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(Angesichts der Schwäche von Bündnis 90/Die Grünen in Ostdeutschland und der Westausdehnung der PDS (ex-SED, später Partei „die Linke“) formulierte ich als Parteivorsitzender zusammen mit der aus der DDR stammenden Bürgerrechtlerin und Vorstandskollegin Christiane Ziller am 5. Mai 1994 strategische Überlegungen für eine neue grüne Offensive. Bisher unveröffentlicht)

 

  1. Die PDS ist die Nachfolgepartei der SED, die für Menschenrechtsverletzungen, autoritäre Struktur und desolate Wirtschaftspolitik der DDR verantwortlich war. Finanziell und infrastrukturell baut sie auf den alten SED-Grundlagen auf. Während sie im Osten die personelle Kontinuität nicht etwa problematisiert, sondern geradezu betont und das Prädikat „made in GDR“ zu nutzen sucht, versucht sie sich im Westen einen links-alternativen Gestus zu geben. Ein wirklicher Neuanfang hat nach der Wende nicht stattgefunden. Dafür wäre die völlige Auflösung der Partei nötig gewesen. So aber hat sich der alte Apparat nur einen neuen Anstrich gesucht: er reklamiert heute – und behauptet obendrein der einzige zu sein -, nach Abstreifen historischer Fehlentwicklungen nun plötzlich den reinen Gehalt der humanistischen Ideale sozialistischer Politik zu repräsentieren. Mehr noch: er maßt sich sogar an, der eigentliche Vertreter der demokratischen und emanzipatorischen Grundwerte zu sein, die in Wahrheit die Bürgerbewegungen der DDR gegen das alte Regime durchzukämpfen versuchten. Die Geschwindigkeit des inhaltlichen Wandels bei struktureller Kontinuität ist ein Indiz dafür, dass es sich nicht um wirklich Neues Denken handelt, sondern um oberflächliche Anpassung an den veränderten Zeitgeist.
  2. Von ihrem Charakter her ist die PDS deshalb keine Bereicherung für die parlamentarische Demokratie. Dennoch ist ihre Existenz eine Tatsache. Ihre Entwicklung hat mittelbaren oder unmittelbaren Einfluss auf die politischen Chancen unserer Partei – nicht nur in den neuen Ländern. Mit dieser Situation müssen wir nüchtern strategisch umgehen. Die PDS ist keine strategische Bündnispartnerin für uns. Das hat vor unserer Fusion nicht nur Bündnis 90 betont; auch die (West-)GRÜNEN haben dies auf ihrer BDK von Hagen 1990 unmissverständlich klargestellt. Trotz ihres andersartigen Charakters versucht die PDS WählerInnen auch im links-alternativ-humanistischen Spektrum zu gewinnen. Sie tritt dort mit uns und Teilen der SPD in direkte Konkurrenz und muss deshalb auch direkt als Gegnerin angenommen werden, mit der wir uns aktiv auseinanderzusetzen haben. Anderenfalls würden wir relevante Teile – und seien es auch nur 1 bis 5% – der für uns erreichbaren Wählerschaft verschenken oder sogar an die PDS verlieren. Unser Ziel muss es sein, das politische Gewicht der PDS zu verringern. Zumindest müssen wir versuchen, stärker als sie zu werden. Strategien gegenüber der PDS müssen unter dieser Prämisse kalkuliert werden. Insbesondere wegen der personellen Kontinuität kommt sie als Koalitionspartnerin nicht infrage. Eine punktuelle Zusammenarbeit in Einzelfragen kann es geben und gibt es bereits. Wir können solche Teil-Kooperationen nicht allein deshalb meiden, weil sie mit der PDS eingegangen werden müssen, zumal es in ihr Personen gibt, auf die unsere allgemeine Kritik an der Partei nicht zutrifft. Wir können nicht ignorieren, dass insbesondere auf kommunaler Ebene PDS-VertreterInnen häufig die einzigen sind, die uns in Einzelfragen unterstützen.
  3. In den neuen Ländern gibt es eine größere WählerInnenschicht, die sich im Dreieck zwischen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und PDS verortet. Anders als im Westen gibt es von unserer Seite aus also nicht nur eine Konkurrenz mit der SPD um dasselbe Klientel, sondern auch mit der PDS. Im Westen wird die PDS so lange nicht an Boden gewinnen, als wir unser ökologisch-solidarisches, demokratisch-emanzipatorisches, gewaltfrei-menschenrechtsorientiertes, mithin unorthodox „linkes“ Profil halten. Wir müssen deutlich machen, dass in Ost und West dieser politische Ansatz für Bündnis 90 und Die Grünen originär war, und zwar in Opposition zur PDS-Ursprungspartei SED. Es reicht aber nicht, einfach diesen Geltungsanspruch zu formulieren. Die konkrete Art und Weise der Auseinandersetzung mit der PDS entscheidet darüber, ob wir die WechselwählerInnen im Osten auf unsere Seite ziehen können, abstoßen oder sogar in die Arme der PDS treiben.
