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(interner Vermerk zur Unterrichtung der grünen Bundestagsfraktion vom 27. Mai 2004, bisher unveröffentlicht, leicht redigiert; ein knappes Jahr später wurde dieser Vorgang, als „visa-Affäre“ skandalisiert, Gegenstand eines Bundestagsuntersuchungsausschusses)

Als ich im Oktober 1998 meine Tätigkeit als Staatsminister aufnahm, erreichten mich innerhalb der nächsten Wochen zahlreiche Zuschriften von verärgerten und empörten Bürgerinnen und Bürgern. Die Beschwerden liefen alle darauf hinaus, dass ihnen, Angehörigen, Freunden und Bekannten zu Unrecht Besuchervisa verweigert worden seien. Dieses habe zu unzumutbaren Härten geführt. Eine genaue Beschäftigung mit den Beschwerden zeigte mir, dass in der Tat haarsträubende Härtefälle existierten. Für manche Fälle fiel es mir schwer, den Begriff Menschenrechtsverletzung zu vermeiden.

Hintergrund dieser Einzelentscheidungen muss – wie mir von Beamten berichtet wurde – eine vom Auswärtigen Amt unter AM Kinkel auf Druck des Innenministeriums unter BMI Kanther erlassene Weisungslage gewesen sein, die die Visastellen an den deutschen Auslandsvertretungen verpflichtete, ihren Ermessensspielraum so restriktiv wie möglich zu nutzen.

Zudem erreichten mich immer wieder Zuschriften von Abgeordneten – dies sei ausdrücklich betont – aller Fraktionen, auch aus der Fraktion der CDU/CSU. Die Abgeordneten beschwerten sich über die Nichterteilung von Besuchervisa, die ihnen unplausibel, ungerecht, menschenunwürdig oder gegen die Interessen der Bundesrepublik Deutschland gerichtet erschienen. Empörte Zuschriften bekam ich auch von moralischen Anwälten der Betroffenen, wie Pastoren, lokalen Ausländerinitiativen oder dem Verband binationaler Familien.

Ich habe alle diese Einzelfälle studiert und – wenn die Beschwerden mir gerechtfertigt schienen – die zuständige Rechtsabteilung im Auswärtigen Amt gebeten, die Entscheidungen noch einmal zu überprüfen. In keinem einzigen Fall habe ich selbst die Anweisung gegeben, eine Entscheidung zu ändern. Es stellte sich aber heraus, dass die Ermessungsspielräume des Auswärtigen Amts in vielen Fällen andere Entscheidungen möglich machten. So konnten zahlreiche Härtefälle neu entschieden werden, und zwar im Sinne der Antragsteller. Um es noch einmal festzuhalten: es ging nahezu ausschließlich um humanitäre Aspekte. In zahlreichen Zuschriften haben mir die Betroffenen für meinen Einsatz gedankt. Es muss ausdrücklich betont werden, dass alle Entscheidungsänderungen im Rahmen und auf der Grundlage des bestehenden Ausländerrechtes vorgenommen wurden. Zudem betrafen sie nur Fragen, die in der ausschließlichen Zuständigkeit des Außenministeriums lagen. Beschwerden gegen die Nichterteilung von Visa zur Familienzusammenführung oder Arbeitsaufnahme habe ich (manchmal kommentiert) an die zuständigen Ausländerämter der Länder und Kommunen weitergeleitet.

Die Fülle von Einzelfällen und der nicht abreißende Strom kritischer Zuschriften durch Bundestagsabgeordnete veranlassten mich, die Visumsvergabepraxis systematischer zu bearbeiten. Dabei ging es nur um die Visa, die in ausschließlicher Verantwortung des Auswärtigen Amts liegen. Dies sind die sog. Besuchervisa, die einen auf drei Monate befristeten Aufenthalt ermöglichen. Die Vergabe dieser Visa ist an bestimmte Bedingungen geknüpft. So müssen Antragsteller eine Prüfung durch das Ausländerzentralregister und das Schengen Informationssystem akzeptieren. Sie müssen die Rückkehrbereitschaft in ihr Herkunftsland nachweisen und eine plausible Erklärung über die Finanzierung ihrer Aufenthaltskosten abgeben.

