(Nachdem die West-Grünen bei der Bundestagswahl im Dezember 1990 an der 5%-Hürde gescheitert waren und vor dem Exitus standen, sondierte ich mit einem No-Name-Papier (genauer gesagt unter 6 Pseudonymen) vom 10. Januar 1991 an die Möglichkeit, die total zerstrittene Partei zu einen. Der Versuch gelang. Die in dem Anschreiben der 6 „MentorInnen“ vorgeschlagene Erklärung wurde am 27. Februar vom „Linken Forum“, meiner innerparteilichen Strömung, als „Kieler Erklärung“ akzeptiert und auf dem Parteitag von Neumünster im April 1991 als Leitantrag mit einigen Ergänzungen mit großer Mehrheit als neues Grundsatzpapier der Grünen angenommen. Auf dieser Basis wurde ich zum Parteivorsitzenden gewählt und konnte das Comeback der Partei 1994 im Bundestag organisieren.)
Dalai Lama, Rosa Luxemburg, Rudolf Steiner, Jean d’Arc, Bernhard Grzimek, Tina Turner
Liebe GRÜNE,
wir sind traurig darüber, was Ihr aus unserem Vermächtnis gemacht habt. Gewiss, Ihr hattet es nicht leicht. Aber musste es wirklich so weit kommen? Leider haben wir bemerkt, dass viele von Euch untereinander gar nicht mehr richtig gesprächsfähig sind. Das lässt sich wohl durch Appelle auch nicht so leicht beheben. Deshalb fühlten wir, die Ihr uns als Eure MentorInnen seht, verpflichtet, einen Beitrag zu mehr Einigkeit zu leisten.
Wir haben uns zusammengesetzt, um miteinander darüber zu reden, wo denn eigentlich die Gemeinsamkeiten sind. Das konnte selbstverständlich nicht ins Detail gehen. Wir wollten auch nicht jeden einzelnen Disput klären. Aber es müsste doch, so hatten wir uns gedacht, möglich sein, einen Rahmen für Euch zu entwerfen, der allgemein genug ist, dass sich die meisten von Euch darin wiederfinden, und dennoch so konkret, dass die Beliebigkeit, die Eure Diskussionen seit geraumer Zeit kennzeichnete, eingedämmt wird. Wir meinen, dass sich unser Versuch gelohnt hat. Der Fundus an Gemeinsamkeiten ist so groß, dass es keinen Grund gibt, von der gemeinsamen Sache Abstand zu nehmen. Und auch wenn wir miteinander so manchen Kompromiss gemacht haben, ist das Ergebnis doch immer noch sehr verschieden von dem, was andere Parteien wollen. Uns scheint es als einschließender Rahmen für Euch und als Abgrenzung gegenüber anderen Eurer Kenntnisnahme wert.
Wir müssen hinzusetzen, dass wir nicht mit allen reden konnten, die etwas beizusteuern haben. Einige Leute wie etwa Lenin und Calvin haben es uns schwer gemacht, indem sie sich sehr auf ihre Auffassungen versteiften. Dennoch, wir wären froh, wenn auch sie sich dem Text anschließen würden.
Bitte redet über unseren Vorschlag. Wir haben Euren Bundesvorstand gebeten, den Text zu verbreiten und Eure Antworten entgegenzunehmen. Es wird sich sicher jemand finden, der sie in den Entwurf einzuarbeiten versucht.
Das war es, was wir noch für Euch tun konnten. Nun ist es an Euch zu beweisen, dass unser Tun nicht vergebens war.
Hier unser Vorschlag:
Erklärung
I. Niederlage
Wir Grünen haben unseren politischen GAU erlebt. Ob er zum unbeherrschbaren Super-GAU wird, hängt in erster Linie von uns selbst ab. Ein Weiterleben wie vor der Katastrophe kann es nicht mehr geben. Einschneidende Änderungen sind unausweichlich.
