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(Bundestagsrede am 26. Januar 1995 zum Besuch des Bundeswirtschaftsministers (F.D.P) in Russland während des Tschetschenienkrieges. Noch war Boris Jelzin an der Macht, Wladimir Putin nicht in Sicht, aber ein neuer Zarismus bereits absehbar. Bundestag-Plenarprotokolle 13/15, S. 917)

Russland, Tschetschenien und die F.D.P

Am Freitag verabschiedete der Bundestag einstimmig eine Resolution, die den russischen Angriff auf Tschetschenien verurteilte. Am Freitag hatte die Bundesregierung auf Druck der Opposition offiziell ihre Haltung ändern müssen. Am Freitag ging sie zu Russland auf Distanz — verbal. Aber schon am Montag flog Wirtschaftsminister Rexrodt (F.D.P) nach Russland, um Geschäfte zu machen. Dies ist ein Affront gegen den Deutschen Bundestag, den wir zurückweisen müssen.

Aus guten Gründen haben auch BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bisher keine Wirtschaftssanktionen gefordert. Aber der Verzicht darauf heißt nicht „weiter so“. Es darf kein Business as usual geben. Herr Rexrodt, Sie haben zwar betont, die Kritik an der russischen Aggression dürfe kein Lippenbekenntnis bleiben, aber nichts anderes haben Sie getan. Sie haben artig Ihr Missfallen ausgedrückt, artig auf die diplomatische Antwort gewartet, und dann gingen Sie über zum geschäftlichen Teil der Veranstaltung. Nicht nur zahnlos war Ihre Kritik, Herr Rexrodt, sondern es war schlimmer: Im Prinzip haben auch Sie den Krieg wieder verharmlost, indem Sie Sanktionen zwar für möglich hielten, aber nur für den Fall, dass sich der Krieg verschlimmere — als sei das massenhafte Hinschlachten von Kindern, Frauen und alten Menschen nicht schon der Gipfel der Grauenhaftigkeit.

Mit dieser Verharmlosung, Herr Rexrodt, setzen Sie die Politik Ihres F.D.P.-Kollegen, Außenminister Kinkel, fort, der in mittlerweile mehreren Briefen an die Bevölkerung die Berechtigung des russischen Angriffskrieges zu erklären versucht. Nachdem Herr Kinkel einen kürzlich aufgetauchten Brief als Einzelfall abgetan hat, beweisen nun neue Schreiben — siehe „Frankfurter Rundschau“ von heute —, dass es sich nicht um den Fehler eines voreiligen Mitarbeiters handelte, sondern um die offizielle Politik des Auswärtigen Amtes. Wir verlangen, dass Herr Kinkel hierzu erneut Stellung nimmt. Wir lassen nicht zu, dass er sich aus der Verantwortung stiehlt und alles auf weisungsgebundene Mitarbeiter abschiebt. Wir werden Herrn Kinkel nicht mit einem Bauernopfer davonkommen lassen.

Wir fragen: Was sagt eigentlich der Bundeskanzler zu diesem Getümmel? …Wer regiert hier eigentlich wen? Gibt die Außenpolitik den Rahmen für die Wirtschaft vor, oder wird sie selbst getrieben? Es hat den Anschein, als habe der Ostausschuss der deutschen Wirtschaft den Bundeswirtschaftsminister vor sich hergeschoben: als Handelsvertreter nach St. Petersburg und als PR-Mann nach Bonn, wo er erklären soll, dass das alltägliche Geschäftemachen irgendwie dem Frieden diene. Ich frage Sie, Herr Rexrodt: Warum konnte die Reise nicht verschoben werden, bis der Krieg beendet ist? Warum nicht, wo im Moment die Mitgliedschaft Russlands im Europarat zu Recht auf die lange Bank geschoben und das Wirtschaftsabkommen mit der Europäischen Union nicht ratifiziert wird? Ich sage Ihnen, warum: Just in dem Moment, in dem in Europa endlich einmal gemeinsame außenpolitische Schritte gemacht werden — woran der Bundesregierung angeblich immer besonders gelegen war —, geht es nach Ihrem eigenen nationalen Interesse, und das heißt immer noch wirtschaftliche Expansion und Verbesserung der deutschen Konzernbilanzen.

Zu Zeiten Gorbatschows wäre eine entschlossene Außenwirtschaftsstrategie nötig gewesen, um ihn dabei zu unterstützen, das stalinistische Integrationsmodell, das auf Repression und militärisch-industriellem Komplex fußte, durch den Ausbau der Konsumgüterindustrie und allgemeine Wohlstandssteigerung zu ersetzen. Damals war man sehr, sehr zurückhaltend. Heute dient der Handel angeblich der Stabilisierung der Demokratie. Aber dass eine ungerichtete Wirtschaftspolitik ausgerechnet die demokratischen Elemente stützt, ist eine reine Behauptung. Im Moment sehe ich hauptsächlich Chaos und als denkbares absehbares Ordnungsmodell die Einführung eines neuen Zarismus.

Ich halte fest: Es gibt in diesem Konflikt keine sinnvolle Verknüpfung von Außenpolitik und Wirtschaftspolitik durch die Bundesregierung. Die Wirtschaft interessiert sich nur dann für die Verletzung von Menschenrechten, wenn sie das Geschäft stört. Besonders makaber ist die Äußerung von Wolff von Amerongen: Wir dürfen keine Wirtschaftssanktionen verhängen, weil wir russisches Erdgas und Erdöl brauchen. Es gibt, wie gesagt, gute Gründe gegen Sanktionen. Aber dieser ist keiner. Denn es geht beim russischen Angriff auf Tschetschenien doch auch irgendwie um eine strategische Kontrolle von Pipelines.

Ich frage Sie, Herr Rexrodt: Ist der Angriffskrieg Russlands gegen Tschetschenien im Interesse der deutschen Wirtschaft, weil er die Erdölversorgung sichert? Ich möchte eine klare Antwort auch von Ihnen als F.D.P.-Mann. Wenn in den letzten Jahren Geldverdienen und Wahrung der Menschenrechte in Gegensatz gerieten, entschied sich die F.D.P. für das Geld und gegen die Menschenrechte. Damit muss Schluss sein!