Diese drei Kriterien wurden bei der Verbesserung der Vergabepraxis selbstverständlich nicht in Frage gestellt. Es ging lediglich darum, die bei der Ermessensbeurteilung bisher obwaltende schikanöse Handhabung durch eine humanere zu ersetzen. In Abstimmung mit den Fachbeamten entstand so ein Erlass, der von der CDU/CSU nun mit polemischer Absicht als „Volmer-Erlass“ bezeichnet wird.

Der Erlass ist datiert vom 3. März 2000. Er durchlief die im Auswärtigen Amt üblichen Instanzen und war bereits vom Außenminister abgezeichnet, als er mir zur Mitzeichnung vorlag. Der Staatsminister im Auswärtigen Amt kann Initiativen ergreifen, Bitten äußern und Anregungen geben. In diesem Sinne fühlt er sich auch politisch verantwortlich. Er hat aber keine formelle Weisungsbefugnis, keine Dienst- und keine Rechtsaufsicht. Deshalb kann er selbst auch keine Erlasse unterzeichnen und herausgeben. Die Beobachtung der täglichen Verwaltungspraxis obliegt den Abteilungs- und Unterabteilungsleitern.

Der Erlass hält in seinen einleitenden Abschnitten ausdrücklich fest, dass das geltende Ausländerrecht und die Schengener Instruktionen die Grundlage der Visumpolitik sind und selbstverständlich bleiben. Er beschreibt die von den Visastellen vorzunehmenden Prüfungen und leuchtet die dortigen Ermessensspielräume aus. Sodann formuliert er einige Kriterien und Mechanismen für die Entscheider in den Visastellen dazu, wie sie die bestehenden Ermessensspielräume in Zukunft nutzen sollen.

Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die gesetzlich festgelegten Versagungsgründe auch weiterhin Versagungsgründe bleiben. Nur wenn im Einzelfall Zweifel daran bestehen, ob ein Versagungsgrund hinreichend triftig ist, soll unter bestimmten Umständen der Grundsatz gelten, im Zweifel für die Reisefreiheit.

In der Polemik der CDU/CSU und diverser Medien werden diese einschränkenden Klauseln negiert. Es wird in verballhornender Weise behauptet, dass nun auch trotz vorliegender Zweifel Visa erteilt werden sollten. „Trotz Zweifeln“ ist aber eine völlig andere Aussage als „im Zweifel“. Es wird sogar behauptet, die Beweislast sei nun umgekehrt worden und die Visastellen müssten beweisen, dass die Antragsteller kein Recht zur Einreise hätten. Beide Sichtweisen sind in böswilliger Weise falsch. Der neue Erlass schafft nicht die rechtsverbindlichen Versagungsgründe ab, sondern nur die Willkür, die es bei der Anwendung der Erlasse in der Vergangenheit gegeben hat. Von daher sind auch Freiheit und Sicherheit keine Gegensätze, wie von der CDU/CSU polemisch behauptet. Die Gegensätze bestehen aus Freiheit und Sicherheit auf der einen und Willkür auf der anderen Seite.

Diesen Erlass habe ich am 8. März 2000 per Pressekonferenz der Öffentlichkeit vorgestellt. Es gab keine kritische Kommentierung, weder von Journalisten, noch von Politikern der Opposition. Zahlreiche Betroffene gratulierten mir zu der Reform. Bürgerrechtsgruppen ging sie eher nicht weit genug. Ihnen gegenüber habe ich deutlich gemacht, dass es nur um die neue Handhabung der Ermessensspielräume ginge. Die bestehenden Gesetze würden nicht tangiert.

Einige Jahre lang schien das Thema erledigt. Dann erschien Anfang 2004 in der Presse die Berichterstattung über den „Kölner Schleuserprozeß“. In diesem hat der Vorsitzende Richter die Bemerkungen gemacht, die Politik der rot-grünen Bundesregierung sei ein „kalter Putsch“ gegen das Ausländerrecht. Daraufhin startete der rechte Rand der CDU/CSU-Opposition seine Kampagne. (Übrigens genau eine Woche, nachdem der bayerische MP Stoiber über schwarz-grün philosophiert hatte.) CDU/CSU-Außenpolitiker haben sich mir gegenüber persönlich davon distanziert. Aber Angela Merkel ließ die Kampagne zu, weil die Deutschnationalen in der Fraktion ein Bonbon brauchten, nachdem einer ihrer Gesellen wegen Antisemitismus ausgeschlossen worden war.

