(internes Policy-Paper, abgedruckt und archiviert in Glasnost-Archiv, 26. März 1999)
Erschüttert stehen wir Grünen vor einer Situation, die zu verhindern stets zu den obersten Zielen unserer Politik gehörte. Unversehens und für viele unbegreifbar sind wir in einen Krieg hineingeraten. Als Teil der Bundesregierung und Koalitionsfraktion wurden wir vor eine Entscheidung gestellt, die an unseren Grundüberzeugungen rührt und die entscheidenden Motive betrifft, die uns überhaupt zur Politik gebracht haben. Viele fragen sich nun, welchen Sinn grüne Politik macht, wenn sie eine Beteiligung an einem militärischen Angriff – zumal einem völkerrechtlich umstrittenen – nicht nur nicht verhindern kann, sondern ihn sogar toleriert und aktiv mitträgt. Ausgerechnet die erste rot-grüne Koalition entscheidet sich für die Beteiligung der Bundeswehr an Kampfeinsätzen, getragen von der vielkritisierten NATO, ohne Beschluss des UNO-Sicherheitsrates. Alle kritischen Fragen sind berechtigt und müssen gestellt werden, von jedem – Regierungs-, Fraktions- und Parteimitglied – unter Beachtung seiner spezifischen Rolle und Funktion. Die Frage nach moralischer Legitimität, nach völkerrechtlicher Legalität, nach militärischer und politischer Effizienz, nach Präzedenz- und politischer Langzeitwirkung, nach dem mangelnden Willen der Konfliktfrüherkennung und zivilen Konfliktbearbeitung. Vielleicht hilft die Darstellung einiger Hintergründe, die Beantwortung zu erleichtern.
Regieren oder Opponieren?
Bündnis 90/Die Grünen waren seit Beginn der 90er Jahre die einzige Partei, die frühzeitig und regelmäßig auf die gefährliche Lage im Kosovo hingewiesen hat. Unsere Mahnungen, diesen Konflikt ernst zu nehmen, wurden nicht gehört. Nachdem die Staatengemeinschaft aus unserer Sicht im Jugoslawienkonflikt 10 Jahre lang eine völlig verfehlte Politik betrieben hatte, sahen wir uns als Regierungspartei mit deren Ergebnissen konfrontiert. Auch wenn wir selbst keine Verantwortung dafür zu tragen meinen, so können wir doch dieses Erbe nicht ausschlagen. Wir befinden uns nicht mehr in der Welt unserer programmatischen Visionen, unserer alternativen Entwürfe, sondern in einer Realität, die nicht einfach nach unseren Wünschen umzudeuten ist. Während wir als Oppositionspartei nichts anderes tun mussten, als offen und unverblümt unsere Meinung zu sagen, halbwegs schlüssige Alternativkonzepte theoretisch zu entwickeln und so Profil zu gewinnen, müssen wir als Regierungspartei unsere politischen Positionen nun im komplexen Geflecht der internationalen Beziehungen praktisch umzusetzen versuchen.
Hier haben wir es, anders als in der Innenpolitik, nicht nur mit einem Koalitionspartner und einer Opposition zu tun, sondern mit den vielfältigen widerstreitenden Interessen von Nationalstaaten, Staatenbündnissen und internationalen Organisationen. Während die programmatische Arbeit der Oppositionszeit das Gefühl von Souveränität über den Arbeitsgegenstand vermittelte, konfrontiert die reale Welt der staatlichen Außenpolitik uns mit der schlichten Wahrheit, dass die Grünen keine Großmacht sind. Es gibt viele andere Akteure, die ebenfalls legitime Interessen vertreten und stärker sind. Hinzu kommt die rasche Erfahrung, dass es eine eigenständige deutsche Außenpolitik nicht gibt. Die Bundesrepublik handelt fast ausschließlich als Mitglied eines Bündnisses oder einer internationalen Organisation. Deren Politik versucht sie mitzuprägen. Sie kann sie aber nie allein bestimmen und muss sich, Verträgen oder dem Solidaritätsprinzip folgend, den Ergebnissen der gemeinsamen Meinungsbildung weitgehend unterwerfen. Das entspricht auf der einen Seite unserem eigenen programmatischen Willen nach „Selbsteinbindung“ und „Selbstbeschränkung“, verbaut aber andererseits den Weg zu einer rein grünen Politik. Diese gäbe es nur um den Preis des völligen Unilateralismus, des Alleinganges, der wegen der sofort einsetzenden Selbstisolierung zudem wirkungslos wäre. Ohne das Prinzip des Multilateralismus, zu dem es für die deutsche Außenpolitik keine Alternative gibt, ist der Entscheidungsablauf, der zum Kampfeinsatz führte, nicht zu verstehen.
