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(bisher unveröffentlichtes Manuskript für den internen Gebrauch)

Die grünen Verluste und Niederlagen bei den letzten Wahlen lassen sich nicht allein mit Fehlern im taktischen, organisatorischen und wahlkampfstrategischen Bereich erklären, sondern sind im Wesentlichen auf Veränderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedin­gungen für grüne Politik zurückzuführen. Gegenüber der Aufschwungphase der Partei in den 80er Jahren hat sich in den 90ern ein zwiespältiger Richtungswechsel des gesell­schaftlichen Wandels ergeben, für den die Partei nicht mehr als Avantgarde steht. Die ökologischen, sozialen und bürgerrechtlichen Orientierungen der Partei, die sich zuvor er­gänzt hatten, geraten unter den neuen Bedingungen in Widerspruch zueinander.

1.  Eine gesellschaftliche Grundströmung der 70er und 80er Jahre zielte – gegen das „etablierte Parteienkartell“ – auf die Ökologisierung aller Lebensbereiche. Als es darum ging, Ökologie als Grundkategorie der Politik zu verankern, spielten Intensitätsunter­schiede bei diesem Bemühen eine relativ geringe Rolle. Ob grundsätzliche ökologische Transformation der Gesellschaft oder umwelttechnologische Modernisierung, ob alter­native Lebensreform oder Öko-Mode – alles wies in dieselbe Richtung und sah sich durch die Grünen repräsentiert. In den 90er Jahren nun stehen die verschiedenen Intensi­täten gegeneinander: Ökologie als Mode ist völlig out, besonders Jugendliche finden nichts uncooler als ökozottelige Klamotten. Nach der Einführung der getrennten Müll­sammlung in jedem Privathaushalt und der Müsliecke im Feinkostladen hat sich die le­bensreformerische Energie erschöpft. Debatten über grundsätzliche gesellschaftliche Transformationen sind nach dem epochalen Sieg des Kapitalismus versandet. Ökologie ist auf technologische Innovation geschrumpft; als solche ist sie von allen Parteien adap­tiert worden, so dass der grüne Alleinvertretungsanspruch kollabierte.

2. Der grüne Umgang mit der End-of-pipe-Technologie tut ein Übriges, um Ökologie suspekt zu machen. Die Industrie entschärft einen Prozess am Ende der Pipe. Die Grünen wollen die Pipe verstopfen, damit die ganze Maschine stoppt und eine andere entwickelt wird. Die Menschen sind aber nicht bereit, Funktionseinbußen als Fortschritt zu empfin­den. Sie wollen erst die funktionierende Alternative, bevor sie die alte Maschine ausran­gieren. Das gilt auch für ganze System wie die Energieerzeugung, Verkehrsverbindun­gen oder die Bundeswehr. Statt die Propagierung von Systemalternativen ins Zentrum zu rücken, haben die Grünen jedoch die „Verhinderung“, die „Abschaffung“ und den „Stopp“ ungeliebter Systeme betrieben. Das knüpfte zwar an der Mentalität der ‚Linken‘ an, die Künstler des Defensivspiels sind, verpasste aber der Masse der Bevölkerung ge­genüber den Nachweis der Zukunftsfähigkeit, den öffnenden Pass in die Tiefe des Rau­mes.

3. Eine zweite, das öffentliche Klima prägende Grundtendenz im gesellschaftlichen Wandel der 70er und 80er Jahre zielte auf mehr Demokratisierung, Emanzipation und Bürgerbe­teiligung. Die Grünen formten, beflügelt durch die Fusion mit Bündnis 90, auf dieser Basis ihr Profil als liberale Bürgerrechtspartei. Sie konnten sich zu Recht als Avantgarde der Emanzipation verstehen. Die öffentlich bestimmende innenpolitische Grundtendenz der 90er Jahre aber heißt nicht Bürgerbeteiligung, sondern Ausländerfeind­lichkeit. Der auf­klärerische grüne Avantgardeanspruch der 80er Jahre und der illiberale Zeitgeist stehen sich diametral entgegen. Die Grünen sind nicht Ausdruck des gesell­schaftlichen Wan­dels, der nach rechts treibt, sondern versuchen diesen zu verhindern. Während sie sich zuvor einbilden konnten, den heimlichen Mehrheitswillen der Bevölke­rung gegen das li­beral-konservative Bonn zu repräsentieren, müssen sie heute – um den Preis von Sympa­thieeinbuße – zum unheimlichen gesellschaftlichen Mehrheitswillen auf Distanz gehen.