  4. Eine falsch angesetzte Kritik an der PDS kann dazu führen, dass Menschen, die wir ansprechen wollen, sich mit der PDS gegen uns solidarisieren. Das kann dann passieren, wenn die PDS unsachlich und für die für uns interessanten Menschen nicht nachvollziehbar angegriffen wird. Gefährlich ist es, die PDS an einem moralischen Maßstab zu messen, an dem auch unsere Zielgruppe sich selbst negativ beurteilen muss. Problematisch ist es auch, dem von der PDS formulierten Anspruch, sich gegenüber der SED grundsätzlich gewandelt zu haben, die einfache Gegenbehauptung entgegenzusetzen. Auch wenn dies – siehe oben – in vielen Punkten richtig ist, müssen wir davon ausgehen, dass die neue Selbstdefinition der PDS und die politische Rolle als angebliche Vertreterin der sozialen, insbesondere der ostdeutschen Interessen viele Menschen unserer Zielgruppe anspricht. Wenn wir uns darauf beschränken, die PDS „entlarven“ zu wollen, werden wir immer der realen Politik der PDS hinterherlaufen und keine große praktische Wirkung erzielen. Die Konsolidierung der PDS bei Wahlen und Meinungsumfragen beweist dies. Viele WählerInnen sind sogar bereit, wegen der Rolle als angebliche Vertreterin von sozialen und ostdeutschen Interessen wissentlich die geschilderten negativen Aspekte der PDS in Kauf zu nehmen. Unsere Aufklärungsarbeit wird dann am überzeugendsten sein, wenn wir diesen Anspruch der PDS auf den Prüfstand stellen und die geweckten Erwartungen an den Realisierungschancen messen.
  5. Die Programmatik der PDS ist ein Gemisch aus sozialistischer Rhetorik, sozialdemokratischen Ordnungsvorstellungen, linkspopulistischen Forderungen und deutschnationalen Einsprengseln ohne konzeptionelle Verbindung und Realisierungsstrategie. Vieles ist aus veralteten grünen Programmen oberflächlich abgeschrieben worden. Neuerdings wird versucht, dies alles mit einer gesellschaftspolitischen Strategie zu überwölben, deren Kernelemente von uns übernommen sind. Das „Ingolstädter Manifest“ ist der Versuch der PDS, sich unsere Grundbegriffe anzueignen: neuer Gesellschaftsvertrag, sozial-ökologischer Umbau, Primat der Menschenrechte… Mit der Übernahme unserer Begriffe und Konzepte geht es der PDS nicht darum, unsere Politik als die richtige anerkennen. Dann müsste sie sich auflösen. Ihr geht es im Gegenteil darum, den eigenen Apparat auf unsere Kosten zu erhalten. Unser politisches „Copyright“ wird gestohlen, um damit einem historisch überholten Apparat eine neue Aufgabe und neuen Glanz zu geben. Diese Strategie weist die PDS als politischen „Fressfeind“ aus.
  6. Im Osten will die PDS als Anwältin der Ostinteressen gelten, im Westen dagegen als konsequente Oppositionskraft. Beide Ansprüche sind absolut unvereinbar: wenn die PDS wirklich Ostinteressen vertreten will, darf sie sich nicht in die pure Oppositionspose begeben. Denn aus der Opposition heraus ist erfahrungsgemäß keine Interessendurchsetzung möglich. Höchstens eine Interessenartikulation. Wenn die PDS den Realisierungsanspruch, der dem Versprechen nach Interessenvertretung-Ost innewohnt, ernst meint, muss sie die enttäuschen, die im Westen von der prinzipiellen Oppositionspose begeistert sind. Will sie sich im Westen aber ihre „Fundi“-Klientel erhalten, muss sie den Ostdeutschen gegenüber zugeben, dass sie deren Interessen nicht wird durchsetzen können. Diesen Umstand verschleiert die PDS hinter viel Verbalradikalität. Es gibt weitere Widersprüche: sie suggeriert, dass die sozialen Interessen der Ostdeutschen mit denen der westdeutsch-oppositionellen Klientel zusammenfallen. In dem Moment, wo es um mehr als Rhetorik geht, könnte sich dies als fataler Trugschluss entpuppen. Oder: Falls die Oppositionspose nicht prinzipiell ist, sondern nur Zwischenschritt zu späterer Regierungsbeteiligung, dann wird die PDS unausweichlich dieselben innerparteilichen Konflikte und dieselben Lösungen bekommen wie früher die West-Grünen, und die heutige Kritik der PDS an uns als angepasst wird auf sie selbst zurückfallen. Fazit: Die PDS ist der misslungene Versuch, durch Protestphraseologie zwei antagonistisch widerstreitende Interessen zum Zwecke der Selbsterhaltung der Organisation unter einem Dach zusammenzubringen.