Bereits im Übergang von der alten zur neuen Bundesregierung waren wir mit der schwierigsten Frage konfrontiert, die sich der Politik überhaupt stellen kann, die nach Krieg und Frieden, Leben und Tod. Stärker noch als in der Opposition, wo wir jahrelang um den Grundwertekonflikt zwischen Pazifismus und Menschenrechtsorientierung, Antimilitarismus und Antifaschismus, Heraushalten oder Intervenieren gerungen hatten, traf uns nun diese Frage. Jetzt trug sie nicht nur philosophischen Charakter, sondern war die Frage nach der praktischen deutschen Regierungspolitik.
Der Kosovo-Konflikt, die „act ord“-Entscheidung und das Völkerrecht
Seit Beginn des Jahres 1998 hatte sich der Konflikt im Kosovo dramatisch zugespitzt. Als im Herbst befürchtet werden musste, dass die jugoslawische Führung ähnlich den ethnischen Säuberungen in Bosnien-Herzegowina eine Politik der Vertreibung und Ausrottung der albanisch-kosovarischen Bevölkerung plante und wegen des kommenden Wintereinbruchs eine ungeheure Katastrophe bevorstand, sah die internationale Staatengemeinschaft sich zum Eingreifen gezwungen. Sicherheitsrat und Vollversammlung der UNO verurteilten die Vorgänge im Kosovo massiv. Die NATO plante nun auf Drängen der USA, der serbischen Führung der Bundesrepublik Jugoslawien Luftschläge für den Fall anzudrohen, dass die Gräueltaten nicht eingestellt würden. Im Übergang von der alten zur neuen Bundesregierung musste die deutsche Politik in einer komplizierten verfassungsrechtlichen Situation darüber entscheiden, ob sie diese Drohpolitik unterstützen wollte. Am 16. Oktober 1998 entschied der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit, die Drohung mit Luftschlägen als politisches Druckmittel zu unterstützen. Vor dem Hintergrund der Drohkulisse konnte Holbrooke Milosevic einen Waffenstillstand im Kosovo ab verhandeln. Die Drohung mit Luftschlägen blieb als „Act ord“ (activation order) in Kraft.
Die völkerrechtliche Begründung für die Einsatzdrohung war äußerst umstritten. Während Joschka Fischer als designierter Außenminister es in seiner Bundestagsrede für hinreichend hielt, wenn die NATO auf der Basis von UNO-Resolutionen mit dem Ziele handele, diesen Resolutionen Geltung zu verschaffen, stellte ich selbst als Vertreter der Kritikerseite die völkerrechtlichen Bedenken gegenüber einer Aktion, die nicht vom Sicherheitsrat ausdrücklich gebilligt war, in den Vordergrund meiner Rede. Angemerkt sei, dass selbst ein Kampfeinsatz mit UNO-Mandat damals den grünen Programmrahmen bei weitem sprengte.
Faktisch stehen insbesondere in Bezug auf den Sicherheitsrat die formale Geltung des Völkerrechts und der politische Drang nach Veränderung in einem Spannungsverhältnis, das eine Weiterentwicklung erfordert. Die NATO-Politik sah sich der Veto-Ankündigung Russlands und Chinas gegenüber. Die Amerikaner wollten im Oktober die Luftschlagdrohung nicht am Sicherheitsrat scheitern lassen. Den Russen war es unter diesen Umständen lieber, wenn der SR umgangen würde, als wenn die NATO trotz eines Vetos agiert hätte. Für uns Grüne wie für zahlreiche Staaten stellt sich im Zusammenhang der UNO-Reformdiskussion zudem die Frage, ob nicht das Veto-Recht ganz abgeschafft werden sollte. Dieses aber scheitert regelmäßig am Veto der Vetomächte. Besonders problematisch erscheint das Vetorecht, wenn man es im Zusammenhang mit der Umsetzung des Wirtschaftsembargos gegen Jugoslawien sieht. Wir Grünen kritisieren zu Recht den mangelnden Willen, das Embargo durchzusetzen. Aber: woher beziehen die Serben eigentlich ihr Öl, ohne das die Kriegsmaschinerie – wie Genscher bereits betonte – in wenigen Wochen zum Erliegen käme? Es darf doch nicht sein, dass aus dem großen Raum östlich Serbiens das Embargo unterlaufen und zugleich mit einem Veto jedes andere Eingreifen abgeblockt wird. Und Chinas Vetorecht? Vor wenigen Wochen sperrte sich China gegen die Mandatsverlängerung für die UNO-Schutzeinheit für Mazedonien. Der einzige Grund war die Tatsache, dass M. dabei war, diplomatische Beziehungen zu Taiwan aufzubauen. Wenn Sicherheitsratsmitglieder ihre Vetoposition aus vordergründigen nationalen Motiven nutzen und nicht im Sinne einer global orientierten Friedenspolitik, zeigt dies die Fragwürdigkeit der gesamten Konstruktion. Es muss grüne Politik bleiben, die UNO-Strukturen und -kompetenzen zu stärken bis hin zum UNO-Gewaltmonopol. Doch Grüne müssen nicht das Gewaltmonopol im Sinne des Status quo definieren, mit Vetorechten also für Staaten, die sie ansonsten wegen mangelnder Qualifikation in Menschenrechtsfragen massiv kritisieren.
