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(Rede vor dem Deutschen Bundestag zur NATO-Ost-Erweiterung, 26. Juni 97.
Eine erweiterte politikwissenschaftliche Analyse der Haltung der Grünen zum Thema findet sich in meinem Buch „Die Grünen und die Außenpolitik“, Münster 1998, S. 538 ff. Das Kapitel gibt es hier als
PDF.)

Der Deutsche Bundestag will heute einen Prozess beurteilen, der historischen Charakter trägt und die internationalen Beziehungen auf Jahre hin prägen wird. Umso wichtiger ist eine sorgfältige Analyse der Chancen und der Risiken, die diesem Prozess innewohnen und eine Offenlegung des eigenen Maßstabs. Manchem geht es darum, die NATO als Organisation zu retten, wo die ursprüngliche Aufgabe der Verteidigung gegenüber einem denkbaren Angriff durch die Sowjetunion obsolet geworden ist. Dieser Maßstab ist nicht der unsere. Manche meinen, die Ost-Erweiterung würde die geostrategische Situation Deutschlands verbessern, das dann nicht mehr länger Frontstaat eines Militärbündnisses wäre. Diesen nationalen Maßstab lehnen wir entschieden ab.

Manche meinen, man müsse den Sicherheitsbedürfnissen der osteuropäischen Nachbarn gerecht werden. Diese Überlegung ist notwendig und legitim. Sie wird aber nur dann zu einem befriedigenden Ergebnis führen, wenn sie mit einer anderen Überlegung verknüpft wird. Diese ist für uns die entscheidende.

Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes bestand die einmalige historische Chance, jenseits der existierenden Militärbündnisse zu einem System gesamteuropäisch-atlantischer Sicherheit zu gelangen. Die geeignete Basis wäre die KSZE, heute OSZE gewesen, die Erfolgsgeschichte geschrieben hatte. Es bestand die Chance, die innereuropäische Konfrontation, die den Kontinent in zwei Blöcke zerrissen hatte, zu ersetzen durch eine gesamteuropäische Integrationspolitik. Es bestand die Chance zu einer wirklichen Friedenspolitik, die über die Abwesenheit von Krieg hinaus die gerechte Verteilung von Wohlfahrt und demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten sowohl in den Einzelstaaten als auch international anstrebt. Eine umfassende gesamteuropäisch-integrative Friedenspolitik – das ist für uns der entscheidende politische Maßstab zur Beurteilung der NATO-Erweiterung.

Gemessen daran muss man den aktuellen Prozess mit allergrößter Skepsis betrachten. Für uns sind drei Aspekte besonders problematisch.

  1. Erstens. Zahlreiche mittelosteuropäische Staaten erhoffen sich einen Sicherheitsgewinn durch den NATO-Beitritt. Ihr Wunsch ist absolut legitim, und gerade aus deutscher Sicht ist es mehr als schwierig, nicht sofort offen darauf zu reagieren. Diese Staaten und ihre Völker waren Opfer der Angriffs- und Vernichtungskriege der nationalsozialistischen Diktatur, Opfer einer Nachkriegsentwicklung, die ihnen nicht die selbstbestimmte Wahl über ihren Ort in Europa ließ. Ihr Wunsch, sich nun endlich zum Westen zählen zu können, dem sie sich historisch und kulturell zugehörig fühlen, ist unabweisbar. Das aber gilt für alle Staaten und nicht nur für die, denen nun der NATO-Beitritt angeboten wird.

Es ist aber jetzt schon abzusehen, dass der Aufnahmewunsch und die Aufnahmemöglichkeit der NATO auseinanderklaffen. Schon gibt es einen tiefgehenden Streit über die erste Beitrittsphase. Er lässt erkennen, dass die NATO-Ost-Erweiterung ohne gesamteuropäische Perspektive, die alle Staaten Mittel- und Ost-Europas gleichermaßen einbezieht, begonnen wurde. Für den Prozess, der auf die erste Phase folgt, werden sich gegenseitig ausschließende Modelle hochkontrovers diskutiert. Ein Modell will die Zahl der Beitritte möglichst klein halten und lehnt eine zweite Phase ab. Ein anderes will sie ebenfalls klein halten; es folgt allerdings der Überlegung, dass nur dadurch der Gedanke an eine zweite Phase glaubwürdig sei. Wegen der Unwahrscheinlichkeit einer zweiten Phase strebt ein drittes Modell von Beginn an einen größeren Kreis von Beitretenden an. Hinter diesen Überlegungen steht die ungelöste und unlösbare Frage, wie die NATO die Erwartungen, die sie geweckt hat, einlösen kann, ohne entweder Russland erneut zu brüskieren oder aber Hoffnungen auf Beitritt zu zerstören.

