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(Mit meiner letzten Rede als Parteivorsitzender auf der Bundesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90/Die Grünen am 05. November 1994 in Köln legte ich Rechenschaft über die Arbeit des Bundesvorstandes ab. Obwohl wir gerade das Comeback in den Bundestag geschafft hatten, konzentrierte ich mich auf die Schattenseite des Wahlergebnisses: im Osten hatten wir schlecht abgeschnitten, aus manchen Neuen Ländern kamen keine Abgeordneten nach Berlin. Hier die Transkription der Rede, gekürzt auf die entsprechenden Passagen)

 

Trotz des insgesamt gesehen hervorragenden Wahlergebnisses ist unser Jubel gedämpft. Das Ergebnis in den Neuen Ländern entspricht nicht unseren Hoffnungen. Hier setzte sich eine Entwicklung fort, die sich schon bei den vorhergehenden Landtagswahlen abzeichnete. Wir liegen in Ost-Deutschland strukturell unter 5 %.

Das ist bitter. Es ist besonders bitter, wenn man die Millionen vor Augen hat, die vor 5 Jahren auf die Straße gingen, um das SED-Regime wegzufegen. Es ist besonders bitter für die Freundinnen und Freunde im Osten, die diese Bewegung mitinitiiert und mitgeleitet haben. Sie sind jahrelang oft unter großen persönlichen Risiken für ihre demokratischen Überzeugungen eingestanden. Sie haben Verfolgung und Denunziation auf sich genommen. Sie haben dies getan, um eine freie Gesellschaft zu erkämpfen, in dem nicht die Nomenklatura einer zentralistischen Kaderpartei, sondern alle Bürgerinnen und Bürger unabhängig von ihrem ideologischen Standort demokratisch die Geschicke der Gesellschaft bestimmen sollten. Es ist bitter, wenn die, die die Demokratie erkämpft haben, nun im demokratischen Prozess an den Rand gedrückt werden. Es ist bitter, wenn man weder den undemokratischen Osten noch den etablierten Westen wollte – und nun beides bekommen hat, in Gestalt von CDU, SPD und PDS.

Deshalb sollte diese Bundesversammlung die Diskussion über einen Neubeginn im Osten einleiten mit einem klaren Bekenntnis: all denen, die gearbeitet und gekämpft haben, und trotz größten persönlichen Einsatzes nun nicht den Platz gefunden haben, der ihnen gebührt, all denen gehört unsere gemeinsame Solidarität.

Wir sagen hier ganz klar und unmissverständlich: wir werden unsere Freundinnen und Freunde im Osten nicht im Stich lassen! Wir werden den Osten nicht preisgeben und denen überlassen, die im Moment dort stärker sind als wir! Wir werden einen neuen Zugang suchen und wir werden ihn finden!

Wir wissen aber auch, dass reine Durchhalteparolen uns nicht helfen werden. Deshalb gehört zur Solidarität auch die kritische Analyse der Rahmenbedingungen und der hausgemachten Fehler.

Die Rahmenbedingungen sind extrem schwierig für uns: Wir sind eingekeilt zwischen den großen aus dem Westen kommenden Volksparteien CDU und SPD auf der einen, und einer populistischen Regionalpartei namens PDS auf der anderen Seite. Wer zu den Gewinnern der Einheit zählt, zu den materiellen, neigt zur Wahl der CDU; die Verlierer wenden sich der PDS zu.

Das ist nicht nur ein ostdeutsches Phänomen. In fast allen mittel -und osteuropäischen Staaten erleben wir zurzeit die Restauration der ehemaligen kommunistischen Staatsparteien unter reformsozialistischem Etikett. Die Enttäuschung, dass die Ausrichtung auf den Westen nicht sofort so viel Wohlstandssteigerung brachte wie erhofft, scheint sich zu verbinden mit der Suche nach alten Gewissheiten, der Suche nach einer vergangenen Welt, die zwar nicht demokratisch und komfortabel, aber – wenn auch repressiv – so doch sicher erschien, in der die eigene Lebensperspektive zwar vor- und fremdbestimmt, aber deshalb für die meisten auch planbar und überschaubar war. Und dass diese Parteien den Westen Gruseln machen, macht sie für viele als Ausdruck von Protest, Empörung und Fatalismus gerade interessant.