Die Bundestagsabstimmung vom 16. Oktober 1998 ist die bis heute gültige Grundlage für die deutsche Beteiligung an den nun erfolgten Luftangriffen. Jeder der damals entschied, wusste oder musste wissen, dass der politischen Drohung die Tat würde folgen müssen, wenn die serbische Seite nicht einlenkte. Vor dem Hintergrund der langjährigen intensiven Parteidiskussionen über Militäreinsätze, Bundeswehrbeteiligungen, die Sicherheitsarchitektur in Europa und die verworrenen Konstellationen auf dem Balkan musste sich jeder der Tragweite seiner Entscheidung bewusst sein. Die Befürworter des Beschlusses handelten in dem Willen und in der Vorstellung, mit dem Aussprechen der Drohung das Blutvergießen auf dem Balkan endgültig beenden zu können. Niemand verfolgte eine aggressive Absicht gegen das serbische Volk oder handelte nach Motiven, die wir früher als Imperialismus bezeichnet hätten. Niemand vertritt Interessen der Rüstungsindustrie, niemand will eine offensive Nato-Strategie. Die grünen Abgeordneten, die sich der Stimme enthielten, wollten trotz ihrer massiven völkerrechtlichen Bedenken nicht durch ein ‚Nein‘ die bereits aufgebaute Drohkulisse zum Einsturz bringen und so Milosevic in die Hände spielen. Zu gering war zu diesem Zeitpunkt schon die Chance, mit nichtmilitärischen Mitteln die serbischen Aggressionen gegen die kosovarische Bevölkerung einzudämmen. Deshalb war auch die Position derer, die ablehnend stimmten, mangels gangbarer Alternativen sehr prinzipiell gehalten.
Die politischen Realitäten
Seitdem haben sich einige entscheidenden Dinge ereignet, die für die grüne Regierungsfraktion und für grüne Regierungsmitglieder die Tolerierung oder aktive Unterstützung der Luftschläge unausweichlich machten.
- Den ganzen Winter über hatte die UCK gegen den Waffenstillstand verstoßen und mit selektiven Morden die serbische Ordnungsmacht, die sich auch nicht vollständig an den Waffenstillstand hielt, systematisch provoziert. Die Serben reagierten mit einer unvorstellbaren Brutalität. Ziel der UCK war es, Fernsehbilder zu provozieren, die vermittelt über die Empörung in der Bevölkerung der westlichen Welt die NATO zum Eingreifen auf kosovarischer Seite verleiten sollte. Im CNN-Krieg sollte die NATO zur Luftwaffe der UCK werden. Diese Rechnung ging nicht auf. Der Westen ging auf Distanz zur UCK. Die OSZE-Verifikateure nahmen eine neutrale Haltung ein. Doch dann kam das Massaker von Racak. Das Hinschlachten von Zivilisten durch die Serben erforderte eine deutliche Reaktion des Westens. Alle Analysen deckten sich in dem Befund, dass ohne Reaktion die Serben glauben würden, sie hätten nun freie Bahn für ihre Vertreibungs- und Vernichtungspolitik. Der Waffenstillstand war faktisch zu Ende. Es war absehbar, dass weitere Massaker folgen würden. Absehbar war auch, dass angesichts der Fernsehbilder der Ruf, die Politik müsse endlich „etwas“ tun, sie müsse „handeln“ – beides Synonyme für militärische Intervention – immer lauter würde. Es war zu erwarten, dass die Politik den CNN-Bildern nicht auf Dauer hätte widerstehen können. Der rot-grünen Regierung wäre von allen Seiten Versagen, Feigheit, Unmoral vorgeworfen worden. Besser war nicht nur deshalb eine sofortige Reaktion.
