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(Nachdem die West-Grünen bei der Bundestagswahl im Dezember 1990 an der 5%-Hürde gescheitert waren und vor dem Exitus standen, sondierte ich mit einem No-Name-Papier (genauer gesagt unter 6 Pseudonymen) vom 10. Januar 1991 an die Möglichkeit, die total zerstrittene Partei zu einen. Der Versuch gelang. Die in dem Anschreiben der 6 „MentorInnen“ vorgeschlagene Erklärung wurde am 27. Februar vom „Linken Forum“, meiner innerparteilichen Strömung, als „Kieler Erklärung“ akzeptiert und auf dem Parteitag von Neumünster im April 1991 als Leitantrag mit einigen Ergänzungen mit großer Mehrheit als neues Grundsatzpapier der Grünen angenommen. Auf dieser Basis wurde ich zum Parteivorsitzenden gewählt und konnte das Comeback der Partei 1994 im Bundestag organisieren.)

 

Dalai Lama, Rosa Luxemburg, Rudolf Steiner, Jean d’Arc, Bernhard Grzimek, Tina Turner

Liebe GRÜNE,

wir sind traurig darüber, was Ihr aus unserem Vermächtnis gemacht habt. Gewiss, Ihr hattet es nicht leicht. Aber musste es wirklich so weit kommen? Leider haben wir be­merkt, dass viele von Euch untereinander gar nicht mehr richtig gesprächsfähig sind. Das lässt sich wohl durch Ap­pelle auch nicht so leicht beheben. Deshalb fühlten wir, die Ihr uns als Eure MentorInnen seht, ver­pflichtet, einen Beitrag zu mehr Einigkeit zu leisten.

Wir haben uns zusammengesetzt, um miteinander darüber zu reden, wo denn eigentlich die Gemeinsamkeiten sind. Das konnte selbstverständlich nicht ins Detail gehen. Wir wollten auch nicht jeden einzelnen Disput klären. Aber es müsste doch, so hatten wir uns gedacht, möglich sein, einen Rahmen für Euch zu entwerfen, der allgemein genug ist, dass sich die meisten von Euch darin wiederfinden, und dennoch so konkret, dass die Beliebigkeit, die Eure Diskussionen seit geraumer Zeit kennzeichnete, eingedämmt wird. Wir meinen, dass sich unser Versuch gelohnt hat. Der Fundus an Gemeinsamkeiten ist so groß, dass es keinen Grund gibt, von der gemeinsamen Sache Abstand zu nehmen. Und auch wenn wir miteinander so manchen Kompromiss ge­macht haben, ist das Ergebnis doch immer noch sehr ver­schieden von dem, was andere Parteien wollen. Uns scheint es als einschließender Rahmen für Euch und als Abgrenzung gegenüber anderen Eurer Kenntnisnahme wert.

Wir müssen hinzusetzen, dass wir nicht mit allen reden konnten, die etwas beizusteuern haben. Einige Leute wie etwa Lenin und Calvin haben es uns schwer gemacht, indem sie sich sehr auf ihre Auffas­sungen versteiften. Dennoch, wir wären froh, wenn auch sie sich dem Text anschließen würden.

Bitte redet über unseren Vorschlag. Wir haben Euren Bun­desvorstand gebeten, den Text zu verbreiten und Eure Ant­worten entgegenzunehmen. Es wird sich sicher jemand fin­den, der sie in den Entwurf einzuarbeiten versucht.

Das war es, was wir noch für Euch tun konnten. Nun ist es an Euch zu beweisen, dass unser Tun nicht vergebens war.

Hier unser Vorschlag:

Erklärung

I. Niederlage

Wir Grünen haben unseren politischen GAU erlebt. Ob er zum unbe­herrschbaren Super-GAU wird, hängt in erster Linie von uns selbst ab. Ein Weiterleben wie vor der Katastrophe kann es nicht mehr ge­ben. Ein­schneidende Änderungen sind unausweich­lich.

Herbeigeführt wurde das Desaster durch schwierige politische Um­weltbedingungen und durch ein Versagen unserer Steuerung.