Hinzu kommt, dass wir im Osten zu wenige sind. Jeder arbeitet dort mit großem Engagement. Aber wir sind nur knapp 3000. Nur 3000 für ein Gebiet, das wenige Metropolen hat, aber viele ländliche Kleinstädte, mit schwierigen Verkehrsverbindungen, mit einer Presselandschaft, wo die Bundespolitik nicht immer die Seite 1 bekommt, wo zentrale Botschaften schwer in die Fläche zu vermitteln sind. Wir arbeiten an gegen die tradierten Stadtteilstrukturen der SED, die heute von der PDS genutzt werden. Wir müssen erkennen, dass sich von denen, die sich zur Wendezeit Bürgerbewegung nannten, nur ein geringer Teil bei uns eingefunden hat. Und wenn wir gehofft hatten, wer nicht Mitglied wird, arbeitet im Umfeld, und wer das nicht schafft, der wählt uns zumindest – dann sind wir um diese Hoffnung nun ärmer.

Aber auch geplatzte Illusionen sind Wahrheiten, da hilft alles nichts, wir müssen mit den neuen Fakten umgehen. Fatal wäre es, die Ergebnisse schön zu rechnen nach dem Motto „eine Basis von dreieinhalb bis vier Prozent, das ist für den Anfang doch ganz gut“. Ich würde dieser These recht geben, wenn wir aus dem Nichts gekommen wären. Angesichts des historischen Vorlaufs aber, meine ich, müssten wir uns ohne Augenwischerei andere Fragen zumuten. Zum Beispiel diese: Die Theorie gesellschaftlicher (sozialer) Bewegungen lehrt – und nun erlaubt mir bitte einige Sätze Soziologie -, dass alle Bewegungen Konjunkturen unterworfen sind. Sie steigen auf, sie erleben einen Höhepunkt der Wirksamkeit, sie bröckeln ab. Und ob etwas von ihnen übrig bleibt außer einer Hommage im Geschichtsbuch hängt davon ab, ob sie sich auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung Institutionen zulegen können, die dauerhaft sind und konjunkturunabhängig auch dann weiterwirken, wenn die Bewegung abflaut.

Es gibt im Westen ein gelungenes Beispiel für die Institutionalisierung von Bewegungen. Das ist die Gründung der Grünen, die, aus dem Protest der siebziger Jahre entstanden, auch dann weiterwirkten, als die Bewegungen auseinanderliefen. Neben den Grünen gibt es eine Anzahl von Verbänden und Instituten, die auf der nichtparteilichen Ebene die Impulse des Protestes aufnahmen und in langfristige Arbeit umsetzten.

Aber auch ein Beispiel für eine misslungene Institutionalisierung gibt es im Westen. Das war das Schicksal der APO der späten sechziger Jahre. Als ihr Drive nachließ, löste sich die Bewegung auf in eine Unzahl verschiedener Tendenzen. Die einen rannten zur SPD, andere zur DKP, andere befehdeten sich in einer Unzahl heftig verfeindeter maoistischer Kleinstparteien, einzelne bombten bei der RAF, während sich andere nur noch bekifften. Gemeinsame Perspektiven fanden viele erst zwölf Jahre später, als die Grünen auftauchten und eine neue politische Heimat boten.

Was nun ist im Osten geschehen? Ich habe den Eindruck, dass die Institutionalisierung der großen Wendebewegung halb gelungen ist. Die Fusion von Grünen und Bündnis 90 ist der wichtigste Ausdruck. Doch viele, die wir hätten binden wollen, sind nicht mit uns gegangen. Zu viele, wie ich meine.