- Auf westlicher Seite standen zwei Optionen nebeneinander. Die Amerikaner wollten sofort auf der Basis des noch gültigen „act ord“ mit Bombardierungen der Volksrepublik Jugoslawien beginnen. Dabei erwarteten sie die Beteiligung der anderen NATO-Staaten, auch Deutschlands. Ein politisches Ziel, außer dem der Bestrafung, war nicht erkennbar. Die zweite Option, die sich faktisch durchsetzte, war in der Führung des Auswärtigen Amtes entstanden: auf einer Friedenskonferenz sollte unter dem Druck der internationalen Gemeinschaft erst ein Waffenstillstand erreicht, dann der endgültige Status des Kosovo als autonome Region innerhalb der Bundesrepublik Jugoslawien durchgesetzt und in einem dritten Schritt eine umfassende Balkankonferenz geplant werden. Es waren der grüne Außenminister Joschka Fischer und die Beamten des AA, die mit großem persönlichem Einsatz die anderen Außenminister dazu bewegten, statt einer schnellen Bombardierung den Verhandlungsprozess von Rambouillet zu organisieren! Aus praktischen und diplomatischen Gründen wurde aber darauf verzichtet, diese Initiative als deutsche und grüne herauszustellen. Die Federführung wurde in die Hand des französischen und britischen Außenministers gelegt. Die Steuerung des politischen Verhandlungsprozesses, die sich durch die Dominanz der Diskussion um militärische Mittel in den NATO-Rat verlagert hatte, wurde nicht zuletzt auf unsere Initiative hin in die Jugoslawienkontaktgruppe zurückverlagert. Dieser gehört auch Russland an. Wir favorisierten diesen Weg in der festen Überzeugung, dass nur eine Beteiligung Russlands zu einem Verhandlungsfrieden führen könnte. Als Repräsentanten der EU in der Verhandlungstroika der Kontaktgruppe beließen wir trotz unserer Präsidentschaft und, obwohl Deutschland Kontaktgruppenmitglied ist, den Österreicher Petritsch, der nicht nur gute Arbeit geleistet hatte, sondern zudem aus einem Nicht-Nato-Staat stammt. Das war grüne Friedenspolitik, die sich aus Effizienzgründen aber nicht öffentlich darstellte.
- Während des Verhandlungsprozesses wurde deutlich, dass die serbische Seite absolut kein Interesse an einer friedlichen Lösung hatte. Die grüne Vorstellung, mit Verhandlungen und auf friedlichem Wege auch die schwierigsten Konflikte lösen zu können, brach sich am Charakter Milosevics. Mehreren Gesprächspartnern gegenüber betonte M., er sei der Stärkere in diesem Konflikt, denn er sei bereit, über Leichen zu gehen, während der Westen Rücksicht zu nehmen habe auf die Sensibilitäten der zivilisierten Welt. M. weigerte sich nicht nur, den Vertragsteil zu unterzeichnen, der ein militärisches Peacekeeping unter Führung der NATO (NATO plus andere) vorsah, ohne das umgekehrt die Albaner den Text nie akzeptiert hätten. Nachdem er zwischenzeitlich signalisiert hatte, den politischen Teil unterzeichnen zu wollen, stellte er kurz vor Schluss wichtige Passagen wieder in Frage, um später schriftlich zu erklären, wer sich von außen einmische, sei ein ‚Halunke‘. Zudem habe es überhaupt keine Verhandlungen und keinen Vertragsentwurf gegeben, weil Serben nicht direkt mit den Albanern zusammengetroffen seien.
- Im Übergang von der Kohl- zur Schröder-Regierung wurde klar, dass Milosevic die ‚grüne Karte‘ zog. Er kalkulierte damit, dass wegen der Regierungsbeteiligung der pazifistischen Grünen Deutschland niemals eine Militäraktion befürworten würde. Dadurch würde die NATO so geschwächt, dass er freie Hand für seine Vertreibungs- und Vernichtungspolitik im Kosovo hätte. Diese Kalkulation wurde durch den Beschluss vom 16. Oktober 1998 durchkreuzt. Doch noch kurz vor Ende der Verhandlungen in R. suchte mich ein hoher jugoslawischer Offizieller auf, um das westliche Bündnis über die Grünen zu spalten. Ansetzend an meinen pazifistischen Positionen versuchte er, mich zu bewegen, den Koalitonskonsens aufzukündigen. Mit Bezug auf die Kriegsverbrechen der Nazis in Serbien verlangte er, Deutschland aus dem westlichen Bündnis herauszubrechen. Gleichzeitig betonte er mit den von Milosevic bekannten rhetorischen Figuren die Legitimität und Legalität der serbischen Politik im Kosovo.