Wir Grünen haben uns vor über 10 Jahren nicht gegründet, um die Deutschlandfrage zu lösen und besaßen auf diesem Politikfeld kei­nen Traditionsbestand. Die deutschlandpolitische Entwicklung hat uns überrollt, in überkomplexe Entscheidungsprobleme gebracht und unsere angestammten Kernthemen an den Rand gedrängt. Die SPD hat einen Kanzlerkandidaten präsentiert, der unter Preisgabe der poli­tischen Mitte rot-grüne Wechselwähle­rInnen für die SPD gewinnen konnte. Mit der PDS ist eine politi­sche Kraft aufgetaucht, die ein süßes Zurücksinken in einen histo­risch überholten und moralisch diskreditierten „linken“ Traditio­nalismus anbot. Zahlreiche Mas­senmedien haben unsere internen Pro­bleme nicht nur ständig überspitzt dargestellt, sondern damit die Wirklichkeit, über die sie zu berichten vorgaben, oft erst selbst erzeugt.

Dass wir mit solchen Problemen nicht fertig geworden sind, liegt an langfristigen inneren Fehlentwicklungen und an kurzfristigem Ver­sagen. Ein medienverstärkter überzogener interner Streit hat die durch­aus vorhandenen Ansätze zur Erarbeitung von Konsensen, die die große Mehrheit der Partei hätte tragen können, immer wieder zer­stört. Eine seit Langem notwendige Anpassung unserer unter völ­lig ande­ren politischen Bedingungen eingesetzten Parteistrukturen an die veränderte Wirklichkeit fiel der Trägheit, der Verliebtheit in z.T. realitätsferne Ideen und taktischen Kalkülen zum Opfer. Im Gegensatz zur oft sehr guten Arbeit der Grünen vor Ort war das Er­scheinungsbild auf Bundesebene miserabel. Das betrifft glei­chermaßen eine Reihe von Bundesvorständen, die letzte Bundestagsfraktion mitsamt ihren Vorständen als auch die Inszenierungen be­stimmter Gruppierungen auf Bundesversammlungen. Randgruppen inner­halb der Partei überstrapazierten immer wieder – von den Medien an­gefeuert – den ohnehin sehr weit gesteckten Toleranzrahmen. Im Wahljahr betraf das zum einen die Koketterie ei­niger Leute der PDS gegenüber bis hin zum Parteiaustritt, als auch den Ver­such ande­rer, den gesamten Zuschnitt unserer Partei im li­beral-konservati­ven Sinne neuzubestimmen, der auch vor Groß­machtphantasien nicht haltmachte. Mit der alleinigen Fixierung auf das zweifellos äußerst wichtige Thema der Klimapolitik wurde das Spektrum der grünen Themen ge­rade zu einem Zeitpunkt verengt, als die Probleme der ehemaligen DDR-Gebiete eine Schwerpunktsetzung auf die dorti­gen sozialen und wirt­schaftlich-strukturellen Fragen erforderten. Der deutschlandpolitische Kurs schlingerte zwischen kruder Ab­lehnung der Einheit, die zunehmend an Realitätsbezug ver­lor, und einer illusionären Übertreibung der Hoffnung, eine neue politi­sche Kultur errichten zu können. Das Fehlen einer generati­onsspezifischen Politik entfremdete die Älteren wie die Jüngeren von einer durch 68er geprägten Partei.

