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(Auf der Bundesdelegiertenkonferenz in Leipzig, 14. – 16. Mai 1993, der ersten der fusionierten Partei Bündnis 90/Die Grünen, trug ich für den alten Bundesvorstand der Grünen den politischen Rechenschaftsbericht vor. Hier die stark gekürzte Transkription. Sie beschränkt sich auf die Passagen zur Fusion der beiden Ausgangsparteien.)

Liebe Freundinnen und Freunde,

Bündnis 90/DIE Grünen – ein Neubeginn. Ein neuer Hoffnungsträger für die Bundesrepublik. Die erste und einzige authentische gesamtdeutsche Partei. Die Integration der besten Anteile ost- und westdeutscher Oppositionskultur. Wir haben geschafft, was vor zwei Jahren kaum einer für möglich gehalten hätte. Nie könnte es klappen, wurde prophezeit, zu groß seien die Unterschiede, programmatisch, konzeptionell, in der Mentalität. Zwei Jahre Verhandlungen aber haben bewiesen: Wenn der Wille da ist, einander zuzuhören, aufeinander zuzugehen, die eigenen kleinen Eitelkeiten zurückzustellen zugunsten der großen historischen Aufgabe – dann stellt sich heraus, wieviel gemeinsame Substanz da ist.

Wir haben eine beispielgebende Form der Vereinigung gegen die staatliche Anschlusspolitik gesetzt. Deshalb sind wir prädestiniert, Ansprüche für die Gestaltung der inneren Einheit zu erheben. Geistige Trägheit und psychologische Schranken müssen überwunden werden. Es gibt nur den Weg in die eine integrierte Gesamtgesellschaft. Bündnis 90/Die Grünen müssen weiterhin wegweisend sein. Nicht nur Vorstände und Kommissionen, die gesamte Mitgliedschaft der gemeinsamen Organisation, wir alle sind nun gefordert, den Prozess weiterzuführen und zu vertiefen.

So wichtig es ist, dass im Verhandlungsprozess nicht die eine Identität der anderen untergeordnet wurde, so notwendig ist es nun, die Wahrung der eigenen Identität nicht ins Zentrum der Politik zu rücken. Beide Identitäten müssen in einem schwierigen, wahrscheinlich auch konflikthaften Prozess zu einer gemeinsamen verschmelzen. Das braucht Zeit, das braucht Kraft, das braucht Energie und Fantasie, doch wir sollten hoffen, dass in einigen Jahren nicht mehr unterscheidbar sein wird, welches Mitglied von Bündnis 90/DIE Grünen aus welcher ursprünglichen Organisation stammt.

Wir vom Bundesvorstand der ehemaligen Grünen haben im Fusionsprozess unsere Hauptaufgabe gesehen. Sehr schnell war uns klar, dass wir die vielfältige Arbeit der ehemaligen großen Bundestagsfraktion nicht würden ersetzen können. Solange wir nicht mit einer großen Fraktion im Bundestag vertreten sind, galten wir zudem auf der Bonner Bühne nicht als Machtfaktor. Unsere Meinung galt als uninteressant. Wir wussten, dass sofort neues öffentliches Interesse entstünde, wenn die politischen Entwicklungen darauf hinwiesen, dass wir wieder Machtfaktor werden könnten.

Mit persönlichen Eskapaden wollten wir uns nicht ins Gespräch bringen, nur um in den Personalia- und Klatschspalten der Zeitungen so etwas wie persönliches Profil auf Kosten der Partei zur Show zu stellen.

Wenn es die abgrundtiefe Zerstrittenheit früherer Jahre war, die uns bundespolitisch ins Abseits befördert hatte, so musste das Hauptziel darin bestehen, an die Stelle der politisch tödlich gewordenen Streiterei, die nichts mehr an Kultur aufwies, eine Kultur der Kooperation und der solidarischen Diskussion zu setzen. Das haben wir versucht. Anders als in früheren Jahren haben deshalb die einzelnen Vorstandsmitglieder sich nicht als Speerspitzen von Strömungen und Klüngeln begriffen.  Der gesamte Vorstand hat in kollegialer Zusammenarbeit die Gesamtverantwortung für die Gesamtpartei übernommen.

Eine schriftliche Auflistung unserer Aktivitäten findet Ihr in Euren Unterlagen.