Das hat etwas mit Emotionen zu tun und mit einer Rationalität, die ihnen zuwiderläuft. Politik aber gelingt nur dann, wenn beides vermittelt ist: Gefühle und Vernunft, Kopf und Bauch, Bedürfnis und Bewusstsein, Spontaneität und Planung. Beide – Kopf und Bauch – fließen zusammen im Begriff des Interesses. Hier sehe ich ein Defizit. Die Oppositionellen der DDR gerieten unter anderem deshalb in Widerspruch zum System, weil dort jeder Individualismus eingeebnet wurde. Das Individuum begehrte auf gegen den totalitären Staat. Was also ist verständlicher als der Wille, nun endlich individuell gestalten zu dürfen. Was ist schmerzlicher, als einsehen zu müssen, dass auch im demokratischen Staat dem Individualismus Grenzen gesetzt sind, wenn man effektiv etwas durchsetzen will. Voraussetzung dafür ist die Entwicklung eines gemeinsamen Willens. Der individuelle Gestaltungsanspruch muss aufgehoben werden in eine gemeinsame Interessendefinition. Wo liegt das gemeinsame Interesse? Das scheint mir im Osten noch nicht hinreichend bestimmt zu sein.

… Wir müssen die Punkte finden, die uns eine neue Handlungsperspektive eröffnen, die Punkte, die wir selbst beeinflussen können. Der Kernpunkt sind wir selbst. Ich möchte keine oberflächliche Debatte über all die kleinen Fehler die überall gemacht worden sind, in Ost wie in West. Ich möchte auch keine persönliche Schuldzuschreibung; denn das Problem zu personalisieren hieße es gleichzeitig zu bagatellisieren. Ob alle Äußerungen prominenter VertreterInnen und Vertreter immer angemessen waren oder nicht – darüber mag man streiten, unfehlbar sind wir alle nicht.

Nach meinem Empfinden ist ein anderer Punkt entscheidend, nämlich welches Image wir im Osten haben. Image, das ist etwas Objektives. Das ist das Bild, was die Öffentlichkeit über uns gespeichert hat, was die Leute von uns im Kopf haben. Solche Bilder bauen sich über lange Fristen auf. Es ist nicht das Problem eines Wahlkampfes. Ein Wahlkampf kann nur die Voreinstellungen, die vorhanden sind, abrufen. Er kann die mobilisieren, die Sympathie hegen. Er kann aber nur in geringem Masse lang wirkende Bilder korrigieren. Eine Partei wird nicht nach dem gewählt, was sie ist, sondern was sie zu sein erscheint.

Bei den Bildern, die über uns existieren, ist es egal, ob wir selbst sie in die Welt gesetzt haben oder ob andere das aus unfreundlicher Absicht taten und wir nicht den Weg oder den Willen hatten, ihnen offensiv entgegenzutreten. Sie sind da, wir müssen uns damit auseinandersetzen und eine aktive Strategie finden, sie zurecht zu rücken, wenn sie falsch sind.

Wenn ich im Osten war – und ich bin recht oft dort und habe dort auch außerhalb der Partei eine Menge sehr enger persönlicher Freunde – -dann begegnen mir dort immer drei Bilder, die ich für gleichermaßen problematisch halte. Sie begegnen mir dann, wenn ich Leute, die von ihrer ganzen Haltung her Wähler von uns sein könnten, frage, warum sie uns nicht wählen. Wenn die Vertrauensbasis hergestellt ist, bekommt man sehr offene Antworten.

Nun leugne ich nicht, dass ich Wessi bin, und auch wenn ich Vorsitzender der gesamten Partei bin, wird mir von vielen Freundinnen und Freunden im Osten, insbesondere denen, die anderer Meinung sind als ich, abgesprochen, mich zum Osten äußern zu dürfen. Das akzeptiere ich nicht. Wir gewinnen Wahlen gemeinsam, wir verlieren Wahlen gemeinsam, der Erfolg hat viele Mütter und Väter und auch der Misserfolg. So wie viele Ostdeutsche ihre Befindlichkeiten haben, die es unerträglich erscheinen lassen, wenn die Wessis sich zum Osten äußern, so haben umgekehrt auch die Wessis Befindlichkeiten. Viele wissen absolut nicht mehr, wie sie sich verhalten sollen, wenn sie im gleichen Atemzug aufgefordert werden, sich im Osten zu engagieren, verbunden mit dem sofortigen Vorwurf „Ihr macht uns platt“. Gemeinsame Verantwortung für die gemeinsame Sache heißt auch, jeder mische sich in jede Angelegenheit. Dieses Argument, dass wir eine gesamtdeutsche Partei sind, haben wir immer gegen den angeblichen Ostlobbyisten PDS vorgebracht.