 

II. Ortsbestimmung

Auch wenn wir arg gerupft wurden, werden wir für unseren spezifi­schen Platz in der Parteienlandschaft weiterkämpfen. Unsere ge­samte Geschichte und die der gesellschaftli­chen Bewegungen, aus denen wir entstanden sind, weisen uns als eine Partei aus, die die zahlreichen Widerspreche zum Normalvoll­zug in dieser Gesellschaft, die Widerspreche zu Zerstörung der Um­welt, zu Demokratiedefiziten, zu sozialer Benachteiligung, zu kul­tureller Diskriminierung und zur Unterdrückung der Frauen in emanzipatorische Politik wendet. Wir sind eine Partei, die mahnt, die warnt, die provoziert und die bei aller Einsicht in die Notwendigkeit auch kleiner und kleinster Schritte weitreichende Problemlösungen anbietet, die nicht von vornherein vor den bestehenden Macht-, Herrschafts- und wirt­schaftlichen In­teressenstrukturen haltmachen. Wir sind deshalb we­der Volkspartei noch Linkspartei im traditionellen Sinne. Wir ha­ben allerdings den seit der Wende der SPD in die politische Mitte freien linken Platz im Parteienspektrum eingenommen, von wo aus wir auch ökologisch gesinnte Personen im übrigen Parteienspektrum anzusprechen suchen. Wir sehen keinen Grund, durch die Parteien­landschaft zu vagabundieren und werden unseren Platz auch gegen das Zer­fallsprodukt der SED verteidigen, das die Menschen, an de­ren Mitarbeit uns liegt, in seinen eigenen Unter­gangsstrudel hineinreißt.

Wir Grünen werden uns nicht damit zufriedengeben, in Zukunft als Ansammlung von Regionalparteien und Kommunalwahlvereinen eine nachrangige politische Rolle zu spielen. Wir werden alle Kraft darauf richten, in vier Jahren als einheitliche politische Kraft das Comeback im Bundestag zu schaffen. Unsere Partei ist dabei kein Selbstzweck. Die Missstände, die wir angeprangert haben, be­stehen fort:  die ökologische Zerstörung der Erde und ihrer Atmo­sphäre, Elend in der Dritten Welt und soziale Benachteiligung bei uns, die Unterdrückung der Frauen weltweit, die globale Missach­tung der Menschenrechte und die demokratischen Defizite in unserer ei­genen Gesellschaft; die Kriegsgefahr wurde von der Ost-West-Achse nur auf die Nord-Süd-Achse verschoben.

Die anderen Parteien sind weder willens noch in der Lage, umfas­sende Lösungen für diese Probleme zu entwerfen und konsequent um­zusetzen. Selbst die kleinen Reformansätze der letzten Jahre und die neuen Diskussionselemente in den Altparteien sind letztlich dem Druck zu verdanken, den wir Grünen und die befreundeten außerparlamentarischen Bewegungen, Initiativen und Verbände ausgeübt haben. Wir werden nicht untätig zusehen, wie die politische Kultur unserer Republik in die Dumpfheit eines Drei-Parteien-Sy­stems zurückfällt. Wir werden die Kräfte neu organisieren helfen, die als gesellschaftliche Gegenmacht gegen wirtschaftliche Macht­kartelle und politische Beharrungskräfte ökologischen, sozialen und emanzi­patorischen Interessen mit demokratischen und gewalt­freien Mitteln Geltung verschaffen können. Wir werden den Schmerz über den Ver­lust einer Bundestagsfraktion in die Anstrengung überführen, die außerparlamentarischen Kräfte zu stärken. Wir werden als kreative, dialogfähige und dialogerzwingende Opposition auftreten. Wo die Mehrheitsver­hältnisse es zulassen, werden wir weiterhin rot-grüne Koalitionen anstreben; Voraussetzung aber ist gerade dann eine Schärfung un­seres politischen Profils gegenüber der SPD.

 

III. politischer Wille

In den Grünen bündeln sich unterschiedliche geistesgeschichtliche Strömungen. Wir werden uns auf die Chance besinnen, die positiven Elemente aus den wertkonservativen, liberalen, feministischen, so­zialistischen und freidenkerischen Traditionen zu filtern und im offenen Diskurs weiterzuentwickeln. Nicht Strömungen an sich sind das Problem, sondern das Predigen von Vielfalt und das gleichzei­tige Beharren auf der eigenen als der einzigen Wahrheit. Die be­rechtigte Forderung, dass die eigenen Ansichten selbstverständli­cher Teil der grünen Vielfalt seien, darf nicht länger ins Feld geführt werden, um die Erarbeitung einer einheitlichen Identität verhindern. Vielfalt darf nicht zur Belie­bigkeit führen. Auch grüne Toleranz und Streitkultur kann überstrapaziert werden.