4. Nachdem sich in der Gründungsphase der Grünen ein Blut- und Boden-Ökologismus von der demokratisch-ökologischen Orientierung abgespalten hat, kommt es nun zu einer neuen Ausdifferenzierung. Es erweist sich, dass nicht bei allen grünen Wählerinnen und Wählern die ökologische und die Bürgerrechtsorientierung miteinander verknüpft sind. Bei vielen stehen sie gegeneinander. Unter der öffentlichen Dominanz ökologischer Dis­kur­se konnte die Ausländerfeindlichkeit in Schach gehalten werden und hatte keine ne­gati­ven Wahlauswirkungen. Unter der Dominanz der innenpolitischen Diskurse verblasst das ökologische Motiv, und Wahlverhalten richtet sich nach der persönlichen Einstellung zur Ausländerfrage. Viele, die früher aus ökologischen Gründen grün gewählt haben, wählen nun aus innenpolitischen Gründen nicht-grün. Ökologische Orientierung und Bürger­rechtsorientierung addieren sich nicht zu einem erweiterten Wählerkreis, sondern wirken als gegenseitige Beschränkung. Die Verengung der Partei auf das Profil einer ökologi­schen Bürgerrechtspartei ist gescheitert.

5. Eine weitere Einengung des grünen Wählerspektrums ist der Umorientierung der Partei vom sozial-ökologischen hin zum kapital-ökologischen Gesellschaftsvertrag geschuldet. Der Versuch in der Mitte der 90er Jahre, die FDP nicht nur beim Bürgerrechts-, sondern auch beim Wirtschaftsliberalismus zu beerben, hat das soziale Profil so nachhaltig be­schädigt, dass die Grünen nicht nur als eine aus den Mittelschichten sich rekrutierende Partei gesehen werden, sondern als eine Partei, die ausschließlich deren Interessen ver­treten will. Ökologie wird – spätestens nach der Bezinpreisdebatte – als Luxusgut für Besserverdienende empfunden. Da die Interessenvertretung für die Mittelschichten aber wiederum durch soziale und bürgerrechtsliberale Elemente gebrochen wird, fühlen diese sich auch nicht optimal angesprochen. Der Begriffswirrwarr um die Mitte – Partei der Mitte, Mittelpartei, Mittelschichtspartei, Mittelstandspartei – hat die Partei bei allem faktischen Engagement für sozialen Fragen den unteren Einkommensschichten entfrem­det. Der Drang zum Mittelstand bricht sich auch daran, dass die Ausländerfeindlich­keit gerade dort verankert ist (Extremismus der Mitte). Wenn zwei Parteien einem Hand­werksmeister dasselbe Steuersenkungsmodell anpreisen, dann wählt er die, die sei­nen Aplomb gegen „Asylanten“ teilt.

6. Unter der Dominanz innenpolitischer Diskurse, an denen die Grünen im Zeichen der Aufklärung selbst großen Anteil haben, wird es schwierig sein, auch bei einer Neuakzen­tuierung der sozialen Ausrichtung sozial motivierte Wählerinnen und Wähler anzuspre­chen. Denn soziale Orientierung wird von den Grünen angeboten im Paket mit einer Li­beralisierung des Ausländerrechtes, während sie von der SPD im Paket mit teilweise illi­beralen Ideen verkauft wird. Das SPD-Paket verkauft sich besser.