Herbeigeführt wurde das Desaster durch schwierige politische Umweltbedingungen und durch ein Versagen unserer Steuerung.
Wir Grünen haben uns vor über 10 Jahren nicht gegründet, um die Deutschlandfrage zu lösen und besaßen auf diesem Politikfeld keinen Traditionsbestand. Die deutschlandpolitische Entwicklung hat uns überrollt, in überkomplexe Entscheidungsprobleme gebracht und unsere angestammten Kernthemen an den Rand gedrängt. Die SPD hat einen Kanzlerkandidaten präsentiert, der unter Preisgabe der politischen Mitte rot-grüne WechselwählerInnen für die SPD gewinnen konnte. Mit der PDS ist eine politische Kraft aufgetaucht, die ein süßes Zurücksinken in einen historisch überholten und moralisch diskreditierten „linken“ Traditionalismus anbot. Zahlreiche Massenmedien haben unsere internen Probleme nicht nur ständig überspitzt dargestellt, sondern damit die Wirklichkeit, über die sie zu berichten vorgaben, oft erst selbst erzeugt.
Dass wir mit solchen Problemen nicht fertig geworden sind, liegt an langfristigen inneren Fehlentwicklungen und an kurzfristigem Versagen. Ein medienverstärkter überzogener interner Streit hat die durchaus vorhandenen Ansätze zur Erarbeitung von Konsensen, die die große Mehrheit der Partei hätte tragen können, immer wieder zerstört. Eine seit Langem notwendige Anpassung unserer unter völlig anderen politischen Bedingungen eingesetzten Parteistrukturen an die veränderte Wirklichkeit fiel der Trägheit, der Verliebtheit in z.T. realitätsferne Ideen und taktischen Kalkülen zum Opfer. Im Gegensatz zur oft sehr guten Arbeit der Grünen vor Ort war das Erscheinungsbild auf Bundesebene miserabel. Das betrifft gleichermaßen eine Reihe von Bundesvorständen, die letzte Bundestagsfraktion mitsamt ihren Vorständen als auch die Inszenierungen bestimmter Gruppierungen auf Bundesversammlungen. Randgruppen innerhalb der Partei überstrapazierten immer wieder – von den Medien angefeuert – den ohnehin sehr weit gesteckten Toleranzrahmen. Im Wahljahr betraf das zum einen die Koketterie einiger Leute der PDS gegenüber bis hin zum Parteiaustritt, als auch den Versuch anderer, den gesamten Zuschnitt unserer Partei im liberal-konservativen Sinne neuzubestimmen, der auch vor Großmachtphantasien nicht haltmachte. Mit der alleinigen Fixierung auf das zweifellos äußerst wichtige Thema der Klimapolitik wurde das Spektrum der grünen Themen gerade zu einem Zeitpunkt verengt, als die Probleme der ehemaligen DDR-Gebiete eine Schwerpunktsetzung auf die dortigen sozialen und wirtschaftlich-strukturellen Fragen erforderten. Der deutschlandpolitische Kurs schlingerte zwischen kruder Ablehnung der Einheit, die zunehmend an Realitätsbezug verlor, und einer illusionären Übertreibung der Hoffnung, eine neue politische Kultur errichten zu können. Das Fehlen einer generationsspezifischen Politik entfremdete die Älteren wie die Jüngeren von einer durch 68er geprägten Partei.