Ich bin sicher, fast jedes Wort, das ein Wessi zum Osten sagt, ist nur das Zitat einer Meinung, die auch im Osten selbst existiert. Nur können sich auch dort manche Meinungen nicht so gut artikulieren wie andere. Und auch denen zur Sprache zu verhelfen, ist die Aufgabe eines Parteisprechers.

Zu den Bildern also, die mir begegnet sind: Zum einen wird uns vorgehalten, unser Begriff von Umweltpolitik sei zu eng. Wir würden den notwendigen wirtschaftlichen Neuaufbau einer auf Biotopschutz verengten Ökologiepolitik opfern. Zum anderen hat man den Eindruck, wir würden für richtiges Verhalten in der DDR so hohe moralische Messlatten auflegen, dass der Normalsterbliche nur drunter hergehen konnte.

Zum Beleg, dass dies nicht die boshafte Erfindung eines Wessis ist, möchte ich Euch aus einem Brief vorlesen, den mir ein junger Mann aus dem Osten zugeschickt hat, nachdem ich nach den Niederlagen von Sachsen und Brandenburg im Fernsehen forderte, wir brauchten nun jede Stimme. Der Mann sympathisiert mit uns und hat mir geschrieben, warum wir die Stimmen seiner Eltern nicht bekommen haben. …

Liebe Freundinnen und Freunde,

zentrale Aufgabe der nächsten Jahre müsste es meines Erachtens sein, diese Bilder aufzubrechen. Organisatorische Verbesserung der Arbeit, Unterstützung der Ostkreisverbände durch westliche usw. das ist alles völlig richtig und nötig. Aber es greift zu kurz. Auch die Vorstellung, der Westteil der Partei könne eine neue Aufbaustrategie für den Osten quasi von oben durchsetzen, halte ich für völlig falsch.

Wir brauchen im Osten eine gründliche Erneuerung, ohne sie geht es nicht, aber sie kann nur aus dem Osten selbst kommen. Dort müssen Initiativen ergriffen werden, um die falschen Bilder abzubauen. Denn dass sie falsch seien, wird mir von Mitgliedern ständig versichert. Es sei falsch, dass es zu rigorose Maßstäbe dafür gebe, wer bei uns mitarbeiten dürfe. Ich möchte es gern glauben, auch wenn ich andere Mitgliederstimmen aus dem Osten im Ohr habe, die das Gegenteil versichern. Seis drum. Wir dürfen nicht passiv abwarten, bis die Bilder von selbst verblassen. Wir müssen aktiv dagegen angehen. Wenn es denn so ist, dass niemand den Weg in unsere Kreisverbände fürchten muss aus Angst, sich für seinen bisherigen Lebensweg rechtfertigen zu müssen oder einfach, weil er sich der Prozedur, die er erwartet, nie unterziehen will – nicht weil er sich nicht behaupten könnte, sondern weil er es als Verstoß gegen die neugewonnene Menschenwürde erachtet – wenn also solche Befürchtungen gegenstandslos sind, warum rufen wir dann nicht hinaus, wenn Ihr nicht schuldig geworden seid, wenn Ihr unsere Ideen teilt, dann seid Ihr uns willkommen, kommt her, wir wollen Euch, wir brauchen Euch, hier könnt ihr eine neue politische Heimat finden?!

Es ist falsch zu glauben, im Osten gäbe es nicht das aufgeklärte ökologisch-soziale Milieu, aus dem wir im Westen den Zulauf erhalten. Mag sein, dass es das nicht in dem Umfang gibt, nicht mit demselben alternativ-kulturellen Ausdruck. Hier aber einen objektiven Grund für unsere Schwäche zu sehen, halte ich für Selbstbetrug. Es gibt diese Leute, und sie wählen PDS.