7. Auch Ökologie und soziale Frage geraten erneut in Widerspruch, insbesondere bei jün­geren Wählern und Arbeitslosen. Nicht nur, dass für diese die Arbeitsmarktfrage die alles Entscheidende ist. Der verzichtsethische Anspruch der grünen Ökologie wird, besonders wenn er sich gegen das Auto richtet, als weitere Einschränkung der Freiheit begriffen. Wer schon keine berufliche Perspektive hat, möchte zumindest mit einem billigen Ge­brauchtwagen seine Lebenswelt ausdehnen. Wer jungen Leuten das Autofahren vergällt, gerät bei diesen so stark in Misskredit, dass die Anstrengungen in der Arbeitsmarktpolitik dagegen verblassen. Allgemeiner: die Grünen sind als Vertreter postmaterieller Interes­sen entstanden, verbunden mit Engagement für die, die materiell zu kurz gekommen sind. Angesichts persönlicher Betroffenheit (ein ur-grüner Begriff) von Arbeitsmarkt-, Ausbildungsplatz-, Armuts- und anderen ökonomischen Krisen aber gerät für viele Men­schen die materielle Interessenorientierung wieder in den Vordergrund, Postmate­rialis­mus verliert seine Funktion als Leitidee.

8. Hinzu kommen die Probleme in Ostdeutschland, wo eine grundsätzlich falsche Weichen­stellung in der Bündnispolitik zu Beginn der 90er Jahre bis heute irreversible Auswir­kungen hatte. Auch wenn die Wahlergebnisse dort im Vergleich zum Westen ein wenig positiver ausgefallen sind, wird sich auf absehbare Zeit noch negativ bemerkbar machen, dass die Partei es versäumt hat, aktiv auf die politischen Kräfte zuzugehen, die jenseits der engagierten Bürgerrechtsopposition der DDR einen gesellschaftlichen und politi­schen Neuanfang im Osten suchten.

9. Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg, er zieht Trittbrettfahrer an, die Wahlergebnisse weiterhin verbessern. Umgekehrt gilt die Gegenthese: wer auf der Verliererstraße ist, verliert auch noch die Modewähler.

10. Die verschlechterten Rahmenbedingungen wirken sich unmittelbar auf die Durchset­zungsfähigkeiten der Grünen in Koalitionen aus – stärker als das Wahlergebnis. Auch die Koalitionsvereinbarung ist keine von der SPD akzeptierte feste Größe. Bei der Interpre­tation von Koalitionsverträgen wie auch bei der politischen Bewertung von Vertragsbrü­chen spielt das politische Gesamtklima eine Rolle. Die SPD kann jeden Ver­trag brechen, solange die gesellschaftliche Mehrheit den Vertragsbruch begrüßt, weil er ihren Interes­sen entgegenkommt. Die SPD saldiert schlicht, welche Kosten höher sind – die von Vertragserfüllung oder von Vertragsbruch.

11. Die Grünen geraten somit in eine strategische Zwickmühle. Wenn sie besonders enga­giert und zugespitzt ihre eigenen Positionen durchsetzen wollen, gewinnen sie zwar an Zustimmung im kleiner werdenden Sympathisanten-Milieu, mobilisieren aber gleichzeitig eine 90%ige gesellschaftliche Mehrheit gegen sich. Wenn sie ihre Forderungen mäßi­gen, um die Gegenbewegung abzumildern, verlieren sie an Zustimmung bei ihrem eige­nen Kern, der dadurch weiter abschmilzt.

12. Nach der Wahl ist nicht falsch, was als Einschätzung vorher richtig war: die SPD als Ganze ist keine Reformpartei. Sie ist der Mehrheitsbildung halber tief in konservative Schichten eingebrochen und hat deren Interessen in die Koalition eingebracht. Es gibt keine linke gesellschaftliche Mehrheit in Deutschland, sondern nur entweder eine politi­sche Mehr­heit unter Ausschluss oder unter Einschluss der Linken. Das heißt: entweder Opposition bleiben oder sich in einer Koalition mit Kräften von rechts der (theoretischen) Mitte ar­rangieren.