Politische Einzelfragen auf den Punkt hin zu entscheiden, soll Programmdis­kussionen überlassen bleiben. Wir sehen es aber als überlebensnotwendig an, hier und heute die Are­nen, in denen in Zu­kunft unser politischer Disput ausgetragen wer­den soll, inhalt­lich einzugrenzen. Die Arena muss weit genug sein, um fruchtbare politi­sche Diskussionen zur Entfaltung kommen zu lassen, und eng genug, um ein beliebiges Ausufern zu verhindern. Willkommen zur Mitarbeit sind alle die, die sich loyal in diesem Rahmen bewegen wollen.

Einige unserer politischen Grundwerte Ökologisierung, Demokrati­sierung, soziale Gerechtigkeit und Gewaltfreiheit stehen im Span­nungsverhältnis zu einan­der. Einseitige Auflösungen oder das Aus­klammern einzelner Ele­mente zerreißen das Netz ganzheitlichen Den­kens, das die grüne Partei geprägt hat. Frauenpolitik im femini­stischen Sinne hat sich zu einer tragenden Säule unserer Politik entwickelt und praktisch die Geltung eines Grundwertes erlangt. Die Spannungsverhält­nisse wollen wir folgendermaßen umreißen:

Ökologie und Demokratie

Wir wollen den Normalvollzug ökologischer Zerstörung aufhalten, völlig neue For­men des menschlichen Austauschs mit der Natur an die Stelle des industriellen Wachstumsmodells setzen, die weit über die heutige Form des gesellschaftlichen Lebens hinausweisen; gleichzeitig aber sind wir faktisch auf den politischen Rahmen verwiesen, der uns hier und jetzt gesetzt ist und der sich mit großer Zähig­keit gegen unsere Refor­manstrengungen sträubt. Der Einsatz für eine Ökologisierung von Produktion und Verbrauch er­fordert deshalb stets auch den Kampf für eine Erweiterung demokrati­scher Ein­flussmöglichkeiten.

Soziale Frage und Ökologie

Das heute praktizierte Sozialstaatsmodell, das die sozialen Konflikte der Gesell­schaft durch die Verteilung von Wachstums- gewinnen abdämpft, wie auch die klassische sozialistische Utopie, durch eine „Entfesselung der Produk­tivkräfte“ neuen gesellschaftlichen Reichtum zu schaffen, machen unter den Bedin­gungen ei­ner notwendigen durchgreifenden Ökologisierung der Produktion und einer Beendi­gung des pauschalen Wachstumswahns keinen Sinn mehr. Die Sicherung einer menschenwürdigen Existenz und so­ziale Gerechtigkeit müssen ohne pauschales Wachs­tum, d.h. durch Umvertei­lung des erwirtschafteten Reichtums, in der Regel von oben nach unten, und durch eine gleichermaßen ökologische und soziale und demo­kratische Neubestimmung des Wirtschaftens geleistet wer­den.

Demokratie und soziale Gerechtigkeit

Unser aktives Eintreten für die Sicherung und Erweiterung von Bür­ger- und Menschenrechten ist unteilbar. Aber es kann sich nicht darauf beschränken, nur formale Garantien für demokratische Ver­kehrsformen abzugeben und unentschieden zu bleiben gegenüber den einzelnen Interessen, die unter dem Dach der demokratischen Regeln agieren. Unser Kampf für mehr formale Bürgerrechte lässt uns nicht gleichgültig dafür werden, ob mit ihnen für oder gegen die ökolo­gische Zerstörung und soziales Elend gearbeitet wird. Wir werden nicht zu­lassen, dass im Sinne des klassischen Liberalismus der Kampf für den Erhalt der natürlichen und sozialen Grundlagen men­schlichen Lebens als beliebiges Einzelinteresse formal gleich­berechtigt neben dem Partikularinteresse auf Ausbeutung und Zer­störung der Lebens­grundlagen steht. Un­ser Eintreten für demokrati­sche Regeln ist deshalb immer eng ver­bunden mit einem prinzipiel­len Engagement für die sozial Benach­teiligten in Nord und Süd. Deshalb nehmen wir die sozialen und po­litischen Menschenrechte gleich wichtig.