II. Ortsbestimmung
Auch wenn wir arg gerupft wurden, werden wir für unseren spezifischen Platz in der Parteienlandschaft weiterkämpfen. Unsere gesamte Geschichte und die der gesellschaftlichen Bewegungen, aus denen wir entstanden sind, weisen uns als eine Partei aus, die die zahlreichen Widerspreche zum Normalvollzug in dieser Gesellschaft, die Widerspreche zu Zerstörung der Umwelt, zu Demokratiedefiziten, zu sozialer Benachteiligung, zu kultureller Diskriminierung und zur Unterdrückung der Frauen in emanzipatorische Politik wendet. Wir sind eine Partei, die mahnt, die warnt, die provoziert und die bei aller Einsicht in die Notwendigkeit auch kleiner und kleinster Schritte weitreichende Problemlösungen anbietet, die nicht von vornherein vor den bestehenden Macht-, Herrschafts- und wirtschaftlichen Interessenstrukturen haltmachen. Wir sind deshalb weder Volkspartei noch Linkspartei im traditionellen Sinne. Wir haben allerdings den seit der Wende der SPD in die politische Mitte freien linken Platz im Parteienspektrum eingenommen, von wo aus wir auch ökologisch gesinnte Personen im übrigen Parteienspektrum anzusprechen suchen. Wir sehen keinen Grund, durch die Parteienlandschaft zu vagabundieren und werden unseren Platz auch gegen das Zerfallsprodukt der SED verteidigen, das die Menschen, an deren Mitarbeit uns liegt, in seinen eigenen Untergangsstrudel hineinreißt.
Wir Grünen werden uns nicht damit zufriedengeben, in Zukunft als Ansammlung von Regionalparteien und Kommunalwahlvereinen eine nachrangige politische Rolle zu spielen. Wir werden alle Kraft darauf richten, in vier Jahren als einheitliche politische Kraft das Comeback im Bundestag zu schaffen. Unsere Partei ist dabei kein Selbstzweck. Die Missstände, die wir angeprangert haben, bestehen fort: die ökologische Zerstörung der Erde und ihrer Atmosphäre, Elend in der Dritten Welt und soziale Benachteiligung bei uns, die Unterdrückung der Frauen weltweit, die globale Missachtung der Menschenrechte und die demokratischen Defizite in unserer eigenen Gesellschaft; die Kriegsgefahr wurde von der Ost-West-Achse nur auf die Nord-Süd-Achse verschoben.
Die anderen Parteien sind weder willens noch in der Lage, umfassende Lösungen für diese Probleme zu entwerfen und konsequent umzusetzen. Selbst die kleinen Reformansätze der letzten Jahre und die neuen Diskussionselemente in den Altparteien sind letztlich dem Druck zu verdanken, den wir Grünen und die befreundeten außerparlamentarischen Bewegungen, Initiativen und Verbände ausgeübt haben. Wir werden nicht untätig zusehen, wie die politische Kultur unserer Republik in die Dumpfheit eines Drei-Parteien-Systems zurückfällt. Wir werden die Kräfte neu organisieren helfen, die als gesellschaftliche Gegenmacht gegen wirtschaftliche Machtkartelle und politische Beharrungskräfte ökologischen, sozialen und emanzipatorischen Interessen mit demokratischen und gewaltfreien Mitteln Geltung verschaffen können. Wir werden den Schmerz über den Verlust einer Bundestagsfraktion in die Anstrengung überführen, die außerparlamentarischen Kräfte zu stärken. Wir werden als kreative, dialogfähige und dialogerzwingende Opposition auftreten. Wo die Mehrheitsverhältnisse es zulassen, werden wir weiterhin rot-grüne Koalitionen anstreben; Voraussetzung aber ist gerade dann eine Schärfung unseres politischen Profils gegenüber der SPD.
III. politischer Wille
In den Grünen bündeln sich unterschiedliche geistesgeschichtliche Strömungen. Wir werden uns auf die Chance besinnen, die positiven Elemente aus den wertkonservativen, liberalen, feministischen, sozialistischen und freidenkerischen Traditionen zu filtern und im offenen Diskurs weiterzuentwickeln. Nicht Strömungen an sich sind das Problem, sondern das Predigen von Vielfalt und das gleichzeitige Beharren auf der eigenen als der einzigen Wahrheit. Die berechtigte Forderung, dass die eigenen Ansichten selbstverständlicher Teil der grünen Vielfalt seien, darf nicht länger ins Feld geführt werden, um die Erarbeitung einer einheitlichen Identität verhindern. Vielfalt darf nicht zur Beliebigkeit führen. Auch grüne Toleranz und Streitkultur kann überstrapaziert werden.