Ganz von der Hand zu weisen ist der Vorwurf nicht, unser Verständnis von Umweltpolitik sei im Osten manchmal etwas eng und berücksichtige nicht die Notwendigkeit des wirtschaftlichen Neuaufbaus. Ein Beispiel: wenn wir insgesamt eine ökologische Verkehrspolitik wollen, beim Schwerverkehr mit dem Vorrang von Schiene und Wasserstraße, dürfen wir dann die Erweiterung einer Schleuse ablehnen, die einen Fluss für den nächstgrößeren Binnenschiffstyp passierbar machen würde, nur weil der Schleusenerweiterung ein kleines Stück Natur zum Opfer fällt. Das ist kein Horror-Projekt wie der Donau-Kanal. Ist es nicht plausibel, wenn uns dann entgegengehalten wird, dass wir nicht nur Autobahnen, sondern auch die Alternativen dazu verhindern und so den gesamten Neuaufbau gefährden? Ökologie ist kein Ladenhüter, erst recht nicht ein westlicher. Aber es muss Ökologie sein, Ökologie im Sinne einer umfassenden naturverträglichen Wirtschafts-, Technologie- und Arbeitsmarktpolitik, nicht von all dem abgekoppelter Biotopschutz.

Wie viele von den Jungwählern haben wir erreicht, insbesondere von den weiblichen? Warum sind so viele von uns weg zur PDS gelaufen? Zur Partei der spießigen alten Männer? Wer heute mit 18 Jahren Erstwählerin ist, war im Wendejahr 1989 13 Jahre, fast noch ein Kind, und hatte mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit das blaue FDJ-Hemd an. So manches Mal habe ich von jungen Leuten gehört, sie fühlten sich von uns deshalb ins Unrecht gesetzt. So quasi nach dem Motto, einmal Blauhemd, immer Blauhemd. Dazu kann ich nur sagen: auch ich habe mit 13 ein blaues Hemd getragen, das Blauhemd der katholischen Jugend, das Blauhemd der polnisch-pietistischen Richtung des Katholizismus, die im Ruhrgebiet vorherrscht und ich hatte das Empfinden, dass die Indoktrination von dieser Seite genauso eingehend ist. Davon habe ich mich auch erst mit 18 freimachen können. Wir dürfen niemanden, der im Osten nicht in eine kirchliche Familie, sondern in eine SED-Familie hineingeboren wurde, in einer Art Erbsünde halten. Entscheidend ist, ob ein junger Mensch auf dem Weg der Selbstwerdung Demokrat wurde und ob er sich heute wie wir für tiefgehende soziale und ökologische Reformen einsetzt. Alle die das wollen, sollten wir willkommen heißen.

Oder die Intellektuellen. Warum sind sie nicht bei uns? Eine Antwort finden wir bei Jens Reich, den wir wegen seines Versöhnungskurses als Präsidentschaftskandidaten unterstützten. Er schrieb in der FAZ: „Unter meinen Kollegen kenne ich mehrere, die jetzt zur PDS neigen, obwohl sie einst zur Opposition oder zumindest zu den Unzufriedenen gehörten, 1990 für eine Selbstreform der Akademie der Wissenschaften stritten und bei der einigungsvertragsbedingten Transformation in den Abwicklungs-Shredder geraten sind. Mit ABM-Programmen versuchen sie, ihr Lebenswerk zu retten und sind verbittert, dass aufstrebende Westkollegen in die Positionen berufen werden. Obwohl sie nicht bestreiten, dass Erneuerung und Blutauffrischung dringend notwendig waren. Man darf da nicht lauter Ewiggestrige vermuten: Die Enttäuschung setzt auch da ein, wo Erneuerungsbereite von der Erneuerung ausgeschlossen wurden.“