  7. Diese strategischen Sackgasse, in die die PDS ihre WählerInnen führt, müssen wir aufdecken. Was den empathisch verkündeten Veränderungswillen der PDS angeht, kann zudem schlicht darauf hingewiesen werden, dass jede Stimme für die PDS faktisch eine Stimme gegen eine rot-grüne Reformregierung in Bonn und damit eine Stimme gegen die einzige real denkbare Veränderung ist. Der Spekulation einiger PDS-Strategen, dass eine rot-grüne Minderheitsregierung in Bonn sich über PDS-Stimmen würde tolerieren lassen, können wir durch eine unmissverständliche Absage sofort den Boden entziehen. Vor eine solche Situation gestellt, würde sich zudem die SPD sich mit Sicherheit für eine Große Koalition entscheiden. Eine Stimme für die PDS hat im Wahljahr 1994 einen entscheidenden negativen Einfluss auf die Machtverteilung im Staate bzw. auf die Chancen zur Bildung einer Reformregierung.
  8. Was die Vertretung der Ostinteressen angeht, können wir darlegen, dass wir sie selbstbewusst, jedoch nicht bruchlos und pur vertreten. Sie sind zum Teil in unsere Beschlüsse aufgenommen, z.T. durch die Vermittlung mit Westperspektiven relativiert worden. Ob wir immer die richtige Mischung gefunden haben, das ist eine Debatte wert. Aber im Prinzip gilt: das, was an Ostinteressen in Beschlüsse eingeflossen ist, wird auch von den Wessis mitvertreten. Es gibt eine Bündnisbildung über die alten Grenzen hinweg, die zukunftsträchtiger ist als die Reproduktion der alten Trennung. Der Ost-West-Austausch bringt unkalkulierbare und überraschende Ergebnisse, mit denen mensch bewusst umgehen muss. Einer Nur-Ost-Partei fehlt diese Dimension kreativer und realitätsfördernder Auseinandersetzung. Letztlich wird sich auch gesamtgesellschaftlich nur das durchsetzen, was im Bündnis von Ost- und Westkräften vertreten wird. Wir werden versuchen, „unseren“ Anteil an Ostpolitik in einer rot-grünen Regierung auch wirklich durchzusetzen. Das ist auf der Ebene der Versprechen weniger als bei der PDS, bei der Realisierungschance erheblich mehr.
  9. Wenn wir wollen, dass Menschen uns statt die PDS wählen, müssen wir ihnen mehr anbieten, als nur ihr Kreuz auf dem Wahlzettel zu machen. Sie müssen, wenn sie denn an mehr interessiert sind, das Gefühl haben können, nicht nur Urnengänger, sondern Bestandteil eines größeren historischen Projektes zu sein. Wir müssen sie einladen, ihre Außenperspektive, die sie noch auf uns haben, in eine Binnenperspektive, die sie mit uns haben, umzuwandeln. Dazu ist es notwendig, unsere eigenen bzw. die bei uns vermuteten Maßstäbe dafür zu überprüfen, wen wir als Aktive in unsere politische Nähe lassen und wen nicht. Wir können auf Dauer nicht den Menschen, von denen wir gewählt werden wollen, die aktive Teilnahme an unserer Politik versagen. Anders formuliert: Wenn wir von Menschen wollen, dass sie ihr aktives Wahlrecht zu unseren Gunsten wahrnehmen, können wir ihnen nicht bewusst oder unbewusst die Verwirklichung des passiven – Kandidatur und als Voraussetzung Mitgliedschaft – bei uns verwehren. Wir würden im Osten eine ganze Schicht von WählerInnen zu Halbdemokraten reduzieren. Und schon heute ist das zahlenmäßige Missverhältnis von WählerInnen und Mitgliedern so eklatant wie bei keiner anderen Partei.