Gewaltfreiheit

Wir lehnen Gewalt als Mittel der Politik ab. Das betrifft sowohl unser eigenes Verhalten als auch das anderer Akteure. Wir erkennen an, dass im innenpolitischen Verhältnis das Volk die notwendige Exekutivgewalt an den Staat delegiert. Damit bleibt der Staat aber an den Volkswillen gebunden und kann nicht von sich aus ein Ge­waltmonopol definieren. Wir werden uns in die gesellschaftliche Diskussion mit dem Ziel einmischen, die dem Staat übertragene Ge­walt zu vermindern und besser demokratisch kontrollierbar zu ma­chen.

Im außenpolitischen Verhältnis lehnen wir Krieg als Methode der Konfliktlösung ab. Gewaltbereiten Diktaturen muss mit zivilen Mit­teln wie Embargos, Boykotts und Isolierung begegnet werden. Darüber hinaus muss an einer gerechten Weltordnung gearbeitet werden, die die wirtschaftlichen und sozialen Motive für Militäraktionen abbaut und nichtmilitärische Formen der Friedenssicherung enthält.

Feminismus

Weltweit werden Frauen durch patriarchale Strukturen und Kulturmu­ster unterdrückt. Menschen- und Bürgerrechte – ohnehin oft verletzt – haben faktisch für Frauen noch geringere Geltung. Krisenlösun­gen werden oft auf dem Rücken der Frauen ausgetragen. Wir Grünen sehen hierin ein erstrangiges politisches Problem und werden die Frauen bei ihrem Emanzipationskampf unterstützen. Wir sehen, dass die Ge­genwehr der Frauen weltweit verschiedenen Mustern folgt: vom Festhal­ten an vorindustriellen Lebensformen, über die Gleichstel­lung mit den Männern in modernen Gesellschaften bis hin zum Ver­such, die patri­archalen Strukturen grundsätzlich zu überwinden. Weil gerade der letzte Punkt das Übel bei der Wurzel packt, fühlen wir Grünen uns diesem Aspekt besonders verpflichtet.

politische Ökologie statt quantitatives Wachstum

Aus den Grundwerten ergibt sich für uns ein einheitlicher Begriff von Entwicklung. Wir Grünen wollen dafür eintreten, unter Beach­tung der ökologischen Belastbarkeit des Globus und unter Wahrung der natürlichen Lebensgrundlagen mit demokratischen und gewalt­freien Mitteln die Lebenschancen aller Menschen auf möglichst ho­hem Niveau aneinander anzugleichen.

Die Antwort auf die Zerstörung unseres Planeten kann sich nicht auf einzelne Umweltschutzmaßnahmen be­schränken. Wir brauchen eine umfassende politische Ökologie, die gesellschaftspolitische Ant­worten gibt. Maß und Richtung technolo­gischer Entwicklung, wirt­schaftlicher Nutzen und Schaden müssen neu bestimmt. Eine tief­greifende Demokratisierung muss eingeleitet werden, die nicht vor Fa­briktoren und Kirchentüren stehenbleibt. Eine Gesellschaft, in der alle Menschen weit­gehende demokratische Mitentscheidungsrechte ha­ben, in der Armut abgebaut ist, in der Menschen nicht wegen kul­tureller Andersartigkeit diskriminiert und Frauen nicht unterdrückt werden, bietet größere Chancen, jedem einzel­nen Men­schen das Maß an Einsicht, Selbstbescheidung und Verant­wortlichkeit ab­zuverlangen, dass für eine Überwindung der globalen ökologischen und sozialen Krisen erforder­lich sein wird.

