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(erschienen in der taz, 09. April 1991; der Text steht in einer Reihe von Essays, mit denen ich nach dem Ausscheiden der Grünen aus dem Bundestag am 2. Dezember 1990 versucht habe, der Partei neue Orientierungen zu geben. Auf dieser Basis wurde ich Ende April 1991 zum Parteivorsitzenden gewählt.)

Eine Entscheidungsschlacht, die von Sensationsgierigen herbeige­schrieben wird, kann nur Pyrrhussiege bringen. Es wäre eine schlechte Farce, die Partei, für die es null komma null Alternativen gibt, aufzugeben, nur weil niemand eine festgefahrene innere Streitmechanik durchbrechen kann.  Das Wahldebakel bietet dafür die Chance, die letzte. Wenn jenseits von Schuldzuweisungen auf den veränderten gesellschafts- und geopoliti­schen Hintergrund der Niederlage und auf die realen Bedingungen zukünftiger sozialökologischer Politik reflektiert wird, dürften die Auffassungen bei 80% der GRÜNEN sich wohl durch bestimmte Akzentsetzungen, nicht aber im Grundsatz unterscheiden. Auf dieser breiten Basis ließe sich eine exaktere politische Ortsbestimmung der Partei vornehmen, die das Bild der Zerrissenheit besser korrigiert als die zweifellos nötige Strukturreform.

Es gibt keine „Zeitenwende“, aber die Zeiten haben sich geändert und erfordern eine andere grüne Politik. Ein bloßes Jammern über die Konjunkturflaute der Bewegungen und eine Flucht ins Traumland, wo die verlorenen Schlachten von vorgestern übermorgen doch noch gewonnen werden können, scheint mir eine ebenso defiziente Verar­beitung der Krise zu sein wie das Einschwören auf eine blutleere, visionslose Ökotechnokratie oder das Erheben der Ökologie zur selbstgerechten Quasi-Religion. Deshalb folgender Vor­schlag zu einer konsensuellen Ortsbestimmung:

1. Die GRÜNEN verstehen sich als linksökologisch-emanzipatorische Partei, die nicht durch die Parteienlandschaft vagabundiert, aber ökologisch gesinnte Personen anderer Parteien anzusprechen sucht.

2. Soziale Frage und Ökologie bilden ein Koordinatenkreuz alter und neuer gesellschaftlicher Konfliktlinien, die neue Bündnisse nötig und möglich machen. Beseitigung von Armut auf der einen, Durchsetzung des postmaterieller Wertewandels auf der anderen Seite müssen strategisch verknüpft werden: die Lage der unteren Schichten ist zu verbessern, damit sie sich ökologisches Handeln leisten können; für die Mittelschichten muss der komplementäre Ver­zicht auf materielle Wohlstandsmehrung mit der Aussicht auf ver­besserte Lebensqualität verbunden sein. Dieser Interessenausgleich bildet den Ausgangspunkt für eine ökologische Umverteilungspoli­tik.

3. Um den internen Streit einzugrenzen, definieren wir Arenen, in denen zukünftig unser politischer Disput stattfindet; weit genug, damit sich vieles tummeln kann, aber so eng, dass auch eine Bestimmung des Nicht-mehr-Akzeptierbaren möglich wird. Sie sollen das Spannungsverhältnis zwischen unseren Grundwerten durch möglichst konsensuelle Grundsatzentscheidungen klären und so einen verbindlichen Rahmen für die Diskussion operationaler Politik liefern.

Der Konsens z.B., der die Arena Soziale Frage und Ökologie  eingrenzt, könnte lauten: „Das heutige Sozialstaatsmodell, das die sozialen Kon­flikte der Gesell­schaft durch die Verteilung von Wachstumsgewin­nen abdämpft, wie auch die klassische sozialistische Utopie, durch eine „Entfes­selung der Produk­tivkräfte“ neuen gesellschaftlichen Reichtum zu schaffen, machen unter den Bedin­gungen ei­ner notwendi­gen durch­greifenden Ökologisierung der Produktion und einer Beendi­gung des pauschalen Wachstumswahns keinen Sinn mehr. Die Si­cherung einer menschenwürdigen Existenz und so­ziale Gerechtigkeit müssen ohne pauschales Wachs­tum, d.h. durch Umvertei­lung des er­wirtschafteten Reichtums, in der Regel von oben nach unten, und durch eine glei­chermaßen ökologische, soziale und demo­kratische Neubestimmung des Wirtschaftens geleistet wer­den.“

Derartig gefundene Konsense bilden dann der Rahmen, in dem über die konkrete Politik gestritten werden kann. Eine Politik, die sich über institutionelle Arbeit, Bewegungsbezug und grünes Klün­gelwesen hinaus systematisch in Verbände und Wissenschaftskreise erstrecken müsste.