Dazu ist grundsätzlich folgendes zu bemerken:

Die Mechanismen, um die es in dem Schleuserprozess ging, und der zitierte Erlass haben nichts miteinander zu tun. Es handelt es sich um zwei grundverschiedene Verwaltungsvorgänge, die keinen direkten Zusammenhang aufweisen. (Der Richter müsste dies eigentlich wissen, da er früher für das AA Konsularpersonal ausgebildet hat.) Der Mechanismus, der Gegenstand des Kölner Verfahrens war, ist mir selbst erst durch die Berichterstattung in der Presse bekannt geworden. Ich war in meiner Amtszeit mit diesem Mechanismus nicht befasst und hatte davon nicht einmal Kenntnis. Es waren nachgeordnete Verwaltungsverfahren. Deshalb beruhen alle weiteren Ausführungen auf Gesprächen, die ich nach Lektüre der Berichte über den Prozess geführt habe, sowie auf den Aussagen der Bundesregierung in den Fragestunden des Deutschen Bundestages. Kurz: Ich hatte mit den Vorgängen, die im Kölner Schleuser-Prozess zur Sprache kamen, nichts zu tun. Weder hat der von mir initiierte Erlass diesen Bereich berührt, noch war ich selbst damit befasst.

Zur Sache:

Die Schleuser hatten sich offensichtlich folgenden Umstand zunutze gemacht:

Um das Antragsverfahren zur Erlangung eines Besuchervisums für Gruppen abzukürzen, war vor Jahren das sog. Reisebüroverfahren eingeführt worden. Dieses ermöglicht dem Reiseaspiranten, seinen Antrag beim Reisebüro einzureichen. Dieses geht damit zur Visastelle. Dort werden die einzelnen Anträge entsprechend den oben formulierten Regeln einzeln geprüft. Entsprechend kann das Reisebüro den Reiseaspiranten die Bewilligungen überreichen oder auch nicht. Dieses ist ein Mechanismus zur Entbürokratisierung, damit nicht jeder Antragsteller persönlich am Schalter vorsprechen muss. Ein zweiter Mechanismus betraf die Aufenthaltsfinanzierung. Normalerweise müssen Reisende nachweisen, dass sie selbst über entsprechende Mittel verfügen oder einen Bürgen angeben, der im Notfall für ihn aufkommt. Dieses Verfahren kann ersetzt werden durch eine Art Reiseschutzversicherung, die im Falle mangelnder Liquidität des Reisenden einspringt. Auch dieses ist ein Mechanismus zur Entbürokratisierung.

Beide Verfahren sind nicht von der Rot-Grünen Regierung und erst recht nicht durch den zitierten Erlass eingeführt worden, sondern durch die Vorgängerregierung Kanther/Kinkel und galten im Prinzip als vernünftig. Erst der Missbrauch durch Schleuserbanden hat deutlich gemacht, dass es in diesem Verfahren Schwächen gibt. Die Schwächen könnte es insbesondere deshalb gegeben haben, weil sich an einer deutschen Botschaft, der in Kiew, möglicherweise Mitarbeiter der Visastelle nicht vorschriftsmäßig verhalten haben. Gegen einen entsandten Beamten ist in diesem Kontext ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Das AA hatte bereits personalrechtlich reagiert. Sechs Ortskräfte (angestellte Ukrainer) standen im Verdacht der Vorteilsnahme. Ihre Verträge sind daraufhin nicht verlängert worden, ohne dass es allerdings zu strafrechtlicher Prüfung kam.