Das war gemünzt auf die staatliche Politik. Aber trifft es nicht auch auf uns zu? Haben wir nicht zu sehr auf Abstand gehalten, weil das Gros der Intellektuellen in staatlichen und halbstaatlichen Einrichtungen arbeitete und damit direkt oder indirekt von der SED abhängig war? Haben wir nicht zu ausschließlich auf die gesetzt, die im offenen Widerstand gegen das Regime Kopf und Kragen riskiert haben? Haben wir nicht all die Unzufriedenen übersehen, die schon zur SED-Zeit wie jeder durchschnittliche Bürger in jedem normalen Staat versucht haben, das beste aus der Situation zu machen. Nicht nur für sich selbst, sondern für das Gemeinwohl? Sollen wir all die Lehrerinnen und Lehrer, die mit oder ohne SED-Mitgliedschaft, versucht haben, aus ihren Schülern anständige Menschen zu machen, „links“ liegen lassen, weil sie im Apparat gearbeitet haben oder müssen wir nicht eher auf sie zugehen, weil sie schon damals Keimzellen zur Humanisierung der Gesellschaft waren?

Heute sitzen sie da, die Intellektuellen, und schauen auf den Scherbenhaufen. Gebrochene Identitäten, enttäuschte Hoffnungen, grausame Irrtümer, zerstörte Lebenswege… haben auch wir sie sitzen lassen? War unsere Einladung nicht herzlich genug? Sind sie deshalb zu denen gegangen, die Verständnis signalisieren – und sei es auch geheuchelt.

Was die Vergangenheit angeht, kann es kein „Schwamm drüber“ geben. Verbrechen sind Verbrechen und gehören bestraft. Opfer bleiben Opfer und müssen rehabilitiert werden. Die historische Aufarbeitung muss zeigen, wie das System funktioniert hat und warum es sich solange halten konnte. Aber dürfen wir die ehemalige DDR-Gesellschaft nur schwarz-weiß malen? Dürfen wir suggerieren, wer nicht Opfer war, habe den Tätern zumindest fahrlässig die Herrschaft gesichert?  Die allermeisten von uns sagen „nein“.  Deshalb lasst uns doch einen Schritt weiter gehen und zugestehen: Es gab den offenen Widerstand, viele davon sind zu uns gekommen, wir sind stolz auf sie und möchten sie nicht missen. Aber es gab auch viele, die ohne offene Opposition versucht haben, Veränderung zu bewirken, den Schaden gering zu halten, die Gesellschaft zu humanisieren. Ist es denn denkbar, dass es in der DDR nicht an vielen Stellen überall kleine Gorbatschows gab, die aus dem Apparat heraus versuchten, die Entwicklungen umzulenken? Die offene Opposition und die internen Reformer – warum stehen sie immer noch sprachlos nebeneinander? Ist es nicht an der Zeit, sich die Hand zu reichen. Gemeinsam zu arbeiten an einer humanen und sozialen Bundesrepublik?

Sehen wir uns ein drittes Bild an, das über uns zirkuliert. Wir sind die Partei, deren Vorläufergruppen die Demokratie erzwangen. Heute ist Demokratie existent. Nicht perfekt, mit vielen Schwächen, aber sie hat sich anstelle der totalitären Gesellschaft etabliert. Es ist völlig richtig, weiter zu streiten für mehr Demokratie, gegen Ausgrenzung, gegen Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Diesen alltäglichen Kampf werden wir führen. Doch manche Leute fragen sich, ob wir nicht zu oft mit einem abstrakten Demokratieverständnis arbeiten. Ob wir nicht zu sehr uns auf die formale Seite der Demokratie beschränken. Auf die Demokratie als die Garantin allgemeingültiger Verkehrsformen, an die sich jeder zu halten hat. Unter deren Dach dann die unterschiedlichen sozialen Interessen ausgekämpft werden. Viele fragen uns, zieht Ihr Euch nicht zu oft auf die Rolle des Schiedsrichters zurück, der dann eingreift, wenn eine der Interessengruppen foul spielt? Wessen soziale Interessen vertretet Ihr denn eigentlich? Wie haltet Ihr es mit Kapital und Arbeit? Seid Ihr dem Interessenstreit gegenüber unentschieden? Von dieser Frage aus ist es für viele ein kurzer Schritt zu dem Ergebnis: Demokratie schön und gut, aber wir haben heute andere Sorgen, wir haben soziale Probleme und deren Lösung verspricht die PDS.