Das Schmiermittel jeglicher Entwicklung heißt für alle Altparteien „Wachstum“. Der Wachstumswahn ist für uns immer noch und schon wieder der Feind der Ökologie und tiefgreifender Demokratisierung; auch wenn Wachs­tum Umweltschutz und deutsche Einheit fi­nanzieren soll. Wir setzen gegen das pauschale Wachstum der Industriegesell­schaft das selek­tive Schrumpfen und Wachsen im Rahmen eines ge­zielten ökologischen und sozialen Umbaus – national und interna­tional. Wir brauchen ganzheitliche Ansätze, in denen der Austausch von Mensch und Natur und der Men­schen untereinander nach ökologi­schen, sozialen und de­mokratischen Gesichtspunkten neu bestimmt wir­d. Mit unseren Umbau­konzepten ha­ben wir de­taillierte Vor­schläge in die Öffentlichkeit getragen, die die BRD- und EG- sowie die Nord-Süd-Dimen­sion umfassen. Die neuen Entwicklungen in den mittel- und osteuro­päischen Staaten bedürfen hingegen noch in­tensiver konzep­tioneller Anstrengungen.

Die zentralstaatlichen Planungsmodelle Osteuropas haben noch schwerer wiegende ökologische Schäden hervorgerufen als die kaum gere­gelten Marktkräfte bei uns. Dass das Bild bei uns vergleichs­weise freundlicher aussieht, liegt allerdings auch an der Möglich­keit der westlichen Industriestaaten, die Umweltzerstörung in die „Dritte Welt“ zu exportieren. Zentral­gelenkte Planwirtschaften wie auch die ungebremste Geltung priva­t- wirtschaftlicher Interessen haben sich als untauglich erwiesen, ökologisch zu produzieren und strukturelle Armut zu verhindern. Die berech­tigte und notwendige Kritik an den einen kann deshalb keine vor­behaltlose Zustimmung zu den an­deren bedeuten.

Wir Grünen suchen jenseits der gescheiterten real-sozialistischen Wege und der hemmungslosen Durchkapitalisierung der Welt einen neuen Weg. Frei von der suggestiven Gewalt der ideologischen Ver­hältnisse, die als Alter­native zum westlichen Kapitalismus immer nur die Staatsbürokratie und umgekehrt erscheinen ließ, könnte über soli­darische Wirt­schaftsmodelle nachgedacht werden: die Kreativi­tät und Initia­tive von Einzelnen oder Gruppen soll auch durch materi­elle Förde­rung als Produktivkraft mobilisiert werden, ohne dass diese sich als Klasse über den Rest der Gesellschaft er­heben dürfen. Die technische Verteilung des erwirtschafteten Reichtums sei den Märk­ten überlassen, nachdem politisch Standards für Verteilungsgerechtig­keit festge­legt wurden. Modelle müssen entwic­kelt werden, die die Ebenen von ge­sellschaftlichem Be­darf und per­sönlichem Bedürfnis beim Warenange­bot über eine Verknüpfung von unternehmerischer Marktanalyse und der politischen Be­schlussfassung über ökologische und verbraucher­politische Normen verbinden; die der Erkenntnis, dass Eigentum frei mache, die Konse­quenz folgen lassen, dass wirkliche und gleiche Freiheit für alle dann notwendig auch die gleiche Beteiligung al­ler am Eigentum be­deuten muss.

Unser Wille und der Zwang zur Zusammenarbeit verlangt den Verzicht auf kleinliche Maßstäbe. Gesellschaftliche Tiefenanalyse ist wei­terhin notwendig; doch die aus der Tradition der klassi­schen-deut­schen Philosophie erwachsene Neigung, sich in den Ver­tiefungen der Analyse zu verlieren, gilt es durch eine pragmati­sche Hand­lungsorientierung zu ergänzen. Wir wollen unsere prak­tische Poli­tik nicht aus vorgefertigten Weltbildern ab­leiten, sondern, von den vorfindbaren Problemen ausgehend, radikal die notwendigen und angemessenen Lö­sungen suchen; dabei kann das überschreiten heuti­ger „Systemgren­zen“ weder ein Ziel an sich noch ein Tabu sein.

