held der Geschichte „das Volk“ sei. Übersehen wurde dabei, dass das stalinistische Etikett „links“ nichts mit dem emanzipatorischen Begriff innerhalb der Grünen gemein hat und das „Volk“ eine reine Negativkoalition zur Überwindung verkrusteter Herrschaft war. Sobald es um vorwärtsweisende Konzepte ging, wurden die unterschiedlichen sozialen Interessen wieder mächtiger. Eine ausdifferenzierte Parteienlandschaft in der ehemaligen DDR ist dafür ebenso ein Beweis wie die Spaltung des Bürgerforums in der CSFR oder der Solidarnosc in Polen. Dieses Phänomen ist übrigens längst von den Befreiungsbewegungen in der „Dritten Welt“ bekannt, die – oft eher nationale als soziale Bündnisse – in ihre sozialen Interessengruppen zerfallen, sobald den Diktatoren die Macht im Staate abgerungen ist.
Als ideologische Figur aber lebt „das Volk“ der runden Tische fort, je weiter vom realen Hintergrund abgehoben, desto praktischer. Das Volk als Ganzes, als Volksganzes, kann nun soziale Interessenkategorien als Grundbegriff für Gesellschaftsanalyse und Politik ablösen. Was für den negatorischen Volkskampf gegen den Stalinismus richtig war, wird umstandslos auf die Bevölkerung der westlichen Gesellschaften übertragen: ein im Prinzip einheitlicher Interessenhintergrund. Noch einmal in den östlichen Quell der Idee zurücktauchend, wird er als Demokratie bzw. Bürgerrecht definiert.
In der Tat ist das höchstens halbfalsch. Dieses Interesse müsste wirklich universal werden und ist gegen jeden Versuch zum Rückfall in vordemokratische Zustände zu verteidigen. Doch beinhaltet es zunächst nur die allgemeine Gültigkeit bestimmter Verfahren und Verkehrsformen. Es verhält sich völlig neutral gegenüber den Einzelinteressen, die sich in diesem Rahmen ausagieren.
Der reine Liberalismus? Den Unterschied soll die „Ökologie“ ausmachen; sie soll der Politik im Rahmen universell gültiger formaler Demokratie eine inhaltliche Substanz verleihen. Anders als im klassischen Liberalismus, der unter dem Dach der demokratischen Verkehrsformen immerhin den harten Kampf sozio-ökonomischer Interessen erkennt, suggeriert „die Ökologie“ das Gegenteil: die, zumindest was globale Katastrophenszenarien angeht, scheinbar sozial unspezifische, allgemeine, „gattungsmäßige“ Betroffenheit scheint den einheitlichen Interessenhintergrund auch materiell zu beweisen. Soziale Interessenunterschiede werden als gattungsmäßig irrelevant, mit dem pauschalen Verweis auf „den Reichtum“ unserer Gesellschaft als praktisch unwichtig und – wie angeblich das Ende des „realen Sozialismus“ beweist – als Kategorie alten Denkens abgetan. Es geht nur noch um eins und das objektiv allen gemeinsam und zwar demokratisch und wer das nicht glaubt… Das ist das Gesellschaftsbild im Konzept der „ökologischen Bürger¬rechtspartei“.
Wer das nicht glaubt…, hat seine Bürgerrechte verwirkt, zumindest in der grünen Partei, der soll gehen. Dass diejenigen, die immer noch eine eigenständige Relevanz der sozialen Frage und ihren mitentscheidenden Einfluss auf die Analyse der ökologischen Krise und entsprechende Konsequenzen geltend machen, aus der Partei abgespalten, ersatzweise in eine strukturelle Minderheitsposition manövriert werden sollen, ist vielleicht noch Privatvergnügen der Grünen. Richtig feierlich wird es erst, wenn eine solcherart interessenbereinigte Partei dann der interessenidentischen Gesellschaft gegenübertritt. Dann findet Ansprache statt. Denn wo keine relevante Sozialstruktur mehr existiert, sondern nur noch der gute oder schlechte Wille des Individuums, wo die Bevölkerung zum Volk als Gemeinde von ökologischen Sündern und Rechtschaffenen geworden ist, dort ist nicht mehr Interessenstreit angesagt, sondern Dialog, Appell, das gute Gespräch, das Wort zum Alltag. Jeder muss sich bessern. So lautet der Gehalt der Dialektik von Demut und Hoffart.
