(Als außenpolitischer Sprecher verfasste ich am 14. Oktober 2004 für die Bundestagsfraktion der Grünen zusammen mit Lars Brozus ein bisher unveröffentlichtes Policy-Paper zum Thema UNO-Reform. Es nimmt die Frage eines ständigen deutschen Sitzes im Sicherheitsrat als Aufhänger)
Ein ständiger deutscher SR-Sitz: Europäisierung in Taten, nicht in Worten
Die Bundesregierung bemüht sich um einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der VN. Dieses Bemühen hat folgende Grundlagen:
- Die Möglichkeit einer umfassenden VN-Reform wird so günstig wie selten eingeschätzt. Am 1. Dezember soll eine von UN-GS Annan eingesetzte Kommission ihren Bericht zur Reform der VN vorlegen. Annan wird auf der Grundlage dieses Berichtes eigene Vorschläge entwickeln. Es ist damit zu rechnen, dass Anfang nächsten Jahres ein umfassender Reformvorschlag vorliegen wird. Dadurch öffnet sich ein window of opportunity: In den letzten Jahren ist die Bedeutung der VN sehr viel sichtbarer geworden, vor allem hinsichtlich der internationalen Legitimierungsfunktion für Sicherheits- und Ordnungspolitik. Gleichzeitig sind die wachsenden Defizite der Organisation – gerade im operativen Bereich – nicht zu übersehen. Ein immer wieder geäußerter Kritikpunkt ist die Dominanz der so genannten Siegerstaaten des Zweiten Weltkriegs im SR, die die globale Machtverteilung nicht mehr adäquat widerspiegelt. Im ersten Halbjahr 2005 besteht eine vielleicht einmalige Gelegenheit, eine echte Strukturreform der VN zu beginnen. Teil dieser Strukturreform wäre in jedem Fall eine Anpassung des SR an die heutigen Realitäten.
- Das Bemühen um einen EU-Sitz im SR (so lautete die Forderung in Programmen der Grünen, LV) kommt real nicht voran. Das liegt nicht an mangelndem Engagement der Bundesregierung. In der UN sind Staaten Mitglieder und nicht Regionalorganisationen. Zudem wird die EU mangels einer integrierten Außenpolitik weltweit nicht als einheitlicher Akteur empfunden. Zudem wäre ein europäischer Sitz nur zu haben, wenn Großbritannien und/oder Frankreich bereit wären, ihren ständigen Sitz in einem Akt des freiwilligen Machtverzichtes aufzugeben. Das ist nicht der Fall. Gleichzeitig löst der Regionalisierungsaspekt auf anderen Kontinenten Befürchtungen aus, weil dort Integrationsideen noch mit dem Anspruch der eigenen Nationenbildung kollidieren. Die meist genannten SR-Kandidaten (IND, JAP, BRA) befürchten, dass der Druck auf sie, dem Beispiel der EU zu folgen, erheblich steigen würde. Einige scheinen eher bereit zu sein, ihre Ansprüche auf Mitgliedschaft im SR aufzugeben, als sich auf eine Regionalisierung mit ungeliebten Nachbarn einzulassen (IND/PAK, JAP/KOR). Gleiches gilt auch für Überlegungen, den ständigen SR-Sitz zu rotieren oder zu teilen (Vorschlag ITA, Tendenzen in POL). Auch dies widerspricht den Interessen und politischen Fähigkeiten der SR-Kandidaten, die sich z.T. in lang anhaltenden Konflikten oder Konkurrenzen mit anderen potentiellen Anwärtern befinden (IND/PAK, BRA/MEX). Zudem würde eine Teilung/Rotation faktisch eine neue Kategorie von SR-Mitgliedern einführen, deren Status ungeklärt, auf jeden Fall aber nicht derselbe wäre, wie der der ständigen Mitglieder. Damit wäre ein wichtiges Ziel der Reform verfehlt. Ein Rückzug auch nur eines der seriösen SR-Kandidaten wegen dieser Kompliziertheiten könnte jedoch die gesamte Reform in Frage stellen.
- Wir streben nicht in erster Linie den deutschen Sitz an, sondern die Reform als Ganze, innerhalb derer wir dann mehr Verantwortung übernehmen würden. Statt des bescheiden klingenden, aber in vielen Ländern als unnötig verschämt geltenden Satzes „Wir sind bereit, Verantwortung zu übernehmen“, hat der BK (Bundeskanzler Gerhard Schröder, LV) nun gesagt „Wir wollen…“. Dies macht in der Substanz wenig Unterschied. Wie es wirkt, muss abgewartet werden. Ebenso, ob der jetzt kampagnenförmige Auftritt wirksamer ist als die alte Selbstbeschränkung. Realiter jedenfalls kommt die Reform als Ganze nur dann zustande, wenn und solange offensiv Ansprüche formuliert werden, von wem und wie auch immer. Das reine Räsonnieren von Fachleuten wird sich in einer Endlosschleife verfangen. Deshalb hofften zahlreiche Staaten darauf, dass D und JAP Ansprüche formulierten. Im Paket mit den Regionalmächten IND und BRA bekommt die Initiative noch mehr Gewicht. Allerdings wird auch der Widerstand offener (ITA, PAK). Offen ist die Frage, wer für Afrika stehen könnte (starke Konkurrenz zwischen RSA, LIB, NIG, ÄGY). Zahlreiche Länder der Dritten Welt wollen uns im SR sehen. Dort hoffen viele, wir könnten ein Gegengewicht zu den USA bilden. Auf der einen Seite ehrt uns, dass wir als ehrliche Makler wahrgenommen werden, die nicht (nur) nationalen Interessen folgen. Auf der anderen Seite werden wir uns gegen niemanden in Stellung bringen lassen. Allerdings bedeutet ein deutscher Sitz ein freundschaftliches wie emanzipiertes Verhältnis gegenüber den USA. Wir haben zudem immer deutlich gemacht, dass wir einen deutschen Sitz nicht im nationalen Interesse wahrnehmen würden, sondern im europäischen.