(Zum grünen Parteitag am 3. Oktober 2004 in Kiel formulierte ich auf der Basis interner Meinungsbildung eine Resolution, die mit wenigen Änderungen angenommen wurde und die Haltung der Partei zum Krieg in Tschetschenien markierte.)
Bündnis 90/Die Grünen sind erschüttert von den furchtbaren Geiselmorden in Beslan und der jüngsten Terrorserie in Russland. Wir trauern um die Opfer und mit ihren Angehörigen. Unsere Solidarität gilt allen Menschen in Nord-Ossetien und ganz Russland, die von Terroranschlägen betroffen sind und sich täglich davon bedroht fühlen. Der Terroranschlag von Beslan ist durch nichts zu rechtfertigen. Die Terroristen haben die zivilisatorischen und menschlichen Mindeststandards in nicht vorstellbarer Weise unterschritten, indem sie wehrlose Schüler als Geiseln nahmen und flüchtenden Kindern in den Rücken schossen. Mit solchen Verbrechern verbietet sich jeglicher Dialog.
Wir begrüßen das Angebot der Bundesregierung zu logistischer und medizinischer Hilfe an die russische Regierung. Wir begrüßen zudem ihren Willen, mit Russland intensiv bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus zusammenzuarbeiten. Wir betonen, dass dieser Kampf mit Augenmaß geführt werden muss. Die Kämpfer gegen den Terrorismus dürfen sich nicht durch die Wahl falscher Mittel auf die Stufe der Verbrecher ziehen lassen: Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht sind strikt einzuhalten.
Der Einfluss islamistischer Terroristen im Nordkaukasus und auf den Konflikt in Tschetschenien zeigt, dass die Dimension des Konflikts mittlerweile über eine innere Angelegenheit Russlands hinausgeht. Der islamistische Terrorismus, der sich als Netzwerk um den Kern von El Qaida organisiert hat, versucht systematisch, die Südgrenze der GUS-Region zu zersetzen. Nachdem die Terrorgruppen Afghanistan als Basis weitgehend verloren haben, bietet der ungelöste und unkontrolliert eskalierte Konflikt in Tschetschenien nun einen neuen Angriffspunkt. Von hier aus wollen die Islamisten die gesamte Kaukasus-Region, die von zahlreichen ungelösten Konflikten durchzogen ist, destabilisieren. Ziel scheint nicht nur die ideologische Herrschaft zu sein, sondern die politische Schwächung von gerechten Regierungen und ungerechten Regimes, um im entstandenen Chaos machtpolitisch Zugriff auf strategische Rohstoffe in Arabien und Zentralasien zu erlangen, den Westen zu erpressen und einen allgemeinen Krieg der Kulturen zu provozieren. Dadurch sind unsere eigenen Sicherheitsinteressen unmittelbar berührt.
Der Kampf gegen den Terrorismus wird letztlich nicht mit militärischen Mitteln gewinnbar sein. Neben einem intensiven Dialog mit der arabisch-islamischen Welt kommt der gerechten Lösung von Regional- und Lokalkonflikten eine herausragende Bedeutung zu. Nur so lässt sich die Rekrutierungsbasis der Terroristen verkleinern. Dies betrifft auch den Tschetschenienkonflikt. Wir fordern alle beteiligten Kräfte, insbesondere die russische Regierung auf, nach einer politischen Lösung zu suchen, die von der tschetschenischen Bevölkerung akzeptiert und aktiv mitgetragen wird. Solange die russische Politik in Tschetschenien auf Gewalt baut, einschließlich schwerer Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte und paramilitärische Banden, wird sich die Gewaltspirale weiterdrehen und werden terroristische Gruppen neuen Zulauf bekommen. Auch die alltägliche Diskriminierung und Schikanierung von Tschetschenen und Kaukasiern in Russland muss aufhören. Wir fordern die Menschen in Tschetschenien und die tschetschenischen Flüchtlinge auf, ihrerseits alles zu tun, um dem Terrorismus den Boden zu entziehen. Terroranschläge entziehen dem Kampf für Eigenständigkeit und Demokratie Legitimation, Glaubwürdigkeit und Sympathie und fügen so der tschetschenischen Sache Schaden zu.
Die bisherige russische Politik war nicht geeignet und in der Lage, den Kaukasus zu befrieden. Wir bezweifeln, dass die von Präsident Putin angekündigten Maßnahmen zur weiteren Formierung des russischen Zentralstaates, der weiteren Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit und der demokratischen Strukturen der richtige Weg sind. Auch die Wahlen für das Amt des tschetschenischen Präsidenten, die nicht den demokratischen Mindeststandards entsprachen, waren kein konstruktiver Beitrag für eine Lösung des Konflikts in Tschetschenien. Wir sind zudem besorgt über den Vorschlag, das Moratorium zur Vollstreckung der Todesstrafe aufzuheben. Gleichermaßen mit Sorge erfüllt uns die Ankündigung von „Präventivschlägen gegen Terroristenlager (…) in jeder beliebigen Region“ seitens des russischen Generalstabschefs.
