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(Rede vor dem Deutschen Bundestag zum 50-jährigen Jubiläum des Marshall-Plans, 12. Juni 1997, PlPr. 13/181)

Wie bewerten Mitglieder der Nachkriegsgeneration ein Ereignis, dessen Bedeutung sich ihnen nur aus historischer Rückschau erschließt? Wie bewertet eine Partei, die ohne die APO der sechziger Jahre, die Friedensbewegung und deren massive Kritik an der amerikanischen Außenpolitik kaum existent wäre, eine amerikanische Tat, die grundlegend war für die europäische Nachkriegsentwicklung?

Der Einsatz Amerikas für die Befreiung Deutschlands und Europas von den Nazis kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Was wäre heute, wenn Deutschland, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte?  Man muss sich diesem schauerlichen Gedankenexperiment unterziehen, um begreifen zu können, welche historische Größe hinter dem amerikanischen Angebot stand, nicht nur den schwer getroffenen Opfern der Naziaggression unter die Arme zu greifen, sondern ausdrücklich auch der niederliegenden deutschen Bevölkerung. Anders als 1918 waren die Gedanken eines Siegers nicht erfüllt von Rache und Vergeltung, Reparation und Demütigung. Er übernahm Verantwortung für Befreite und Besiegte, wies konstruktiv einen Weg, wie Staat, Wirtschaft und öffentliches Leben sich auf demokratischer Basis neu entfalten könnten. Ohne die enorme Solidarität führender amerikanischer Politiker und der amerikanischen Bevölkerung hätte es die wirtschaftlich prosperierende Demokratie der Bundesrepublik ebenso wenig gegeben wie den europäischen Integrationsprozess, zu dem es – bei allem Streit um einzelne Elemente – keine Alternative gibt.

Leider wurde der Marshall-Plan wegen der Hegemonialinteressen Stalins und wegen der Ablehnung sozialistischer Wege nicht der Auftakt zur gesamteuropäischen Integration, obwohl sein Angebot auch für die osteuropäischen Staaten galt. Begrenzt auf Westeuropa, stimulierte er hier wirtschaftliche Entwicklung, demokratische Stabilisierung, Verfestigung der westlichen Werte und internationale Kooperation. Gleichzeitig aber vertiefte seine Implementierung im Westen die beginnende Teilung Europas und Deutschlands, als zugleich der sowjetische Molotow-Plan – der weder materiell noch vom ideellen Wertegehalt her mit ihm konkurrieren konnte – den Weg der osteuropäischen Nachbarn in den RGW erzwang. Heute kann und muss die Osterweiterung der EU das nachholen, was vor 50 Jahren unmöglich war.

Es gehört zu den Paradoxien deutscher Nachkriegsgeschichte, dass die spätere Kritik an den USA nur auf der Basis von Werten entstehen konnte, die von den Amerikanern in die deutsche Gesellschaft eingepflanzt worden waren. Es ist zwar weit verbreitet, bleibt aber ein Fehlverständnis, die Kritik der GRÜNEN an der amerikanischen Außenpolitik als Antiamerikanismus zu bezeichnen. Die Kennedys, Martin Luther King waren Leitfiguren unserer Jugendzeit. Ihre Modernität, ihre Liberalität, ihre Zivilcourage in unseren Augen Leitbilder, die die längst wieder verkrustete westdeutsche Gesellschaft dringend benötigt hätte.

Das Amerikabild, angekratzt durch das umstrittene Engagement im Kongo, kippte mit Beginn des Vietnam-Krieges. Zu offensichtlich schien der Widerspruch zwischen der propagierten Universalität der westlichen Werte und einer politischen Praxis, die diese Werte verletzte. In dem nachvollziehbaren Bestreben nach Begrenzung des sowjetischen Einflussbereiches auch jeden antikolonialen Befreiungskampf, jede soziale Emanzipation zu unterdrücken – das passte mit unserem Verständnis westlicher Werte nicht zusammen. Wir hätten uns Amerika an die Seite der Sandinisten gegen Somoza, an die Seite der Sozialreformer gegen Pinochet gewünscht, so wie es an unserer Seite gegen die Apartheid kämpfte. Wie die Emanzipationsbewegungen in der Dritten Welt sich – wo die westlichen nicht zur Verfügung standen – andere ideologische Orientierungen suchten, so suchten wir nach Alternativen zum zusammengebrochenen westlichen Weltbild. Als dann neue amerikanische Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik stationiert werden sollten, verdichtete sich das ohnehin schon amerikakritische Bild – unterstützt durch die martialische Rhetorik Ronald Reagans – zu einem Ressentiment, das den Blick auf die volle Wahrheit trübte. Nicht die USA, sondern die sozialliberale Bundesregierung unter Helmut Schmidt war im Bemühen, dem deutschen Sicherheitsdilemma Genüge zu tun, die treibende Kraft der sogenannten Nato-Nachrüstung.

Der Streit um die benannten Themen wurde in den USA selbst so energisch geführt wie hier. Unsere besten Verbündeten waren Amerikaner. Herbert Marcuse als philosophischer Mentor der APO. Die kulturellen Einflüsse von Andy Warhol, Alan Ginsberg, Jefferson Airplane. Die Freunde der „nuclear-freeze“- und der Umweltbewegung, der Jackson- und der Nader-Kampagne. Petra Kelly war so sehr Amerikanerin, wie sie Deutsche war. Und – um zu Marshall zurückzukehren – einer unserer wichtigsten Zeugen gegen die Nato-Nachrüstung und die heutige Osterweiterung war und ist George F. Kennan, der engste Berater und Weggefährte von George Marshall. Die GRÜNEN hatten keinen Streit mit Amerika; sie hatten 25 Jahre lang – vom Vietnamkrieg bis zum Ende des Ost-West-Konfliktes mit seinen atomaren Strategien – denselben Streit mit einigen Richtungen amerikanischer Außenpolitik, den Amerikaner mit ihrer Regierung und wir mit der unseren austrugen.

Das ist heute Geschichte. Der Blick hat sich längst auf die gemeinsame Verantwortung angesichts neuer Herausforderungen gerichtet. Das transatlantische Verhältnis bedarf einer neuen Fundierung. Der Sicherheitsaspekt ist in den Hintergrund getreten. Dennoch müssen Amerika und Europa eng verschränkt bleiben. Europa braucht die stabilisierende Wirkung des transatlantischen Partners, die USA den interkulturellen Austausch. Es ist Zeit für eine transatlantische Lern- und Problemlösungsgemeinschaft.  Die USA, Deutschland, und die anderen OECD-Staaten müssen endlich einen globalen ökologischen Marshall-Plan auflegen, der Impulse gibt, Hungersnöte, ökologische Katastrophen und Migrationskrisen präventiv zu verhindern.

Wir, Bündnis 90/Die GRÜNEN, wünschen uns einen offenen, tiefgehenden transatlantischen Dialog, der die globalen Probleme anpackt. Wir wollen gern mit eigenen Ideen, aber auch mit Offenheit zum Lernen daran teilnehmen.