Vor zwei Jahren war nicht einmal sicher, ob die Grünen die Wahlniederlage überleben würden. Heute wissen wir: Die Krise der Partei ist überwunden. Heute sind wir wieder gefragt. Jeder geht davon aus, dass wir dem nächsten Bundestag wieder in Fraktionsstärke angehören und möglicherweise ein Wörtchen bei der Regierungsbildung mitreden werden. Die Umfragen weisen Ergebnisse aus, wie wir sie seit Jahren nicht mehr hatten. Neue Sympathie schlägt uns allenthalben entgegen. Wenn wir keine dummen Fehler machen, wenn wir nicht zurückfallen in überwundene Streitigkeiten, wenn wir dabeibleiben, dass sich nicht Einzelne auf Kosten des Ganzen profilieren, dann sollte es uns gelingen, auch wieder Machtfaktor in Bonn zu werden. Dies ist kein borniertes Parteiinteresse. Wir sehen doch: Nie war es so wichtig, eine politische Alternative zu haben wie heute.

Es sieht nicht gut aus im vereinten Deutschland.

…(Es folgt eine ausführliche Kritik der Politik von CDU/FDP-Bundesregierung und SPD-Opposition)…

Der Schub für eine Reformpolitik kann heute einzig und allein von Bündnis 90/DIE Grünen kommen. Er kann sich letztlich nur entwickeln auf der Grundlage eines breiten Mehrheitswillens in der Bevölkerung. Je mehr der Frust, die Wut und die Aggression, die sich dort aufgestaut haben, umschlagen in den Willen zu vorwärtsweisender Veränderung, desto grösser unsere Chancen auf Bundesebene Reformen durchzusetzen.

Dazu haben wir genügend inhaltliche Konzepte entwickelt. Wir haben in den letzten zwei Jahren umfangreiche und präzise Aussagen getroffen zur Frage, wie denn die deutsche Einheit, wie denn der ökologische, ökonomische und soziale Auf- und Umbau im Osten gestaltet und finanziert werden könnten. Doch immer noch haben wir mit dem Problem zu kämpfen, dass diese Programme wie auch die zur Sozialpolitik von der Öffentlichkeit nicht aufgegriffen werden, weil sich das Vorurteil festgesetzt hat, wir hätten zu diesen Themen nichts zu sagen. In der Tat, wir sind die Partei, die konsequent und kompetent ökologische Fragen bearbeitet.  Aber wir stehen nicht für Ökologie pur. Was auch sollte das sein? Wir sehen, dass die Grenzwertdiskussion nicht mehr wesentlich weiterbringt. Wir wissen, ökologische Fragen müssen in die aktuellen ökonomischen Fragestellungen eingebettet und zu einer umfassenden Gesellschaftsalternative verdichtet werden. Das macht heute grünes Profil aus.

Wichtig wie die Programmarbeit sollte uns die weitere Verbesserung der Entscheidungs- und Kommunikationsstrukturen sein. Der Länderrat, den wir mit der Strukturreform von Neumünster geschaffen haben, war ein enormer Gewinn. Die Trennung von politischer und organisatorischer Geschäftsführung hat einen erheblichen Schub an Professionalität gebracht. Wir haben ergänzend zu den bestehenden Bundesarbeitsgemeinschaften Fachkommissionen beim Bundesvorstand eingerichtet. Zudem gab es informelle Treffen von Vorstand und grünen Kabinettsmitgliedern. Es gibt hoffnungsvolle Ansätze einer Bundesjugendkoordination. Wenn wir 1994 in eine Bundesregierung eintreten sollten, dann wird – neben der BDK – auf diese Gremien ein noch größerer Abstimmungs- und Entscheidungsdruck zukommen, und es muss eine Aufgabe des nächsten Bundesvorstandes sein, die innerparteiliche Kommunikationsstruktur weiter zu verbessern.

Die wichtigste Entscheidungsfindung aber, die der nächste Bundesvorstand zu organisieren haben wird, ist die zu den inhaltlichen Wahlkampfschwerpunkten und den Aussagen zu einer eventuellen Regierungspolitik.  Unter welchen Umständen und Bedingungen wollen wir in eine Regierung eintreten? Dass wir im Prinzip dazu bereit sind, brauchen wir nicht länger zu beteuern. Wir sollten aber nicht bereit sein, als reiner Mehrheitsbeschaffer mit Statistenrang einer Koalition an die Regierung zu verhelfen, der es an Reformwillen mangelt. Eine große Koalition ist fatal. Dort wird festgeklopft, was in Zukunft dann kaum noch reformierbar sein wird. Noch fataler aber wäre es, wenn der einzige Hoffnungsträger, den diese Gesellschaft hat, in eine Situation hineingetrieben würde, wo er wenig ausrichten kann.

Es kann also keinen Automatismus geben, der uns in eine Koalition quasi hineindrückt. Vor einer Koalitionsbeteiligung muss eine klare politische Entscheidung stehen über fünf, sechs zentrale politische Eckwerte, die ein Reformprogramm umschreiben.

Diese Debatte möchte ich einleiten mit folgenden Forderungen: …