Auf der Grundlage dieser Erklärung und einer noch ausstehenden Überarbeitung unseres Parteiprogramms werden wir unsere Politik neu organisieren. Hierzu brauchen wir eine Reform unserer Part­eistrukturen, die Verantwortung bündelt, Instanzen schafft, die die vielfältigen politischen Ansätze demokratisch zu einem ein­heitlichen Willen zusammenfassen können und eine professionellere Arbeit ermöglicht. Dazu gehört auch eine Verbesserung der internen Kommunikation, um wieder unabhängiger von der Berichterstattung in öffentlichen Medien zu werden.

 

IV. Aufgaben für die 90er Jahre

sozialökologische Politik für Gesamteuropa

Die Auflösung des Ost-West-Konfliktes und die deutsche Einheit ha­ben wichtige Koordinaten unserer Politik verändert. Der nationale Rahmen, auf den sich ein Großteil unserer politischen Initiativen und Forderungen bezieht, hat sich ausgedehnt und gleichzeitig eine neue internationale Einbettung erfahren. Daraus resultiert eine doppelte Aufgabe: wir müssen unsere innenpolitisch ausgerichteten Konzepte überarbeiten, um den besonderen Erfordernissen der hin­zugekommenen Bundesländer gerecht zu werden. Im Vordergrund muss dabei die Frage stehen, wie ökologische Sanierungs- und Präventivmaßnahmen mit den sozialen Ansprüchen der ehemaligen DDR-Bewohne­rInnen zu vermitteln sind. Der ökologische und soziale Umbau die­ser Region wirft zudem die Frage nach ihrer Verzahnung mit den existierenden Umbaukonzepten für das ehemalige Westdeutschland mitsamt seiner EG-Bindung und mit den Staaten und Regionen Osteu­ropas auf, auf die sich bisher der wirtschaftliche und kulturelle Austausch konzentrierte. Gefragt ist also eine neue Konzeption von Gesamteuropa. Hierhin gehört auch die Frage nach erhaltenswer­ten Traditionsbeständen. Was aus der ehemaligen DDR, insbesondere aus der Zeit des Umbruchs, soll und kann realistischerweise be­wahrt werden? Ist alles, was über Flüchtlings- und Zuwanderungsbe­wegungen aus den östlichen Staaten zufließt, begrüßenswert, nur weil es sich auf Deutschstämmigkeit beruft? In welchem Verhältnis stehen Asylrecht, Einwanderungswunsch und die bestehenden Kapazi­täten an Wohnraum und Arbeitsplätzen? Wir werden uns diesem Pro­blemkomplex besonders intensiv zuwenden, weil seine Bearbeitung auch bedeutsam für das Zusammenwachsen der westlichen und der öst­lichen Varianten grün-alternativer Politik sein wird.

Nord-Süd-Konflikt und neue Kriegsgefahr

Zwar birgt die Auflösung der Ost-West-Spannung die Chance, dass endlich alle verfügbaren finanziellen und politischen Ressourcen in die Lösung der dringendsten Menschheitsaufgaben – Beseitigung des Hungers in der sog. Dritten Welt, Abwendung von Klima- und glo­balen Umweltkatastrophen – investiert werden. Leider hat es aber den Anschein, als werde die vertikale Teilung der Welt in zwei hochgerüstete Supermächte nun durch die horizontale abgelöst. Der „Norden“ steht dem „Süden“, die „moderne“ Welt der „traditionel­len“, die „schnellen“ Staaten stehen den „langsamen“ gegenüber. Der OECD-Block nutzt seine strukturelle Vormachtstellung aus, um den unterlegenen Regionen eine Vorstellung von der einen Welt auf­zuzwingen, die in erster Linie im Interesse der reichen Indu­strienationen liegt. Die sich abzeichnende Neuordnung der Welt er­fordert von uns eine Überprüfung unserer außen- und das heißt friedens- und entwicklungspolitischen Positionen. Während wir die entwicklungspolitische Debatte bereits in eine allgemeine Thesen­bildung über weltwirtschaftliche Zusammenhänge aufgehoben haben, warten unsere Kernaussagen zur Friedenspolitik auf eine Aktuali­sierung. Wie kann ein abstrakter Pazifismus, wie kann unsere For­derung nach Verlassen des NATO-Zusammenhangs in die Vorstellung einer nicht europäischen, sondern globalen Sicherheitspartner­schaft einmünden. Wie müssen – gerade im sich verschärfenden Nord-Süd-Konflikt – nichtmilitärische Formen von Sicherheitspolitik aussehen und in welchem Verhältnis stehen sie zu dem Bemühen um die Schaffung einer ökologisch-solidarischen Weltwirtschaft? Wie müssen wirtschaftliche Konversionsprozesse bei uns und anderswo aussehen, die unumkehrbar die Waffenproduktion abbauen?