Politische Einzelfragen auf den Punkt hin zu entscheiden, soll Programmdiskussionen überlassen bleiben. Wir sehen es aber als überlebensnotwendig an, hier und heute die Arenen, in denen in Zukunft unser politischer Disput ausgetragen werden soll, inhaltlich einzugrenzen. Die Arena muss weit genug sein, um fruchtbare politische Diskussionen zur Entfaltung kommen zu lassen, und eng genug, um ein beliebiges Ausufern zu verhindern. Willkommen zur Mitarbeit sind alle die, die sich loyal in diesem Rahmen bewegen wollen.
Einige unserer politischen Grundwerte Ökologisierung, Demokratisierung, soziale Gerechtigkeit und Gewaltfreiheit stehen im Spannungsverhältnis zu einander. Einseitige Auflösungen oder das Ausklammern einzelner Elemente zerreißen das Netz ganzheitlichen Denkens, das die grüne Partei geprägt hat. Frauenpolitik im feministischen Sinne hat sich zu einer tragenden Säule unserer Politik entwickelt und praktisch die Geltung eines Grundwertes erlangt. Die Spannungsverhältnisse wollen wir folgendermaßen umreißen:
Ökologie und Demokratie
Wir wollen den Normalvollzug ökologischer Zerstörung aufhalten, völlig neue Formen des menschlichen Austauschs mit der Natur an die Stelle des industriellen Wachstumsmodells setzen, die weit über die heutige Form des gesellschaftlichen Lebens hinausweisen; gleichzeitig aber sind wir faktisch auf den politischen Rahmen verwiesen, der uns hier und jetzt gesetzt ist und der sich mit großer Zähigkeit gegen unsere Reformanstrengungen sträubt. Der Einsatz für eine Ökologisierung von Produktion und Verbrauch erfordert deshalb stets auch den Kampf für eine Erweiterung demokratischer Einflussmöglichkeiten.
Soziale Frage und Ökologie
Das heute praktizierte Sozialstaatsmodell, das die sozialen Konflikte der Gesellschaft durch die Verteilung von Wachstums- gewinnen abdämpft, wie auch die klassische sozialistische Utopie, durch eine „Entfesselung der Produktivkräfte“ neuen gesellschaftlichen Reichtum zu schaffen, machen unter den Bedingungen einer notwendigen durchgreifenden Ökologisierung der Produktion und einer Beendigung des pauschalen Wachstumswahns keinen Sinn mehr. Die Sicherung einer menschenwürdigen Existenz und soziale Gerechtigkeit müssen ohne pauschales Wachstum, d.h. durch Umverteilung des erwirtschafteten Reichtums, in der Regel von oben nach unten, und durch eine gleichermaßen ökologische und soziale und demokratische Neubestimmung des Wirtschaftens geleistet werden.
Demokratie und soziale Gerechtigkeit
Unser aktives Eintreten für die Sicherung und Erweiterung von Bürger- und Menschenrechten ist unteilbar. Aber es kann sich nicht darauf beschränken, nur formale Garantien für demokratische Verkehrsformen abzugeben und unentschieden zu bleiben gegenüber den einzelnen Interessen, die unter dem Dach der demokratischen Regeln agieren. Unser Kampf für mehr formale Bürgerrechte lässt uns nicht gleichgültig dafür werden, ob mit ihnen für oder gegen die ökologische Zerstörung und soziales Elend gearbeitet wird. Wir werden nicht zulassen, dass im Sinne des klassischen Liberalismus der Kampf für den Erhalt der natürlichen und sozialen Grundlagen menschlichen Lebens als beliebiges Einzelinteresse formal gleichberechtigt neben dem Partikularinteresse auf Ausbeutung und Zerstörung der Lebensgrundlagen steht. Unser Eintreten für demokratische Regeln ist deshalb immer eng verbunden mit einem prinzipiellen Engagement für die sozial Benachteiligten in Nord und Süd. Deshalb nehmen wir die sozialen und politischen Menschenrechte gleich wichtig.