13. Dieser Mechanismus ist gerade in linken Kreisen, die besondere Ansprüche an die Grü­nen stellen, nicht hinreichend reflektiert. Zwar wurde dort immer die These vertreten, dass es nichts Stärkeres auf der Welt gäbe als „die Interessen des Kapitals“, des „US-Im­perialismus“ und der transnationalen Konzerne und dass die Politik kaum Möglichkeiten ha­be, diese Macht zu brechen. Nun aber, wo die Grünen auf einer 6 ½-%-Basis in der Regierung sind, soll diese These plötzlich nicht mehr gelten. Von der grünen Regie­rungs­minderheit wird verlangt, dass sie aus dem Stand das Kapital in die Knie zwingt.

14. Die Pseudoehrlichkeit, wir dürften Niederlagen nicht als Siege verkaufen, sondern müssten sie als Niederlagen bekennen, suggeriert, dass es pure Siege geben könnte, die als solche zu feiern wären. Diese Fehleinschätzung fußt auf dem Mythos, in der Politik könne man als Minderheit – wenn man nur standhaft, geschickt, versaut genug sei – li­near eine eigene Position durchsetzen. Das kann selbst die Mehrheit in der Regel nicht. Nicht ‚Durchsetzung‘ ist angesagt, sondern ‚Einfluss‘. Diesen darzustellen, brächte man­ches Erfolgserlebnis.

15. Es gehört zur Oppositionskultur der Linken und Grünen, über den Druck der Straße Regierungsentscheidungen beeinflussen – bevorzugt verhindern – zu wollen. Es ist aber ein Mythos zu glauben, außerparlamentarische Politik sei ein Privileg der Linken. Die rechte gesellschaftliche Mehrheit beweist gerade, dass auch eine reformorientierte Regie­rungspolitik durch den Druck der Straße zu bremsen ist. Die Kampagnenfähigkeit der Linken ist seit Jahren schwächer als die der Rechten. Auf diese Zerstörung ihres eigenen Weltbildes reagieren viele Linke mit irrational erhöhten An­sprüchen an die grüne Regie­rungscrew, begleitet durch Träume von der eigenen heroi­schen Vergangenheit.

Ausblicke

16. Die Lage wird nicht mehr besser werden.

17. Ein Zurück gibt es nicht.

18. Wir können nur unsere Politik verbessern. Der Weg in die politische Mitte ist genauso unmöglich wie der Rückzug auf linken Traditionalismus. Unser Elektorat wird in den nächsten Jahren auf 5 bis 7 % beschränkt sein. Das kann reichen, um als Funktionspartei Regierungsmehrheiten zu bilden. Es reicht aber nicht, um die Regierungspolitik zu be­stimmen. Es wäre aber eine Illusion zu glauben, in der Opposition würden wir zu einer neuen Stärke finden. Dort würden wir vielleicht Randwähler einsammeln, die aber bei der nächsten Regierungsbeteiligung sofort wieder weg wären. Unter diesen Umständen haben sich die alten Strömungen überlebt. Sie durcheinanderzuwirbeln ist fruchtbarer, als ihre Gestaltungskraft zu beschwören.

19. Wir brauchen eine Grundsatzdiskussion, die die drei in Widerspruch geratenen Grund­werte ökologisch, sozial, bürgerrechtlich neu justiert. Da der Ansatz, sie jeweils maxi­malistisch zu definieren und dann zu addieren, gescheitert ist, muss ihre jeweilige Be­dingtheit und ihre gegenseitige Begrenzung im Zentrum der Debatte stehen. Gesucht wird ein durchdachter Policy-mix, der die programmatische Addition von Partikularin­ter­essen ersetzt. Leitideen könnten sein: ökologisch-sozialer Gesellschaftsvertrag, neuer Generationenvertrag, neue Aufklärung, modernisierungskritische Modernisierung, die Kraft der Sonne, politischer Pazifismus, Dialog der Kulturen…Zu vermeiden sind die Worte ‚Innovation‘ und ‚Gestaltung‘; sie sind Synonyme für grünes Scheitern.