Modernisierung und Tradition

Im kommenden Jahrzehnt wird sich die Frage entscheiden, ob sich technologische Innovation und gesellschaftliche Modernisierung un­gehemmt durchsetzen und traditionelle Lebenswelten innerhalb und außerhalb unserer eigenen Gesellschaft endgültig an den Rand drän­gen werden. Völker, die sich gegen die Einverleibung in die Geld­wirtschaft sperren, sind bedroht; bäuerliche und handwerkliche Produktionsweisen, die sich nicht auf die Erfordernisse des Welt­marktes einlassen, werden zurückgedrängt; Nachbarschaften und zwi­schenmenschliche Solidarität fallen der Zerstörung gewachsener so­zialer Bezüge zum Opfer. Zum anderen aber sind Vorteile der Moder­nisierung nicht zu leugnen. Und schon gar nicht können wir uns in­dividuell der umfassenden Modernisierung völlig entziehen. Wir brauchen eine neue Debatte über Maß und Richtung gesellschaftli­cher Moder­nisierung, bei uns und global. Wir müssen diskutieren, welche Le­benswelten gegen das „Vordringen des Systems“ verteidigt werden müssen, und welche so rückschrittlich sind, dass ihre Überwindung ein Glück wäre. Das betrifft zum Beispiel die Verteilung der Ge­schlechtsrollen. Oder gibt es gar Chancen, überholte Traditionsbe­stände zu verändern, ohne gleichzeitig die herrschen­den Vorstel­lungen von Modernität übernehmen zu müssen? Umgekehrt: sind Moder­nisierungen rückholbar und lassen sich verloren ge­glaubte Welten wieder aufbauen? Eine tiefgehende Diskussion dieser Fragen soll dazu beitragen, dass zwischen den „wertkonservativen“ und den „lin­ken“ Strömungen unserer Partei ein neues Verständnis erwächst.

 

V. Partei des ökologischen Humanismus

Gerade das zukünftige Deutschland braucht eine Partei des ökologi­schen Humanismus, eine Partei, die Großmachtansprüchen entgegen­tritt und die globale Versöhnung von Nord und Süd, von Mensch und Natur an die Stelle expansionistischer Weltmarktstrategien setzt. Es braucht eine grüne Partei, in der die Erfahrungen der ehemali­gen West- und Ost-Grünen zu einer gemeinsamen Politik verschmelzen und die sich weit für die Anliegen und Interessen der Bürger­rechtsgruppen der ehemaligen DDR öffnet. Es gibt in dem politi­schen Spektrum, das wir Grünen abdecken, keine Chance für eine weitere Partei, sich langfristig als bundespolitische Größe zu etablieren; das gilt für PDS und ÖDP ebenso wie für Vorstellungen, aus der heutigen grünen Partei heraus konkurrierende Projekte starten zu wollen.

Alle Menschen, die die Notwendigkeit einer Partei des ökologischen Humanismus sehen, rufen wir auf, sich in­tensiv am Neuaufbau der Grünen zu beteiligen und sie ins Zentrum der politischen Auseinandersetzungen zurückzuführen.