Gewaltfreiheit
Wir lehnen Gewalt als Mittel der Politik ab. Das betrifft sowohl unser eigenes Verhalten als auch das anderer Akteure. Wir erkennen an, dass im innenpolitischen Verhältnis das Volk die notwendige Exekutivgewalt an den Staat delegiert. Damit bleibt der Staat aber an den Volkswillen gebunden und kann nicht von sich aus ein Gewaltmonopol definieren. Wir werden uns in die gesellschaftliche Diskussion mit dem Ziel einmischen, die dem Staat übertragene Gewalt zu vermindern und besser demokratisch kontrollierbar zu machen.
Im außenpolitischen Verhältnis lehnen wir Krieg als Methode der Konfliktlösung ab. Gewaltbereiten Diktaturen muss mit zivilen Mitteln wie Embargos, Boykotts und Isolierung begegnet werden. Darüber hinaus muss an einer gerechten Weltordnung gearbeitet werden, die die wirtschaftlichen und sozialen Motive für Militäraktionen abbaut und nichtmilitärische Formen der Friedenssicherung enthält.
Feminismus
Weltweit werden Frauen durch patriarchale Strukturen und Kulturmuster unterdrückt. Menschen- und Bürgerrechte – ohnehin oft verletzt – haben faktisch für Frauen noch geringere Geltung. Krisenlösungen werden oft auf dem Rücken der Frauen ausgetragen. Wir Grünen sehen hierin ein erstrangiges politisches Problem und werden die Frauen bei ihrem Emanzipationskampf unterstützen. Wir sehen, dass die Gegenwehr der Frauen weltweit verschiedenen Mustern folgt: vom Festhalten an vorindustriellen Lebensformen, über die Gleichstellung mit den Männern in modernen Gesellschaften bis hin zum Versuch, die patriarchalen Strukturen grundsätzlich zu überwinden. Weil gerade der letzte Punkt das Übel bei der Wurzel packt, fühlen wir Grünen uns diesem Aspekt besonders verpflichtet.
politische Ökologie statt quantitatives Wachstum
Aus den Grundwerten ergibt sich für uns ein einheitlicher Begriff von Entwicklung. Wir Grünen wollen dafür eintreten, unter Beachtung der ökologischen Belastbarkeit des Globus und unter Wahrung der natürlichen Lebensgrundlagen mit demokratischen und gewaltfreien Mitteln die Lebenschancen aller Menschen auf möglichst hohem Niveau aneinander anzugleichen.
Die Antwort auf die Zerstörung unseres Planeten kann sich nicht auf einzelne Umweltschutzmaßnahmen beschränken. Wir brauchen eine umfassende politische Ökologie, die gesellschaftspolitische Antworten gibt. Maß und Richtung technologischer Entwicklung, wirtschaftlicher Nutzen und Schaden müssen neu bestimmt. Eine tiefgreifende Demokratisierung muss eingeleitet werden, die nicht vor Fabriktoren und Kirchentüren stehenbleibt. Eine Gesellschaft, in der alle Menschen weitgehende demokratische Mitentscheidungsrechte haben, in der Armut abgebaut ist, in der Menschen nicht wegen kultureller Andersartigkeit diskriminiert und Frauen nicht unterdrückt werden, bietet größere Chancen, jedem einzelnen Menschen das Maß an Einsicht, Selbstbescheidung und Verantwortlichkeit abzuverlangen, dass für eine Überwindung der globalen ökologischen und sozialen Krisen erforderlich sein wird.
