(Bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl im Dezember 1990 verfehlten die völlig zerstrittenen Grünen-West die 5 %-Hürde. Mit einem „no-name“- Papier sondierte ich anschließend die Parteistimmung und entschloss mich, für den Parteivorsitz („Sprecher im Bundesvorstand“) zu kandidieren. Am 27. April 1991 wurde ich gewählt. Der Text ist meine schriftliche Bewerbung.)
Liebe Freundinnen und Freunde,
hiermit melde ich meine Kandidatur für das Amt des Sprechers/ Vorsitzenden der Bundespartei an.
Ihr wisst alle, dass es mit dem Erscheinungsbild der Partei und der Arbeit des Bundesvorstandes nicht mehr so weitergehen kann wie bisher. Wir brauchen einen gemeinsamen Neuanfang. Meine Kandidatur begreife ich als Beitrag dazu. Meines Erachtens hat der nächste BuVo, selbst wenn er mit Leuten besetzt sein sollte, die das politische Handwerk professionell zu betreiben wissen, nur dann eine Chance, gemeinsam mit Euch die Karre aus dem Dreck zu ziehen, wenn vorher zwei gleichermaßen bedeutsame Entscheidungen gefällt werden: eine verbindliche politische Ortsbestimmung und eine gründliche Strukturreform. Ohne solche Voraussetzungen scheint mir ein Engagement im BuVo verlorene Mühe zu sein. Deshalb möchte ich meine Kandidatur ausdrücklich darauf aufbauen. Weil ich quasi mit erklärtem Programm kandidiere, fällt dieser Text etwas üppig aus.
- Wir brauchen eine gründliche Organisationsreform. Die Vorstellungen von Basisdemokratie, die wir vor 10 Jahren entwickelt haben, konnten der Wirklichkeit zum Teil nicht standhalten. Wir alle – gerade auch Leute wie ich, die den basisdemokratischen Gedanken in den 70er Jahren verbreiten halfen – müssen den Mut zu einer gründlichen Überprüfung und Reform aufbringen. Meines Erachtens brauchen wir eine neue Struktur, die Verantwortungszentren schafft, wo schnelle und präzise Entscheidungen fallen können, über die exakt Rechenschaft abzulegen ist; die Instanzen einrichtet, die zur verbindlichen Synthese der unterschiedlichen Politikansätze in der Lage sind; die die Fäden einer weitläufigen neuen Bündnisstruktur in den Händen halten können; die das ExpertInnenwissen inner- und außerhalb der Partei einfangen und für eine professionelle Umsetzung unserer politischen Ziele nutzbar machen können; die zur Entwicklung von Initiativen und Ideen motivieren und die Ergebnisse zu einheitlichen Handlungen bündeln können. Deshalb plädiere ich dafür, den in diese Richtung gehenden Vorschlägen zur Strukturreform zuzustimmen. Fatal fände ich es, wenn der linke Parteiflügel, dem ich mich zurechne, längst überfällige Reformen abwehren würde, nur weil die konkreten Vorschläge von der „falschen Seite“ kommen.
