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(EU-Beitritt der Türkei? – Rede im Bundestag am 28. Oktober 2004. Plenar-Protokoll 15/35)

…Wir haben die Leistungen Helmut Kohls für Europa als historische Leistungen anerkannt. Die Türkeipolitik, über die wir heute sprechen, war Teil der europäischen Politik Helmut Kohls. Deshalb reden wir heute auch über das Vermächtnis von Helmut Kohl und ich kann die heutige Debatte nur in einem Sinne begreifen: Die CDU/CSU erbt den negativen Anteil der Ära Kohl, nämlich die Reformfeindlichkeit, und Rot-Grün erbt den positiven Anteil, nämlich die vorwärtsweisende Europapolitik.

…Ich frage mich, warum es jetzt zu diesem Kurswechsel innerhalb der Union kommt. Er ist angesichts der Intensität, mit der die Union 40 Jahre lang die richtige Politik betrieben hat, eigentlich gar nicht zu begreifen. Ich ich kann mir das nur psychologisch erklären, nämlich in dem Sinne, dass der Übervater in jeder Hinsicht in den Hintergrund gedrängt werden und man sich damit auch krampfhaft von den Politiken absetzen muss, die eigentlich richtig gewesen sind. Warum geben Sie das positive historische Vermächtnis von Helmut Kohl preis und betreiben diese – letztlich auch innenpolitisch motivierte – Politik gegen die Türkei? Das ist völlig unverständlich.

Sie geben sie preis unter dem Scheinargument, mehr Optionen und mehr Verhandlungsoffenheit haben zu wollen. Es mag ja sein – wir wissen um die Risiken des Verhandlungsprozesses –, dass sich zu irgendeinem Zeitpunkt herausstellt, dass es nicht geht. Dann sind vielleicht Notlösungen gefragt. Wenn man aber bereits heute über Notlösungen und Trostpreise redet, ist das nichts anderes, als dass man eine sich selbst erfüllende Prophezeiung in Gang setzt, und zwar mit dem heimlichen Willen, dass die Verhandlungen scheitern. Ich unterstelle Ihnen: Sie wollen, dass der Verhandlungsprozess scheitert.  Deshalb reden Sie sein Scheitern heute herbei. Deshalb reden Sie heute über Notlösungen und Trostpreise und tun so, als seien dies positive Perspektiven.

Wir werden uns dieser sich selbst erfüllenden Prophezeiung entgegenstellen. Wir sind für einen hinsichtlich des Ergebnisses festgelegten Prozess. Wir wollen, dass die Türkei Mitglied der Europäischen Union wird. Wir wissen aber um all die Risiken. Darüber braucht uns niemand zu belehren. Gerade wir Grünen haben uns mit der Menschenrechtslage in der Türkei in den letzten 20 Jahren, seit wir im Bundestag sind, sehr intensiv und kritisch auseinandergesetzt. Wir haben aber auch gelernt: Es bringt nichts, ein solches Land in die Isolation zu treiben. Es ist das Ergebnis einer integrativen Außenpolitik, dass die Türkei dabei ist, sich mit außerordentlich bemerkenswerten Schritten in Richtung Demokratie zu entwickeln. Diese Tendenz wollen wir weiter unterstützen.

Wir wollen dies auch im Hinblick auf Sicherheitsinteressen, die nach dem 11. September 2001 stärker geworden sind. Dies ist nicht das prioritäre Motiv für den Beitritt der Türkei; aber es ist eine zusätzliche Motivation. Wir können doch nicht über die desaströse Lage im Irak, über die Gefährdungen, die vom Iran ausgehen, über den immer noch ungelösten Nahostkonflikt reden, ohne uns Gedanken darüber zu machen, ob nicht die Europäische Union endlich eine dritte Dimension, eine strategische Dimension braucht, die sie in die Lage versetzt, als strategisch handelnder Akteur Einfluss auf diese Regionalkonflikte zu nehmen. Wenn man über diese dritte Dimension der europäischen Politik nachdenkt, begreift man sofort, dass der Türkei dabei eine Schlüsselrolle zukommt. Deshalb gehört es zu den Schlüsselprojekten auch der deutschen Sicherheitspolitik, die Türkei so weit in den europäischen Kontext bis hin zur Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union zu integrieren, dass sie ihre Scharnierfunktion, nämlich ein laizistischer, gleichwohl islamisch geprägter Staat und eine entsprechende Gesellschaft zu sein, zwischen dem so genannten Westen und der arabisch-islamischen Welt wahrnehmen kann. Eine Türkei an unserer Seite, eine Türkei eng verzahnt mit uns, hat für uns unschätzbare sicherheitspolitische Vorteile. Wenn wir die Türkei heute brüskieren, wie die Union das mit ihrem Nein machen will, treiben wir sie ins Niemandsland. Wir Rot-Grünen werden verhindern, dass die Ängste, die hier geschürt werden, dazu führen, dass man die Chancen aus dem Auge verliert. Wir finden, gerade angesichts des internationalen Terrorismus ist es höchste Zeit, dass wir die Chancen ergreifen, die zum Dialog der Kulturen wirklich bestehen. Das ist der Fall und dafür setzt sich Rot-Grün ein.