Das Schmiermittel jeglicher Entwicklung heißt für alle Altparteien „Wachstum“. Der Wachstumswahn ist für uns immer noch und schon wieder der Feind der Ökologie und tiefgreifender Demokratisierung; auch wenn Wachstum Umweltschutz und deutsche Einheit finanzieren soll. Wir setzen gegen das pauschale Wachstum der Industriegesellschaft das selektive Schrumpfen und Wachsen im Rahmen eines gezielten ökologischen und sozialen Umbaus – national und international. Wir brauchen ganzheitliche Ansätze, in denen der Austausch von Mensch und Natur und der Menschen untereinander nach ökologischen, sozialen und demokratischen Gesichtspunkten neu bestimmt wird. Mit unseren Umbaukonzepten haben wir detaillierte Vorschläge in die Öffentlichkeit getragen, die die BRD- und EG- sowie die Nord-Süd-Dimension umfassen. Die neuen Entwicklungen in den mittel- und osteuropäischen Staaten bedürfen hingegen noch intensiver konzeptioneller Anstrengungen.
Die zentralstaatlichen Planungsmodelle Osteuropas haben noch schwerer wiegende ökologische Schäden hervorgerufen als die kaum geregelten Marktkräfte bei uns. Dass das Bild bei uns vergleichsweise freundlicher aussieht, liegt allerdings auch an der Möglichkeit der westlichen Industriestaaten, die Umweltzerstörung in die „Dritte Welt“ zu exportieren. Zentralgelenkte Planwirtschaften wie auch die ungebremste Geltung privat- wirtschaftlicher Interessen haben sich als untauglich erwiesen, ökologisch zu produzieren und strukturelle Armut zu verhindern. Die berechtigte und notwendige Kritik an den einen kann deshalb keine vorbehaltlose Zustimmung zu den anderen bedeuten.
Wir Grünen suchen jenseits der gescheiterten real-sozialistischen Wege und der hemmungslosen Durchkapitalisierung der Welt einen neuen Weg. Frei von der suggestiven Gewalt der ideologischen Verhältnisse, die als Alternative zum westlichen Kapitalismus immer nur die Staatsbürokratie und umgekehrt erscheinen ließ, könnte über solidarische Wirtschaftsmodelle nachgedacht werden: die Kreativität und Initiative von Einzelnen oder Gruppen soll auch durch materielle Förderung als Produktivkraft mobilisiert werden, ohne dass diese sich als Klasse über den Rest der Gesellschaft erheben dürfen. Die technische Verteilung des erwirtschafteten Reichtums sei den Märkten überlassen, nachdem politisch Standards für Verteilungsgerechtigkeit festgelegt wurden. Modelle müssen entwickelt werden, die die Ebenen von gesellschaftlichem Bedarf und persönlichem Bedürfnis beim Warenangebot über eine Verknüpfung von unternehmerischer Marktanalyse und der politischen Beschlussfassung über ökologische und verbraucherpolitische Normen verbinden; die der Erkenntnis, dass Eigentum frei mache, die Konsequenz folgen lassen, dass wirkliche und gleiche Freiheit für alle dann notwendig auch die gleiche Beteiligung aller am Eigentum bedeuten muss.
Unser Wille und der Zwang zur Zusammenarbeit verlangt den Verzicht auf kleinliche Maßstäbe. Gesellschaftliche Tiefenanalyse ist weiterhin notwendig; doch die aus der Tradition der klassischen-deutschen Philosophie erwachsene Neigung, sich in den Vertiefungen der Analyse zu verlieren, gilt es durch eine pragmatische Handlungsorientierung zu ergänzen. Wir wollen unsere praktische Politik nicht aus vorgefertigten Weltbildern ableiten, sondern, von den vorfindbaren Problemen ausgehend, radikal die notwendigen und angemessenen Lösungen suchen; dabei kann das überschreiten heutiger „Systemgrenzen“ weder ein Ziel an sich noch ein Tabu sein.