Daneben könnte eine Konzentration auf drei Arbeitsfelder neues Profil und neuen Schwung geben:

1. sozialökologische Politik für Gesamteuropa

Die Auflösung des Ost-West-Konfliktes und die deutsche Einheit ha­ben den nationalen Rahmen, auf den sich ein Großteil unserer Poli­tik bezieht, ausgedehnt und gleichzeitig neu international einge­bettet. Daraus resultiert eine doppelte Aufgabe: unsere innenpoli­tisch ausgerichteten Konzepte müssen entsprechend den besonderen Erfordernissen der hin­zugekommenen Bundesländer überarbeitet wer­den. Im Vordergrund muss dabei die Vermittlung ökologischer Sanie­rungs- und Präventiv­maßnahmen mit den sozialen Ansprüchen der ehe­maligen DDR-Bewohne­rInnen stehen. Der ökologische und soziale Um­bau die­ser Region mit ihren intensiven Bindungen an die Staaten und Re­gionen Osteuropas muss zudem mit den existierenden Umbaukon­zepten für das ehemalige Westdeutschland mitsamt seiner EG-Bindung ver­zahnt werden. Gefragt ist eine neue Konzeption von Gesamteu­ropa.

2. Nord-Süd-Konflikt und neue Kriegsgefahr

Die vertikale Teilung der Welt in zwei hochgerüstete Su­permächte scheint nun durch die horizontale abgelöst zu werden. Der „Norden“ steht dem „Süden“, die „moderne“ Welt der „traditionel­len“, die „schnel­len“ Staaten stehen den „langsamen“ gegenüber. Der OECD-Block nutzt seine strukturelle Vormachtstellung aus, um den unterlege­nen Regionen eine Vorstellung von der einen Welt auf­zuzwingen, die in erster Linie im Interesse der reichen Indu­strienationen liegt. Die sich abzeichnende Neuordnung der Welt er­fordert von uns eine Überprüfung unserer außenpolitischen Positio­nen: während wir be­reits umfassende Thesen für eine ökologisch-so­lidarische Neuord­nung weltweiter Wirtschaftsbeziehungen – auch als präventive Friedenspolitik – entwickelt haben, warten unsere abrüstungs- und sicherheitspolitischen Aussagen auf eine Aktuali­sierung. Wie kann un­sere For­derung nach Verlassen des NATO-Zusam­menhangs in die Vor­stellung einer globalen Sicherheitspartner­schaft einmünden? Wie müssen wirtschaftliche Konversions­prozesse bei uns und anderswo aussehen, die unumkehrbar die Waf­fenproduktion abbauen?

3. Modernisierung und Tradition

Im kommenden Jahrzehnt wird sich die Frage entscheiden, ob sich technologische Innovation und gesellschaftliche Modernisierung un­gehemmt durchsetzen und traditionelle Lebenswelten endgültig an den Rand drän­gen werden. Völker, die sich gegen die Einverleibung in die Geld­wirtschaft sperren, sind bedroht; bäuerliche und handwerkliche Produktionsweisen, die sich nicht auf die Erfordernisse des Welt­marktes einlassen, werden zurückgedrängt; Nachbarschaften und zwi­schenmenschliche Solidarität fallen der Zerstörung gewachsener so­zialer Bezüge zum Opfer. Zum anderen aber sind Vorteile der Moder­nisierung nicht zu leugnen. Und schon gar nicht können wir uns in­dividuell der umfassenden Modernisierung völlig entziehen. Wir brauchen eine neue Debatte über Maß und Richtung gesellschaftli­cher Moder­nisierung, bei uns und global. Wir müssen diskutieren, welche Le­benswelten gegen das „Vordringen des Systems“ verteidigt werden müssen, und welche so rückschrittlich sind, dass ihre Über­windung ein Glück wäre. Das betrifft zum Beispiel die Verteilung der Ge­schlechtsrollen. Eine tief­gehende Diskussion dieser Fragen soll dazu beitragen, dass zwischen den „wertkonservativen“ und den „lin­ken“ Strömungen unserer Partei ein neues Verständnis erwächst.