- Eine Strukturreform allein aber kann die innere Zerrissenheit nicht beheben. Wir benötigen einen inhaltlichen Konsens in Grundsatzfragen, der – ohne in programmatische Details zu gehen – eine verbindliche Ortsbestimmung unserer Partei, die Formulierung eines gemeinsamen politischen Willens möglichst zahlreicher AkteurInnen und die Definition zentraler Fragestellungen für die nächsten Jahre beinhaltet. Er muss so allgemein gehalten sein, dass er Raum für fruchtbare Dispute schafft, aber doch so konkret, dass ein beliebiges Ausufern der Debatte, wie wir es in den letzten Jahren erlebt haben, in Zukunft vermieden werden kann. Auf dieser Basis können unsere Differenzen, die bisher in erster Linie durch öffentlichen, ins Unerträgliche gehenden Streit ausgedrückt wurden, durch nach innen gerichtete Verhandlungsdemokratie (Konsense und Kompromisse ausloten, Kampfabstimmung nur als letztes Mittel) bewältigt werden. Lieber offen verhandeln, als heimlich kungeln und unheimlich streiten. Nur so scheint mir der Versuch, die Bundespartei nicht nur als formale Organisation, sondern als erkennbaren, profilierten politischen Anspruch neuaufzubauen, gelingen zu können. Ein entsprechendes Papier, das den Versuch einer Konsensbestimmung unternimmt und das ich mitunterzeichnet habe, liegt Euch als Antrag vor. Auch hier gilt: bitte nicht deshalb ablehnen, weil „die falschen Leute“ unterzeichnet haben; die AutorInnen hatten es als „no name“-Papier (bzw.“Dalai Lama u.a.“) allen Parteigruppierungen zur gemeinsamen Zeichnung angeboten. Aber ein gemeinsames Nicht-Strömungs-Papier, das dennoch einen Gehalt hat, zu entwerfen, scheint mancherseits Verunsicherung und Unwillen hervorzurufen. Dennoch gibt es m.E. keine Alternative: wir brauchen einen verbindlich formulierten, gehaltvollen, breit getragenen Konsens. Auf der kommenden BDK Strömungstexte als knappe Mehrheitspapiere durch- kämpfen zu wollen, kann zwar für die jeweilige Gruppe erfolgreich verlaufen, für die Partei aber wäre das eine Niederlage, vielleicht die endgültige.
Ein gemeinsam artikulierter politischer Wille braucht eine Organisationsreform und eine politische Strategie, die über die Straffung unserer bisherigen Struktur und die stärkere Verpflichtung der Landesverbände auf die Notwendigkeiten der Bundesebene hinausgeht. Der BuVo sollte deshalb eine Art Drei-Jahres-Konzept entwerfen, mit dem wir die Chancen auf ein Comeback in den Bundestag optimieren können. Es sollte u.a. folgende Punkte enthalten:
… (es folgen einige konkrete Punkte zur Parteireform, LV)…
Viel wichtiger als all das aber scheint mir die Verbesserung des politischen Betriebsklimas. Ich kenne viele gute Leute, die gern intensiv mitarbeiten würden, denen aber die Verkniffenheit, die Wiederkehr des Immergleichen, die Dialektik von Demut und Hoffart so auf den Wecker fallen, dass sie Abstand halten. Entscheidend ist hier die Motivationsarbeit durch gezielte Ansprache und die Einrichtung von Arbeitsfeldern, wo ein politisches Engagement auch persönlich befriedigend und bereichernd wirkt. Dieser letzte Punkt gilt ganz besonders auch für mich selbst. Ich will mich gern noch einmal dafür engagieren, dass wir Grünen ein langes und wirkungsvolles politisches Leben haben; aber Leben muss es eben sein.
In meiner achtjährigen Bundestagszeit habe ich mich hauptsächlich mit Nord-Süd-Fragen (wirtschafts-, ökologie- und außenpolitisch) befasst. Die IWF-Kampagne, die ich mitinitiiert und -organisiert habe, war für mich der Höhepunkt, die Entwicklung des grünen Programms für eine „ökologisch-solidarische Weltwirtschaft“, bei dem ich mit federführend war, der vorläufige Endpunkt. Dieser fachpolitische Hintergrund könnte, wenn die Nord-Süd-Dimension von Kriegsgefahr, Umweltzerstörung und Armut zu einem Schwerpunkt grüner Politik werden soll, im BuVo sehr nützlich sein.
