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(frei gehaltene Rede im Bundestag zum Nah-Ost-Friedensprozess am 16. Dezember 2004. Dies war meine letzte Rede im Deutschen Bundestag)

Nach dem Tod von Präsident Jassir Arafat ist im Nahostprozess eine neue Dynamik in Gang gekommen. Man muss gar nicht die These teilen, dass Arafat das Haupthindernis im Verständigungsprozess gewesen sei, um registrieren zu können, dass sich ein neues Fenster öffnet. Wir sollten daher unseren Beitrag dazu leisten, dass der Friedensprozess, der sich zwischenzeitlich in einen handfesten Nahostkonflikt verwandelt hatte, wieder belebt wird und zu dem führt, was in der Roadmap vorgezeichnet ist.

Die strittigen Punkte, die die beiden Seiten zu behandeln haben und die auch in Camp David strittig geblieben waren – Grenzen, Territorien, Siedlungen, Jerusalem und Flüchtlinge auf der einen Seite, die Intifada mit ihren grauenhaften Selbstmordanschlägen auf der anderen Seite –, sind nicht dadurch erledigt, dass Arafat verstorben ist. Nach dem Tod von Arafat waren wir uns zunächst nicht schlüssig, ob die palästinensische Bevölkerung die Kraft und die Mittel haben wird, eine neue, demokratisch legitimierte, effiziente und handlungsfähige Führung hervorzubringen. Heute sehen wir, dass die Dinge auf bestem Wege sind: Die Wahlen werden abgehalten werden und sie werden demokratisch sein. Wir können dem palästinensischen Volk heute schon dazu gratulieren, dass es sehr schnell aus dem Trauma des Todes Arafats aufgewacht ist und sich auf einen Weg gemacht hat, der hoffentlich in Richtung Frieden führt.

Es gibt einige ermutigende Anzeichen, was die Stimmung in der palästinensischen Bevölkerung angeht. Am 9. Dezember hat das israelische Radio gemeldet, dass sich zum ersten Mal seit Beginn der Intifada eine deutliche Mehrheit der Palästinenser gegen Selbstmordattentate ausgesprochen hat. Es sind zwar immer noch zu wenige; aber es ist ein ermutigender Fortschritt. Heute meldet die palästinensische Zeitung „al-Kuds“, dass 69 Prozent der befragten Palästinenser für eine Rückkehr an den Verhandlungstisch sind. Allerdings halten 72 Prozent die amerikanischen Anstrengungen für noch nicht ausreichend.

Für besonders ermutigend halte ich die Äußerung von Mahmud Abbas, der einer der aussichtsreichsten Kandidaten für die Präsidentschaftswahl ist. Er hat wörtlich gesagt: Der Gebrauch der Waffen in der momentanen Intifada ist schädlich und muss beendet werden. Diesen Satz können wir nur unterstreichen; wir haben ihn von Mahmud Abbas allerdings schon des Öfteren gehört. Entscheidend ist folgende Qualität: Über Arafat wurde immer gesagt, er predige in Englisch, gerichtet an die westliche Welt, den Frieden, sage aber in Arabisch, gerichtet an die arabische Welt, etwas anderes. Ich kann nicht beurteilen, ob diese Kritik zutrifft. Aber wir können eines registrieren: Mahmud Abbas hat diese Äußerung in Arabisch getan und sie an die arabische Welt gerichtet. Er hat den Waffenstillstand und die Beendigung der Gewalttaten ausdrücklich auch von Dschihad und von Hamas eingefordert. Eine solche Linie in der neuen palästinensischen Führung kann man nur unterstützen.

Dazu findet sich heute in der israelischen Zeitung „Haaretz“ eine sehr ausführliche Würdigung. Allerdings endet sie mit der Forderung, dass nun die israelische Seite auch entsprechend antworten sollte, damit dieser Kandidat in der palästinensischen Gesellschaft nicht isoliert wird, weil er vielleicht als zu kompromisslerisch gilt. Es wäre höchst praktisch, wenn die israelische Seite etwa damit antwortete – das fordert „Haaretz“ heute –, dass einige palästinensische Gefangene direkt freigelassen und auf Konten eingefrorene palästinensische Gelder freigegeben werden. Das könnten einzelne kleine und heute schon machbare Schritte sein, um den Prozess der Roadmap wieder in Gang zu setzen.

Im Moment haben die Palästinenser die Bringschuld. Sie haben auch die Chance, sich als etwas anderes darzustellen als das, als was sie in der israelischen Gesellschaft oft gesehen werden. Wir sehen aber auch, dass auf israelischer Seite die Chance zu einem Neubeginn besteht. Die bisherige Regierung ist gescheitert, nicht nur an der Frage des Rückzugs aus dem Gazastreifen, sondern auch an ökonomischen und finanzpolitischen Fragen. Die neue Koalition täte gut daran – sie wird das hoffentlich auch tun –, diese beiden Punkte im Zusammenhang zu sehen. Die Tatsache, dass Israel in so starke ökonomische Probleme geraten ist, hat auch mit der de facto bestehenden Kriegssituation zu tun. Deshalb sollte der Abzug aus Gaza nicht nur umgesetzt, sondern auch als der erste Schritt zu einer umfassenden Lösung begriffen werden, der dann auch entsprechende Schritte in der Westbank einschließen müsste.

Ich kann mir vorstellen, dass ein solcher Friedensprozess, der von den Europäern und den anderen Mitgliedern des Quartetts nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch unterstützt wird, dazu beitragen kann, dass nicht nur Frieden Einzug hält, sondern auch die Entwicklungsprobleme Palästinas ebenso wie die ökonomischen Probleme Israels bewältigt werden. Das jedenfalls wäre unser Wunsch. Wir hoffen, dass das neue Jahr Chancen dafür eröffnet, auf die zu hoffen wir vor einem  halben Jahr vielleicht noch gar nicht gewagt hätten.