  10. Dies ist kein Plädoyer dafür, umstandslos alle und jeden in unsere Partei aufzunehmen. Angesichts der dünnen Decke an Aktiven in den neuen Ländern ist es aber mittelfristig für uns unverzichtbar, in größerer Menge neue Mitglieder zu bekommen. Diese werden sich nur noch in geringer Zahl im Umfeld der Bürgerbewegung finden lassen. Das Hauptfeld für neue Mitglieder findet sich immer im politisierten Teil einer Gesellschaft. Für den Osten bedeutet das aber meistens, dass die Politisierung während des SED-Regimes geschah. Wir brauchen deshalb Kriterien und Verfahrensweisen für eine aktive Ansprache. Sie ergeben sich aus einem Blick auf die Vergangenheit. Wir dürfen mit unseren Maßstäben und Verfahren weder offen noch subtil neue Formen der Ausgrenzung schaffen. Mit Ausgrenzung halten wir Menschen nicht nur auf Distanz; wir laufen auch Gefahr, dass sie sich eines Tages der PDS zuwenden, weil sie nur dort die Möglichkeit haben, wieder am öffentlichen Leben teilzunehmen. Wir sollten deutlich machen, dass wir offen sind, aber bestimmte Leute sich selbst ausschließen: wer aktiv an den schlimmen Machenschaften des DDR-Regimes beteiligt war, wissentlich und im eigenen Interesse Menschen geschadet hat, findet keinen Zugang. Wir sollten aber offen sagen: wir wünschen nicht nur die Mitarbeit von Menschen, die sich „der bekennenden Opposition“ in der DDR zugehörig fühlen. Wir wollen auch alle die, die ohne dieses Selbstverständnis der Regierungspolitik kritisch gegenüberstanden und/oder versucht haben, im Rahmen der damals bestehenden Verhältnisse möglichst viel an Humanisierung zu erreichen.
  11. Leider hat sich in Teilen unserer Zielgruppe – ob zurecht oder nicht, sei dahingestellt – der Eindruck festgesetzt, wer bei uns aktiv mitarbeiten wolle, müsse zuvor über seine DDR-Vergangenheit Rechenschaft ablegen und den Nachweis regimekritischen Verhaltens erbringen. Das wird als herabwürdigend angesehen und schreckt auch Menschen vom Eintritt ab, die jeder Überprüfung standhalten würden. Wir sollten das öffentliche Signal aussenden, dass solche Praktiken bei uns nicht (mehr) üblich sind. Wer unseren Grundkonsens teilt, soll willkommen geheißen werden. Nur dann, wenn aus unserem Mitgliederkreis jemand schlüssig nachweisen – nicht bloß behaupten! – kann, dass ein/e AspirantIn früher anderen Schaden zugefügt hat, wird die Aufnahme verweigert. Wenn wir dies so für unsere Zielgruppe von WählerInnen formulieren, müssen wir uns auch fragen, wie wir mit ehemalige SED-Mitgliedern umgehen, die darunterfallen. Hier kommen wir in eine Grenzsituation. Doch gab es bei uns von Beginn an ehemalige SED-Mitglieder, die sich heute durch nichts vom Querschschnitt unserer Mitglieder abheben. Im Prinzip muss unser Angebot deshalb auch für ehemalige Mitglieder, selbst für Funktionäre der SED und ihrer Nebenorganisationen gelten, so sie unsere Grundwerte teilen. Denn auch dort gab es einige, wenn auch nicht viele „Reformer“, die der offiziellen Politik so gegnerisch oder kritisch gegenüberstanden, wie KritikerInnen von außen. Nur dass sie eben von innen her versucht haben, die humanistischen Gehalte der sozialistischen Theorie zur Geltung zu bringen. Diese Haltung, so sie mit unserem Grundkonsens vereinbar ist, darf für sich genommen kein Grund zur Verweigerung der Mitgliedschaft sein. Wir dürfen jedoch keinen Zweifel daran lassen, selbst weiterhin konsequent (und nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) die Aufarbeitung der Vergangenheit vorantreiben zu wollen.
  12. Auch die Verstärkung unserer personellen Basis ist eine Strategie gegen die PDS. Nur so werden wir es schaffen können, die Verankerung, die die PDS in zahlreichen Städten und Gemeinden hat, zu unseren Gunsten aufzubrechen. Vor Ort sind in vielen Sachfragen einzelne Mitglieder oder SympathisantInnen der PDS oft unsere einzigen Verbündeten. Langfristig sollte wir sie aus der Sackgasse PDS herauslösen und auf unsere Seite ziehen. Öffnung in die Gesellschaft hinein darf sich nicht nur auf den Westen beziehen. Mit der Abgrenzung gegen die PDS als Organisation und unserer Öffnung für deren SympathisantInnen leisten wir einen Beitrag dazu, die aktive Gesellschaft in den neuen Ländern überhaupt zu stärken, damit dort ein politischer Wille und politischer Initiativgeist entstehen kann, der die Entwicklungsprobleme der Region bewusst und beherzt und mit der Hoffnung auf eine persönliche Perspektive anpackt. Das ist die beste Strategie gegen Populisten – nicht nur von rechts, sondern auch von links.