Wir sind uns bewusst, dass eine verstärkte Autonomie Tschetscheniens in den Jahren 1997-1999 ebenfalls nicht die Lösung gebracht hat. Der frei gewählte tschetschenische Präsident Maschadow verlor zunehmend die Kontrolle. Politische Radikalisierung, Entführungen, Erpressungen und Morde nahmen in erschreckendem Maße zu und drohten auf die Nachbarrepubliken überzugreifen. Heute, da der Konflikt durch islamistische Einflüsse überformt ist, droht eine unflankierte Autonomie direkt zu einem failing state zu führen.
Bündnis 90/Die Grünen fordern die Bundesregierung auf, in ihrem Dialog mit der russischen Regierung weiter darauf zu drängen, dass
- bei der Bekämpfung des Terrorismus die Grundlagen des Völkerrechts und die Menschenrechte eingehalten werden;
- sorgfältig zwischen potenziell verhandlungsbereiten Separatisten einerseits und Terroristen andererseits unterschieden wird und alle Möglichkeiten des Dialoges mit politischen Gruppen genutzt werden;
- mit einer Geste des Vertrauens und der Versöhnung gegenüber der tschetschenischen Bevölkerung ein neuer Weg zur Lösung der Probleme im Kaukasus eingeschlagen wird;
- alle Vertreter der russischen Staatsorgane, insbesondere der Armee und der Geheimdienste in Tschetschenien auf die strikte Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet und Verbrechen, die von Vertretern staatlicher Organe begangen werden, in öffentlichen Verfahren aufgeklärt sowie Schuldige verurteilt werden;
- dringend die Unterbringungsmöglichkeiten und der Zugang zu humanitärer Hilfe für tschetschenische Flüchtlinge innerhalb und außerhalb Tschetscheniens wesentlich verbessert werden sowie auf die Ausübung jeglichen Zwanges auf tschetschenische Flüchtlinge zur Rückkehr nach Tschetschenien verzichtet wird;
- russischen und ausländischen Journalisten ungehinderte Berichterstattung aus Tschetschenien ermöglicht wird;
- die Verfolgung von MenschenrechtsverteidigerInnen und die Repressionen gegenüber russischen NGOs eingestellt werden;
- der OSZE die Rückkehr ihrer Beobachter-Mission und konstruktive Unterstützung bei ihrer Arbeit angeboten wird;
- die für Anfang 2005 geplanten tschetschenischen Parlamentswahlen nach internationalen Standards vorbereitet und durchgeführt sowie internationale Wahlbeobachtung ermöglicht werden
- die Idee eines vom Europarat moderierten „Strasbourg Round Table“ zum Gedankenaustausch mit politischen Parteien und Politikern aus der Tschetschenischen Republik aufgegriffen wird.
Hilfreich für den nötigen Wechsel in der Kaukasuspolitik könnte eine Strategie der Vertrauensbildung, Befriedung und Versöhnung der Völker im Kaukasus im Rahmen eines „Stabilitätspakts für den Kaukasus“ zwischen Russland, Georgien, Armenien, und Aserbaidschan sein, der von der Europäischen Union gestützt wird. Wir fordern die EU auf, ihre „gemeinsame Strategie für den Kaukasus“ in diesem Sinne zu überprüfen.
Wir unterstützen den Europarat bei seiner ausgezeichneten Berichtstätigkeit sowie bei den fortgesetzten Bemühungen, Russland als Mitglied des Europarates zu einer politischen Lösung des Tschetschenien-Konflikts zu bewegen. Wir ermutigen die OSZE dazu, wieder eine aktivere Rolle zu spielen. Voraussetzung wäre die Rückkehr von ständigen OSZE-Beobachtern nach Grosny.
Bündnis 90/Die Grünen rufen die Regierungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union dazu auf,
- mit Russland gemeinsame Anstrengungen zu unternehmen, um unter Wahrung der Menschenrechte den Kampf gegen den internationalen Terrorismus zu verstärken;
- im Rahmen ihrer Partnerschaft mit Russland auf Fortschritte bei der politischen Lösung der Tschetschenien-Frage zu drängen und mit der russischen Seite einen kritischen Dialog über Demokratie und Menschenrechte zu führen;
- die Idee eines „Stabilitätspakt für den Kaukasus“ gemeinsam mit Georgien, Armenien, Aserbaidschan, internationalen Organisationen wie UN, OSZE, Europarat sowie internationalen Finanzinstitutionen wie der „Osteuropabank“ (Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE)) und der Weltbank aufzugreifen und Russland eine entsprechende Zusammenarbeit anzubieten mit dem Ziel, politische Lösungen und wirtschaftlichen Wiederaufbau im Kaukasus im Rahmen einer internationalen Anstrengung voranzubringen.
- den tschetschenischen Flüchtlingen ein Bleiberecht zu gewähren und keine Abschiebungen nach Russland durchzuführen, weil aufgrund der Diskriminierung von Tschetschenen in Russland keine Binnenfluchtmöglichkeit besteht.
- eine Energiepolitik zu betreiben, die unsere strategische Abhängigkeit sowohl von arabischem als auch russischem Erdöl beseitigt
Bündnis 90/Die Grünen unterstützen UN-Generalsekretär Kofi Annans Appell an Russland vom 09.09.2004 in dem es heißt: „Wir müssen Mittel und Wege finden, um den Terrorismus wirksam zu bekämpfen, aber es ist ebenso notwendig, dass damit nicht die Grundsätze des Rechts und der grundlegenden Menschenrechte untergraben werden.“