- Nachdem Rambouillet gescheitert war, wurde eine Absprache aktuell, die zwischen den westlichen Partner als Voraussetzung für die Verhandlungen getroffen worden war. Wir hatten das Ziel, die Kontaktgruppe als Steuerungsinstanz wieder in Kraft zu setzten und einen Verhandlungsfrieden zu erzielen. Nur auf dieser Basis konnten die Russen, die durch den „act ord“- Beschluss sowie die Irak-Bombardierungen brüskiert waren, für eine Zusammenarbeit gewonnen werden. Umgekehrt aber konnte nicht auf die Amerikaner verzichtet werden. Diese aber waren nur unter der Bedingung bereit, ihren Ansatz direkter Luftschläge zugunsten des Verhandlungsansatzes aufzugeben, wenn erstens das Verhandlungspaket einen festen unverhandelbaren Kern aufweisen würde und die anderen westlichen Partner zudem bekräftigten, dass „act ord“ weiterhin Gültigkeit behielte und sofort angewendet werden könne, wenn der Verhandlungsprozess scheitern sollte. Dieses Zugeständnis mussten wir machen, um überhaupt den Rambouillet-Prozess in Gang zu bringen. Der Preis war nun zu zahlen.
Fazit
- Grüne Regierungspolitik kann sich anders als Oppositionspolitik nicht darauf beschränken, öffentlich programmatische Bekenntnisse abzugeben und die Fehler der Vergangenheit anzuprangern, sondern ist gezwungen, in der jeweilig gegebenen, unabhängig von uns entstandenen und von uns nicht zu verantwortenden Lage hic et nunc verantwortlich zu handeln. Selbstverständlich sind unsere Grundwerte und Programme handlungsleitend; Handlungsfeld aber sind die komplexen internationalen Machtstrukturen, in denen wir nur ein Faktor unter vielen sind.
- Der Einsatz für eine Verhandlungslösung unter Einschluss Russlands statt der schnellen Bombardierung durch die NATO entspricht nicht nur grünen Prinzipien. Allein dass es zu den Verhandlungen von Rambouillet kam, ist als großer Erfolg der grünen deutschen Außenpolitik zu werten.
- Die Luftschläge waren unvermeidlich geworden, weil der Bundestag ihre Möglichkeit beschlossen hatte, faktisch alle anderen Alternativen ausgereizt waren und es im westlichen Lager die act-ord-Verabredung gab, die nun nach dem Scheitern der Verhandlungen einzulösen war. Die völkerrechtliche Legitimation bleibt zumindest umstritten. Das serbische Terrorregime im Kosovo entspricht mit Sicherheit nicht dem Völkerrecht.
- Wir Grünen mussten erleben, dass unser Pazifismus von einem Verbrecher und Staatsterroristen systematisch einkalkuliert wurde. Er wollte uns gegen unseren eigentlichen Willen funktionalisieren, faktisch zu Kollaborateuren machen, indem er unsere Weigerung, Waffengewalt einzusetzen zum strategischen Element seiner Vernichtungspolitik machte. Wenn aber verbrecherische Kräfte unsere Friedfertigkeit gegen unsere Menschlichkeit bewusst ausspielen wollen, kann für uns politische Pazifisten der Punkt erreicht sein, wo sich unsere Friedfertigkeit erschöpft hat.
- Die Zwänge der Realität, die unsere Entscheidung in einer gegebenen, zugespitzten Situation unausweichlich machten, bedeuten nicht, dass wir von unseren friedenspolitischen Zielen Abstand nehmen. Die Luftschläge, deren Ende und Effekt nicht abzusehen sind, beweisen, dass in der internationalen Politik nichts wichtiger ist als der Aufbau von Methoden zur Konflikfrüherkennung, friedlichen Konfliktbearbeitung, nichtmilitärischen Krisenintervention und demokratischen Institutionenbildung. Die rot-grüne Bundesregierung arbeitet mit Hochdruck an der Entwicklung und Implementierung entsprechender Konzepte. Die Krise des Völkerrechts muss zu seiner Weiterentwicklung und Verstärkung genutzt werden. Die einzige Alternative der UNO ist eine bessere UNO.