Site Loader

(Anlässlich des Brandanschlags auf die Lübecker Synagoge schrieb ich als Parteivorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen am 19. März 1994 einen Solidaritäts-Brief an Ignaz Bubis, den Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland. Bisher unveröffentlicht)

 

Im Namen des Bundesvorstandes von Bündnis 90/Die Grünen möchte ich Ihnen schreiben, wie sehr uns der Mordanschlag auf die Mitglieder der jüdischen Gemeinde und die Brandstiftung in der Synagoge von Lübeck empören und mit Abscheu erfüllen. Es ist schwierig, angesichts der unermesslichen Leidensgeschichte der Juden in Deutschland Worte für eine solche Tat zu finden. Wir versuchen nachzuvollziehen, welche Gefühle Menschen angesichts des neuerlichen Verbrechens haben müssen, deren Angehörige und Vorfahren ermordet und verbrannt worden sind.

Ich erinnere mich an unser erstes persönliches Gespräch. Es fand kurz nach den Morden von Mölln statt. Sie glaubten so wenig wie wir an verirrte Einzeltäter. Sehr exakt zeichneten Sie die Symbolreihe rechter Gewalttaten nach und interpretierten Sie die Signale, die die Nazis damit aussendeten. Sie haben darin immer die eskalierende Antwort der organisierten Rechten auf Haltungen der konservativen Politik gesehen, die mit Verharmlosungen und immer neuen Stichworten der rechten Unkultur Auftrieb gaben. Mit großer Sicherheit prophezeiten Sie damals, dass demnächst eine Synagoge brennen würde. Ist es ein Zufall, dass der Anschlag wenige Tage nach dem skandalösen höchstrichterlichen Urteil über die „Auschwitz-Lüge“ geschah?

Leider haben die meisten noch nicht begriffen, dass ein neuorganisiertes Nazitum versucht, mit der Doppelstrategie von Terror und scheinbar harmloser pseudowissenschaftlicher Diskussion die Gesellschaft zu durchdringen. Der Nährboden liegt in den Ressentiments der Normalgesellschaft. Hier müssen Einstellungen geändert werden. Wir wollen mithelfen, dass die Botschaft, die vom Film „Schindlers Liste“ ausgeht, stärker sein wird als die Versuche der Rechtsintellektuellen, über ihre Zeitung „Neue Freiheit“ oder Streifen wie „Beruf Neonazi“ den Ungeist des Neuen Nazitums in den allgemeinen Diskurs einzuspeisen.

Am Abend des Attentats auf die Lübecker Synagoge sah ich im Fernsehen einen schwedischen Film über die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust. Er lief versteckt im Dritten Programm. Warum lief er nicht im Hauptprogramm von ARD oder ZDF?

Die liberale Öffentlichkeit nimmt ihre Verantwortung für die deutsche Geschichte immer noch nicht hinreichend wahr. Sie, Herr Bubis, erklärten uns bei unserem letzten Gespräch, dass Sie öffentlich mahnen und warnen wollten, dass Sie sich aber nicht zum guten Gewissen machen lassen könnten, an die eine ganze Nation ihre eigene Verantwortung delegiert.

Der Brand der Synagoge muss eine entschlossene Antwort der ganzen Gesellschaft finden. Mit den Nazis kann nicht therapeutisch-verharmlosend umgegangen werden. Die zivile Gesellschaft muss einsehen, dass sie Feinde hat, die wie Feinde behandelt werden wollen und müssen. Sie müssen geächtet und aus dem gesellschaftlichen Leben ausgestoßen werden. Und jeder, der mit ihnen sympathisiert, muss wissen, dass er riskiert, ebenfalls geächtet zu werden. Das Böse hat Namen und Adresse, hat Bert Brecht einmal gesagt. Sie müssen öffentlich bekannt gemacht werden.

Wir hoffen, dass unser eigener Beitrag nicht zu gering ausfällt,

mit dem Ausdruck tiefer Solidarität