Wo es nur noch um individuelle Einsichtsfähigkeit und ökologisch anständiges Benehmen geht, kann es keine Parteigrenzen geben. „Von Geissler bis Gysi“ müssen die Gerechten sich zusammentun, sagt der „Aufbruch“, dass wir so „auch mit der CDU koalieren“ können, meinen die Ökolibertären. Aber schließen Querlage und Koalition sich nicht aus?
Nachdem die nationale Einigung die Emotion freisetzte, die die sozialen Unterschiede wegküsste und wir nun als einig Staat und Volk nur noch der Natur gegenüberstehen, für die wir großes Verständnis haben, und dem Ausland, gilt diesem unser großmächtig zivilisierendes Bemühen. Notfalls mit dem Schwert.
So dürfen wir Grünen endlich wieder verschmelzen; mit dem Volke, das wir seit ’68 gegen uns aufgebracht haben und mit dem Ziel der Geschichte: Denn wenn es nicht mehr um den Kampf von Interessen, sondern nur noch um die ökologisch verantwortbare „Verwaltung von Sachen“ (Marx) geht, müssen wir wohl die klassenlose Gesellschaft frei assoziierter Individuen bereits erreicht haben. Wer es richtig zu deuten versteht, erkennt also gerade in diesem Konzept das wahrhaft kryptokommunistische.
Dass ein solches geschlossenes Weltbild, abgeleitet aus einer einzigen inhaltlichen Grundkategorie (Ökologie) und verbreitet über eine Demokratievorstellung, die sich antagonistische soziale Konflikte wegdefiniert hat, auf manchen ein wenig totalitär wirken mag, ist bestimmt nicht der Intention der Erfinder geschuldet, sondern liegt im Wesen tautologischer und sich selbst immunisierender Argumentation: die Verabsolutierung der Ökologie erfordert und ermöglicht gleichzeitig die Verdrängung der sozialen Kategorien, deren Verschwinden macht eine Demokratie denkbar, in der es nur noch um die Gattungsfrage geht, diese wiederum beweist die Unwichtigkeit der sozialen…ein perfekter Zirkelschluss.
Und dies angesichts einer immer deutlicher widersprechenden Empirie: dramatisch zunehmende Verteilungskämpfe zwischen Ost und West, Ossis und Wessis, Nord und Süd, Männern und Frauen; die systematisch betriebene Deindustrialisierung der ostdeutschen Länder nicht als Element einer ökologisch motivierten Industriekritik, sondern einer brutal marktwirtschaftlich-monetaristischen Kaputtsanierungsstrategie. Die beginnenden sozialen Aufstände in Ostdeutschland strafen nicht nur den Kanzler Lügen, sondern zeihen auch manchen Wessigrünen der Naivität. Gerade Ostdeutschland ist der Beweis für die notwendige Verknüpfung von Ökologisierung, De-mokratisierung und Armutsbekämpfung. In Osteuropa wird wie in der „Dritten Welt“ die Erfüllung der sozialen Menschenrechte so dringlich werden wie die der politischen.
Vor diesem Hintergrund müssten die Grünen m.E. als „sozialökologisch-emanzipatorische Partei“ begriffen werden. Eine Zusammenarbeit mit den Bürgerbewegungen ist selbstverständlich, aber nicht zur Förderung eines grünlichen Liberalismus, sondern für eine Strategie „ökologischer Umverteilung“: gezielte sozialökologische Strukturpolitik statt kruder Marktregulierung; ein Programm zur Armutsbekämpfung, das den unteren Schichten ein ökologisches Leben überhaupt möglich macht; dessen Finanzierung nicht aus Wachstumsgewinnen, sondern durch Umverteilung von oben nach unten; Gewissheit für die finanziell belasteten Mittelschichten, dass ihr Solidarbeitrag ihnen mit einem Zuwachs ökologischer Lebensqualität vergolten wird. Dies sind die Kernpunkte eines „ökologischen New Deal“; nicht Liberalismus, nicht Klassenkampf, sondern sozialökologischer Handel zwischen neuen Mittel- und alten Unterschichten. Diesen mitzuorganisieren wäre strategisches Ziel grüner Gesellschaftspolitik. Da hinter dem alten Flügelstreit letztlich auch konkurrierende Solidarisierungen standen – die einen hingen noch am Proletariat, während die anderen nur noch die neuen Mittelschichten sahen -, gäbe dieser „deal“ den idealistischen innerparteilichen Appellen für mehr Harmonie gleichzeitig eine materielle Grundlage.