Völlig richtig, wer die zahlreichen Initiativen der Bundestagsgruppe anschaut, wer unsere Programme liest, der findet viele Antworten auf die drängenden Alltagsfragen im Osten. Aber warum gelang es uns nicht, dies zur imageprägenden Politik zu machen? Warum wurde dies von den anderen Bildern überlagert? Hier liegt meines Erachtens unsere Hauptaufgabe: wir müssen uns darstellen als eine politische Kraft, die an den Alltagssorgen ansetzt. Nicht im populistischen Sinne, das dürfen wir nicht; nicht mit Einzelfallhilfe, das schaffen wir nicht. Aber mit Konzepten und der politischen Unterstützung von Initiativen aus der Gesellschaft. Wir müssen eine Kraft sein, die das ökologische mit dem sozialen verbindet, die das demokratische mit dem sozialen verbindet, die Ökologie als Element des wirtschaftlichen Neuaufbaus sieht und nicht als dessen Verhinderung, die sich mit denen solidarisiert, die zu kurz kommen in der Gesellschaft, mit den Verlierern der Einheit, eine Partei, die mit denen kooperiert, die nicht der Ideologie anhängen, das Streben nach Eigennutz werde in der Summe schon den Gemeinnutz bringen, sondern die die unterstützt, die mit intelligenten, ökologisch durchdachten und sozial korrigierten Konzepten die Neuentwicklung einer ganzen Gesellschaft im Auge haben.

Wir müssen die falschen Bilder zurechtrücken. Aktiv. Auch wenn es anstrengend und schmerzlich ist. Aber es gibt keine Alternative, die einfacher wäre. Die Alternative wäre unser politisches Aus. Erst im Osten, später vielleicht auch in Gesamtdeutschland. Das sollten auch all die Wessis bedenken, denen die Solidarität mit dem Osten als Pflichtübung erscheint. Wo liegt die Gefahr? An diesem Punkt nun muss die PDS stärker in den Blick kommen …

(es folgen Ausführungen zum strategischen Dilemma von B 90/Grüne, falls der PDS die Ausdehnung nach Westen gelingt.)

… denn auch unsere Oppositionsrolle in Bonn zielt in diese Richtung. Wir werden opponieren gegen die Zerstörung des Sozialstaates, die das große Kapital durchsetzen will! Wenn die Arbeitsmärkte amerikanisiert und die Kapitalmärkte dereguliert werden, werden wir opponieren! Wenn den Enttäuschten und Benachteiligten die alten oder neue Sündenböcke vorgehalten werden, auf dass sie sich an diesen abreagieren können, werden wir opponieren! Wenn die Regierung von den sozialen Unruhen, die sie mit ihrer Wirtschaftspolitik provoziert, durch außenpolitische Abenteuer ablenken will, werden wir opponieren! Wir werden opponieren, wenn ihre Europapolitik den Kontinent in ein riesiges New York verwandeln will, im Westen Manhattan, im Osten die Bronx!

Unsere Zukunft, liebe Freundinnen und Freunde, liegt gleichermaßen in Ost und West oder es gibt keine… Wir haben eine zweite Chance. Im Westen haben wir es bewiesen nach unserem Ausscheiden aus dem Bundestag, dass wir sie zu nutzen verstehen. Wir müssen sie auch im Osten nutzen. Lasst uns dort einen Neuanfang versuchen, wie er uns für den Westen mit der Erklärung von Neumünster gelungen ist. Warum bitten wir nicht die Freundinnen und Freunde im Osten, für die Dezember-Versammlung ein gemeinsames Papier zu entwerfen, ein Papier, das die neue Politik umschreibt, eine Politik mit klaren Interessen, eine Politik, die sich mit denen solidarisiert, die keine Arbeit, keine Wohnung, keine Kindergartenplätze haben , eine Politik, die die Ökologie mit dem industriellen Neuaufbau verbindet, eine Politik gegen den Populismus, eine Politik gegen den Fatalismus und eine herzliche Einladung an alle, die eigentlich immer schon mal bei uns mitmachen wollten.