Wenn behauptet wird, nur der NATO-Beitritt verschaffe einem Land Sicherheit, Stabilität und einen europäischen Subjektstatus, wie steht es dann um die Länder, die keine Berücksichtigung finden oder auf unabsehbare Zeit vertröstet werden? Sind sie keine Subjekte, wie steht es um ihre Sicherheit? Je mehr Staaten aufgenommen werden, umso unkomfortabler wird die Situation derer, die draußen vor der Tür bleiben. Diese Gefahr ist heute größer, als der Pflicht-Optimismus der Erweiterungsbefürworter wahrhaben will. Wir meinen, dass die Sicherheitsperspektive einiger Länder nicht der Sicherheitsperspektive anderer Länder geopfert werden darf.

Dis betrifft im Prinzip auch Russland, da europäische Sicherheit nur mit und niemals gegen dieses Land erreicht werden kann. Aus deutscher Perspektive muss dazu noch gesagt werden: Deutschland verdankt die Wiedervereinigung auch der Zustimmung Russlands. Sie beruhte eindeutig auf dem Verständnis, dass es keine weitere Ost-Ausdehnung der NATO geben würde. Aus dieser Sicht ist die aktuelle Entwicklung eine Treulosigkeit gegenüber Russland.

  1. Nun zum zweiten Einwand. Russland, das im Prinzip die NATO-Erweiterung ablehnt, werden in der gemeinsamen Grundakte von der NATO erweiterte Konsultationsmöglichkeiten angeboten, ergänzt um einseitige Absichtserklärungen der NATO, einen restriktiven militärpolitischen Weg einzuschlagen. Diese Grundakte zwischen NATO und Russland ist ein historischer Meilenstein. Noch vor zehn Jahren wäre sie undenkbar gewesen. Sie beweist, dass Utopisten immer zweimal unrecht haben. Vor dem unerwarteten Ereignis gelten sie als Phantasten, danach wird ihnen vorgeworfen, ihre Visionen seien zu kleinmütig gewesen. Dass die NATO nun – und ähnliches gilt für die Ukraine – über den ständigen gemeinsamen Rat mit russischem Ko-Vorsitz für Russland transparent und beeinflussbar wird, bietet die Chance, die Lücke, die zwischen Ost und West noch besteht, weiter zu schließen. Sie ist aber abhängig vom guten Willen des Westens, der zwar einseitige Absichtserklärungen abgegeben, jedoch keinen im Krisenfall einklagbaren Ansprüchen zugestimmt hat.

Problematisch an der Grundakte ist zweierlei. Sie nimmt längst und unabhängig von ihr bestehende völkerrechtliche Verpflichtungen auf, tut aber so, als würde sie sie erst konstituieren. Das gilt für die Neuverhandlung des unter OSZE-Regime stehenden KSE-Vertrages über die Rüstungskontrolle im konventionellen Bereich ebenso wie für die Verpflichtungen aus dem UNO-Vertrag über die Nicht-Verbreitung von Atomwaffen. Dadurch, dass die NATO die eigentlich obligate Erfüllung internationaler Abkommen Russland als Gegenleistung für die Ost-Erweiterung anbietet, maßt sie sich eine internationale Direktionsgewalt zulasten von UNO und OSZE an, die ihr völkerrechtlich nicht zukommt und ihr politisch nicht zukommen darf.

Es darf kein Weg daran vorbeiführen, dass der eigentlich entscheidende Rahmen für eine gesamteuropäische Sicherheitspolitik durch die OSZE-Staaten in der Charta von Paris 1990 gesetzt wurde. Diesen füllt die Grundakte nicht aus. Das kann und will sie nicht. Ihre Interpreten sollten es aber auch nicht suggerieren. Und niemand sollte behaupten, sie böte nun den zentralen Pfad für den Sicherheitsprozess. Sicherheit ist heute mehr als militärische Sicherheit; dieser Aspekt wird sogar unwichtiger. Ein erweiterter Sicherheitsbegriff basiert auf politischen, wirtschaftlichen, ökologischen und kulturellen Faktoren.  Für diese Dimensionen ist die NATO nicht prädestiniert und sie darf nicht der eigenen Geltung halber Institutionen an die Seite drängen, die diese Kernaufgabe der Zukunft bewältigen können. Das Kalkül derer darf nicht aufgehen, die den NATO-Beitritt anbieten, um sich – im Wortsinne – den EU-Beitritt und die OSZE-Stärkung zu ersparen.

  1. Für die Länder – und damit komme ich zum Punkt 3 unserer Kritik -, die nun nicht in den NATO-Kandidatenstatus erhoben werden, wird neben der vagen Perspektive einer zweiten Beitrittswelle die Stärkung der OSZE vorgesehen. Wir begrüßen ausdrücklich, dass in der Grundakte die OSZE als „einzige gesamteuropäische Sicherheitsorganisation“ benannt wird, der „eine Schlüsselrolle für Frieden und Stabilität in Europa“ zukomme. Aber wir fragen uns: wenn dies so ist, warum ist dann der Prozess nicht von Beginn an auf der Basis einer reformierten und gestärkten OSZE organisiert worden? Zahlreiche Staaten, die heute in die NATO wollen – wie Polen, wie die damalige Tschechoslowakei – haben zu Beginn des Jahrzehnts eben dies gefordert. Ihr Begehren ist zurückgewiesen worden, weil die ihres Feindes ledige Atlantische Allianz die Hoffnung auf das eigene ewige Leben nicht zur Disposition stellen wollte. Heute nimmt die NATO die Ostmitteleuropäer, die jetzt verständlicherweise alle in diese Organisation drängen, als Kronzeugen dafür, dass ihre Politik gegen die OSZE richtig war. In unseren Augen hat die NATO ihre Glaubwürdigkeit dadurch nicht erhöht.