Der Richter behauptet nun, die Schleuser hätten deshalb leichtes Spiel gehabt, weil durch den zitierten Erlass den Reisewilligen Tür und Tor geöffnet worden seien. Diese Wertung ist abwegig. Denn warum hätten Schleuser und mit ihnen möglicherweise kooperierende Reiseunternehmen und Angestellte der Visastelle mit hoher krimineller Energie vorgehen müssen, wenn ohnehin alles offen gestanden hätte. Das Gegenteil ist richtig: Die Tatsache, dass kriminelle Energie aufgewendet werden musste, ist ein Beweis dafür, dass die gesetzlichen Hürden noch bestanden haben und die Ermessensspielräume im Rahmen dieser gesetzlichen Regeln eben nicht ausreichten, um jeden beliebigen Zugang zu gewähren.

Neben der Reform der Visavergabepraxis hat sich auf meine Initiative hin das AA auch der personellen, finanziellen und räumlichen Ausstattung der Visastellen angenommen. Unsere Konsulate und Visaabteilungen sind für viele Menschen der erste Eindruck, den sie praktisch von Deutschland gewinnen. Sie sind Deutschlands Visitenkarten. In einer globalisierten Welt, in der wir Austausch brauchen, müssen Visastellen im Sinne von Dienstleistungszentren funktionieren. Wer mit guten Absichten nach Deutschland kommen möchte, muss wie ein guter Kunde bedient werden. Allerdings ist auch akribisch darauf zu achten, dass nicht die falschen Leute mit bösen Absichten einreisen können. Dies war unsere „Philosophie“.

Einige Visastellen, insbesondere in Osteuropa, galten als besonders problematisch. Die Visastellen in Moskau, St. Petersburg und Prag habe ich selbst inspiziert. Nach Kiew, Minsk und anderen wurden Sonderinspektionen entsandt. Es wurden Vorschläge erarbeitet, durch bauliche Veränderungen und Umorganisationen der Abläufe den Druck auf das überforderte Konsularpersonal abzumildern und den Zugang der Antragsteller zu verbessern. Das gelang auch in gewissem Umfang. Zudem wurde auf meine Initiative hin bei den Haushaltsberatungen das Personal der Rechts- und Konsularabteilungen der Botschaften und Konsulate aus der linearen Stellenkürzung ausgenommen. In einigen Visastellen entspannte sich der Druck. Mit diesen Initiativen hatte ich meine Aufgabe erfüllt. Die ständige Beobachtung der Alltagspraxis war nicht meine Aufgabe.

Deshalb habe ich davon, dass die Lage in Kiew wegen des großen Ansturms an Bewerbern angespannt blieb, nur beiläufig erfahren. Ich habe die entsprechenden Referate gebeten, mich sofort zu informieren, wenn sie glaubten, dass zur Bewältigung dieser Probleme neue politische Initiativen und Entscheidungen nötig seien. Mir wurde signalisiert, dass man die Probleme „mit Bordmitteln“ gelöst bekomme und ich mich nicht weiter darum kümmern müsse. Damit war für mich das Projekt der Reform der Visumpraxis abgeschlossen. Ich hatte weder die Dienst- noch die Rechtsaufsicht, die mich veranlasst hätte, die Behördenpraxis ständig im Detail zu beobachten und zu überprüfen. (Schließlich hat ein Staatsminister auch noch ein paar andere Dinge zu tun.) Zudem hatte ein neuer beamteter Staatssekretär seinen Dienst aufgenommen und hochmotiviert Vorgänge, die zuvor über meinen Schreibtisch liefen, an sich gezogen.

Zum Schluss ein typisches Beispiel für eine neu eingeführte Erleichterung:

Eine türkische Großmutter besuchte jahrelang ihre Kinder und Enkel in Deutschland und kehrte jedes Mal regelgerecht nach Hause zurück zu ihrem Mann. Dann starb ihr Mann. Nun wurde der Oma der Besuch von Kindern und Enkeln mit der Begründung verweigert, wegen des Todes des Mannes könne sie die Rückkehrbereitschaft nicht mehr nachweisen (Regelung Kanther/Kinkel). D.h. der Tod des Mannes zog die völlige Trennung von der Familie nach sich. Der neue Erlass nun sieht in einem solchen Fall (Art 6 GG, Schutz der Familie, folgend) vor, dass jemand, der erwiesenermaßen in der Vergangenheit regelrecht ein- und ausgereist ist, bis auf weiteres einen Vertrauensschutz genießt. Oma durfte ihre Verwandten wieder besuchen.