Ausführungen über den Zustand des Globus und meine Vorstellungen zur Strategie der Partei möchte ich Euch an dieser Stelle ersparen. Ihr könnt sie u.a. in dem vorgeschlagenen Konsenspapier und in einem auf der BDK vorliegenden Text des „Linken Forums“ nachlesen. Deshalb nur einige Schlagworte zur Skizzierung des Politiktyps, für den ich stehen will: Schutt wegräumen und von links her integrieren; radikale Lösungsmodelle mit pragmatischen Umsetzungsformen verbinden; durch Konzepte mittlerer Reichweite die Lücke zwischen Utopie und Tagespolitik schließen; politische Ökologie als Gesellschaftspolitik über technischen Umweltschutz stellen; politische und persönliche Emanzipation verbinden; soziale und ökologische Fragen in einem ökologischen Umverteilungsprojekt zusammenführen, das den postmaterialistischen Wertewandel in Mittelschichten und den materiellen Nachholbedarf in Unterschichten verbindet; den Bewegungsbezug durch systematische Verbandspolitik ergänzen; Polarisierung gegenüber anderen Parteien, Verständigung in der eigenen organisieren, statt sich bei den anderen (von Geißler bis Gysi) anzubiedern um den Preis eigener Zerrissenheit; Zielkonflikte aushalten, statt einseitige Auflösungen durchsetzen.
In diesem Sinne trete ich für eine integrative, undogmatisch linke, sozial-ökologische Politik ein.
(Weil diese Politik erfolgreich war – einschließlich der Fusion mit Bürgerrechtsgruppen der DDR -, wurde ich 2 Jahre später wiedergewählt und organisierte das Comeback der neuen Partei Bündnis90/Die Grünen 1994 in den Bundestag. Hier mein Bewerbungstext)
14. Mai 1993
Liebe Freundinnen und Freunde,
als vor zwei Jahren der amtierende Bundesvorstand gewählt wurde, war noch nicht abzusehen, ob die Grünen die Wahlniederlage von 1990 überhaupt würden überleben können. Heute wissen wir: alle gemeinsam haben wir es geschafft, die Karre aus dem Dreck zu ziehen. Die tiefe Zerstrittenheit früherer Jahre ist weitestgehend überwunden, die Schwachstelle Deutschlandpolitik ist konzeptionell und praktisch ausgebügelt, das Betriebsklima hat sich merklich verbessert, bei Landtagswahlen haben sich schöne Erfolge eingestellt. Die jahrelang schwelende Krise der Partei ist überwunden. Heute sind wir – bei allen Problemen – stabiler denn je. Die Fusion zu Bündnis 90/die Grünen war – sieht mensch sich die Umfrageergebnisse an – geradezu ein politischer Quantensprung. überall schlägt uns neue Sympathie entgegen. Heute sind die anderen Parteien in der Krise.
Umso höher sind die Ansprüche, die an unsere zukünftige Politik gestellt werden. Schon heute scheint sicher: wenn wir 1994 wieder in den Bundestag einziehen, werden wir die Rolle, die wir drei Legislaturperioden innehatten, nicht weiterbekleiden können, nämlich die der kleineren von zwei Oppositionsparteien. Entweder werden wir als einzige und deshalb umso wichtigere demokratische Oppositionspartei gegen eine Große Koalition stehen (mit einer eingeklemmten FDP dazwischen und schlimmstenfalls sogar mit Rechtsradikalen auf der anderen Seite) oder aber wir finden uns in einer Regierung wieder.
Auf beide Fälle müssen wir uns in den nächsten Monaten vorbereiten. Programmatisch und konzeptionell. Voraussetzung aber wird sein, dass wir es schaffen, das Mammutwahljahr 1994 mit 18 (!) Wahlen gut vorzubereiten.
Nicht zuletzt: die Fusion ist gelungen. Doch unterhalb der Ebene des organisatorischen Zusammenschlusse bleiben noch eine Menge von Detailproblemen zu klären. Und der innerparteiliche Verständigungsprozess zwischen Ost und West ist mit der Fusion nicht zu Ende; er wird auf eine breitere Basis gestellt. All dies zusammengenommen scheint mir anzuzeigen, dass ein wenig Kontinuität im Bundesvorstand nicht falsch wäre. Deshalb stünde ich erneut als Sprecher zur Verfügung.