Die aktuellen Entwicklungen zeigen zweierlei:  sie beweisen – und dies wird in der Grundakte ausdrücklich bestätigt -, dass eine gesamteuropäische Sicherheit ohne OSZE nicht denkbar ist. Zum anderen aber wird die OSZE faktisch marginalisiert. Sie hat auf ihrem Gipfel in Lissabon die Erarbeitung einer gesamteuropäischen Sicherheitscharta ins Auge gefasst. Dieses Vorhaben aber wird im Moment und vielleicht auf lange Zeit dadurch praktisch blockiert, dass einige Länder befürchten, die eigenen Aufnahmechancen in die NATO zu schmälern, wenn sie auf der OSZE-Ebene eine Alternative entwickeln helfen. Allen Verlautbarungen der NATO-Mächte zum Trotz wird die OSZE faktisch nicht stärker werden, solange sie von anderen nur als   Trostpreis betrachtet werden kann.

Von diesem Widerspruch ist auch die Bundesregierung durchzogen. Während das Auswärtige Amt die Rolle der OSZE betont, nimmt Verteidigungsminister Rühe dieses Wort nicht einmal in den Mund, weil er seine entwaffnende Wirkung fürchtet. Wir verlangen von der Bundesregierung, dass sie der – in der Antwort auf unsere Große Anfrage – zugesicherten Strategie des „OSZE first“ endlich gerecht wird.

Wenn ich diese Überlegungen zusammenfasse, dann komme ich zu folgendem Resultat. Ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem jenseits der Militärbündnisse, beruhend auf einer gestärkten und erneuerten OSZE wäre die richtige Antwort in Europa auf das Ende des Kalten Krieges gewesen. Diese Chance wurde leider nicht genutzt. Wir halten, die NATO-Erweiterung für den falschen Ansatz. Wir nehmen aber zur Kenntnis, dass er zur Realität wird. Wir konnten ihn nicht verhindern, andere wollten es nicht. Da durch diesen falschen, nun aber zur politischen Tatsache werdenden Schritt die bisherigen Chancen auf eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung verspielt und Gefahren neuer Risse in Europa heraufbeschworen wurden, ist es jetzt umso wichtiger, die Prozesse zu verstärken und zu beschleunigen, die dem Ziel umfassender Sicherheit und Kooperation für alle und der Zivilisierung der internationalen Beziehungen entsprechen.

Gerade wir, die Kritiker und Skeptiker der Ost-Erweiterung haben absolut kein Interesse daran, dass die fatalen Konsequenzen, die wir befürchten, nun tatsächlich eintreten. Wir sehen uns in der Pflicht uns dafür stark zu machen, dass die friedenspolitische Fortentwicklung hin zu einem gesamteuropäischen Sicherheitssystem gelingt. Deutschland muss ein besonderes und existentielles Interesse daran haben. Denn nur so kann es dem Dilemma der doppelten Loyalität im Osten, den Opfern deutscher Angriffskriege und dem Transformationsstaat Russland, das die Wiedervereinigung mitgestiftet hat gegenüber, begegnen. Auch die Loyalitäten gegenüber den westeuropäischen Staaten und den USA, das gesamteuropäische und das transatlantische Verhältnis lassen sich letztlich so am besten zur Übereinstimmung bringen.

Welche Pfade führen in diese Richtung?

Die Grundakte eröffnet die Chance weiterer zwischenstaatlicher Entspannung. Sie kann der Rüstungskontrolle, der Abrüstung und der friedlichen Konfliktbewältigung neue Impulse geben. Der Pfad der Grundakte aber ist zu schmal und dringt nicht tief genug in das Problemgestrüpp ein. Wichtiger scheint es uns deshalb, die Institutionen zu stärken, die einer gesamteuropäischen Integration auf der Basis eines politischen, wirtschaftlichen, ökologischen und kulturellen, eben eines erweiterten Sicherheitsbegriffs entsprechen.

Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, mit allem Nachdruck darauf zu drängen, dass die Europäische Union schnellstens nach Osten erweitert, die OSZE in jeder Hinsicht gestärkt und die beabsichtigte Sicherheitscharta erarbeitet wird. Wir fordern sie auf, bei den Atommächten auf die atomare Abrüstung zu dringen, die Pläne einer atomwaffenfreien Zone in Mittel- und Osteuropa zu unterstützen und mit einseitigen Abrüstungsschritten … eindeutige Signale zu setzen.