Auf der Grundlage dieser Erklärung und einer noch ausstehenden Überarbeitung unseres Parteiprogramms werden wir unsere Politik neu organisieren. Hierzu brauchen wir eine Reform unserer Parteistrukturen, die Verantwortung bündelt, Instanzen schafft, die die vielfältigen politischen Ansätze demokratisch zu einem einheitlichen Willen zusammenfassen können und eine professionellere Arbeit ermöglicht. Dazu gehört auch eine Verbesserung der internen Kommunikation, um wieder unabhängiger von der Berichterstattung in öffentlichen Medien zu werden.
IV. Aufgaben für die 90er Jahre
sozialökologische Politik für Gesamteuropa
Die Auflösung des Ost-West-Konfliktes und die deutsche Einheit haben wichtige Koordinaten unserer Politik verändert. Der nationale Rahmen, auf den sich ein Großteil unserer politischen Initiativen und Forderungen bezieht, hat sich ausgedehnt und gleichzeitig eine neue internationale Einbettung erfahren. Daraus resultiert eine doppelte Aufgabe: wir müssen unsere innenpolitisch ausgerichteten Konzepte überarbeiten, um den besonderen Erfordernissen der hinzugekommenen Bundesländer gerecht zu werden. Im Vordergrund muss dabei die Frage stehen, wie ökologische Sanierungs- und Präventivmaßnahmen mit den sozialen Ansprüchen der ehemaligen DDR-BewohnerInnen zu vermitteln sind. Der ökologische und soziale Umbau dieser Region wirft zudem die Frage nach ihrer Verzahnung mit den existierenden Umbaukonzepten für das ehemalige Westdeutschland mitsamt seiner EG-Bindung und mit den Staaten und Regionen Osteuropas auf, auf die sich bisher der wirtschaftliche und kulturelle Austausch konzentrierte. Gefragt ist also eine neue Konzeption von Gesamteuropa. Hierhin gehört auch die Frage nach erhaltenswerten Traditionsbeständen. Was aus der ehemaligen DDR, insbesondere aus der Zeit des Umbruchs, soll und kann realistischerweise bewahrt werden? Ist alles, was über Flüchtlings- und Zuwanderungsbewegungen aus den östlichen Staaten zufließt, begrüßenswert, nur weil es sich auf Deutschstämmigkeit beruft? In welchem Verhältnis stehen Asylrecht, Einwanderungswunsch und die bestehenden Kapazitäten an Wohnraum und Arbeitsplätzen? Wir werden uns diesem Problemkomplex besonders intensiv zuwenden, weil seine Bearbeitung auch bedeutsam für das Zusammenwachsen der westlichen und der östlichen Varianten grün-alternativer Politik sein wird.
Nord-Süd-Konflikt und neue Kriegsgefahr
Zwar birgt die Auflösung der Ost-West-Spannung die Chance, dass endlich alle verfügbaren finanziellen und politischen Ressourcen in die Lösung der dringendsten Menschheitsaufgaben – Beseitigung des Hungers in der sog. Dritten Welt, Abwendung von Klima- und globalen Umweltkatastrophen – investiert werden. Leider hat es aber den Anschein, als werde die vertikale Teilung der Welt in zwei hochgerüstete Supermächte nun durch die horizontale abgelöst. Der „Norden“ steht dem „Süden“, die „moderne“ Welt der „traditionellen“, die „schnellen“ Staaten stehen den „langsamen“ gegenüber. Der OECD-Block nutzt seine strukturelle Vormachtstellung aus, um den unterlegenen Regionen eine Vorstellung von der einen Welt aufzuzwingen, die in erster Linie im Interesse der reichen Industrienationen liegt. Die sich abzeichnende Neuordnung der Welt erfordert von uns eine Überprüfung unserer außen- und das heißt friedens- und entwicklungspolitischen Positionen. Während wir die entwicklungspolitische Debatte bereits in eine allgemeine Thesenbildung über weltwirtschaftliche Zusammenhänge aufgehoben haben, warten unsere Kernaussagen zur Friedenspolitik auf eine Aktualisierung. Wie kann ein abstrakter Pazifismus, wie kann unsere Forderung nach Verlassen des NATO-Zusammenhangs in die Vorstellung einer nicht europäischen, sondern globalen Sicherheitspartnerschaft einmünden. Wie müssen – gerade im sich verschärfenden Nord-Süd-Konflikt – nichtmilitärische Formen von Sicherheitspolitik aussehen und in welchem Verhältnis stehen sie zu dem Bemühen um die Schaffung einer ökologisch-solidarischen Weltwirtschaft? Wie müssen wirtschaftliche Konversionsprozesse bei uns und anderswo aussehen, die unumkehrbar die Waffenproduktion abbauen?
Modernisierung und Tradition
Im kommenden Jahrzehnt wird sich die Frage entscheiden, ob sich technologische Innovation und gesellschaftliche Modernisierung ungehemmt durchsetzen und traditionelle Lebenswelten innerhalb und außerhalb unserer eigenen Gesellschaft endgültig an den Rand drängen werden. Völker, die sich gegen die Einverleibung in die Geldwirtschaft sperren, sind bedroht; bäuerliche und handwerkliche Produktionsweisen, die sich nicht auf die Erfordernisse des Weltmarktes einlassen, werden zurückgedrängt; Nachbarschaften und zwischenmenschliche Solidarität fallen der Zerstörung gewachsener sozialer Bezüge zum Opfer. Zum anderen aber sind Vorteile der Modernisierung nicht zu leugnen. Und schon gar nicht können wir uns individuell der umfassenden Modernisierung völlig entziehen. Wir brauchen eine neue Debatte über Maß und Richtung gesellschaftlicher Modernisierung, bei uns und global. Wir müssen diskutieren, welche Lebenswelten gegen das „Vordringen des Systems“ verteidigt werden müssen, und welche so rückschrittlich sind, dass ihre Überwindung ein Glück wäre. Das betrifft zum Beispiel die Verteilung der Geschlechtsrollen. Oder gibt es gar Chancen, überholte Traditionsbestände zu verändern, ohne gleichzeitig die herrschenden Vorstellungen von Modernität übernehmen zu müssen? Umgekehrt: sind Modernisierungen rückholbar und lassen sich verloren geglaubte Welten wieder aufbauen? Eine tiefgehende Diskussion dieser Fragen soll dazu beitragen, dass zwischen den „wertkonservativen“ und den „linken“ Strömungen unserer Partei ein neues Verständnis erwächst.
V. Partei des ökologischen Humanismus
Gerade das zukünftige Deutschland braucht eine Partei des ökologischen Humanismus, eine Partei, die Großmachtansprüchen entgegentritt und die globale Versöhnung von Nord und Süd, von Mensch und Natur an die Stelle expansionistischer Weltmarktstrategien setzt. Es braucht eine grüne Partei, in der die Erfahrungen der ehemaligen West- und Ost-Grünen zu einer gemeinsamen Politik verschmelzen und die sich weit für die Anliegen und Interessen der Bürgerrechtsgruppen der ehemaligen DDR öffnet. Es gibt in dem politischen Spektrum, das wir Grünen abdecken, keine Chance für eine weitere Partei, sich langfristig als bundespolitische Größe zu etablieren; das gilt für PDS und ÖDP ebenso wie für Vorstellungen, aus der heutigen grünen Partei heraus konkurrierende Projekte starten zu wollen.
Alle Menschen, die die Notwendigkeit einer Partei des ökologischen Humanismus sehen, rufen wir auf, sich intensiv am Neuaufbau der Grünen zu beteiligen und sie ins Zentrum der politischen Auseinandersetzungen zurückzuführen.