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(Im Sommer 1993 klagten vier grüne Europa-Abgeordnete gegen den Vertrag von Maastricht, in dem der europäische Einigungsprozess festgeschrieben werden sollte. In der Partei war dieser Vorstoß umstritten. Als Parteivorsitzender unterstützte ich ihn und schrieb am 7. August 1993 folgendes Vorwort zu einer dokumentierenden Broschüre.)

 

Maastricht – So nicht!

Zuerst war der Widerhall in der Partei auf den Plan von vier Europaabgeordneten, den Maastricht-Vertrag vor dem Bundesverfassungsgericht auf den Prüfstand stellen zu wollen, recht gering. Nicht überall in unserer Partei wurden die Implikationen dieses Vertrages vollständig übersehen. Andere verlangten, die Konsequenzen zu bedenken, wenn an unserer Politik der einzig realexistierende europäische Einigungsprozess scheitern sollte. Dieses Problem wurde vor allen Dingen aus der Befürchtung heraus formuliert, dass das neue Deutschland wieder auf nationalistische Irrwege geraten könnte, wenn es nicht in internationale Zusammenhänge eingebunden wird.

Doch die Abgeordneten Wilfried Telkämper, Claudia Roth, Hiltrud Breyer und Friedrich Wilhelm Graefe zu Baringdorf hatten Recht mit ihrer Initiative. Die Debatte, die sie und ihre Bevollmächtigten, Prof. Ulrich K. Preuss und Hans-Christian Ströbele, in das Bundesverfassungsgericht trugen, war die bisher wohl intensivste und qualifizierteste öffentliche Erörterung dieses Komplexes in der Bundesrepublik überhaupt.

Bei der intensiven Diskussion wurde die Abgrenzung zu rechtsgerichteten Maastricht-Kritikern offensichtlich. Die Unterschiede zu den nationalliberalen Argumentationen eines FDP-Eurokraten waren prägnant. Während dieser der europäischen Ebene die Möglichkeit abspricht, demokratische Institutionen zu bilden und den einzigen Hort der Demokratie im deutschen Nationalstaat sieht, der folgerichtig keiner wesentlichen Kompetenz beraubt werden dürfe, vertreten wir die gegenteilige Auffassung. Wir sprechen uns eindeutig dafür aus, nationale Hoheitsrechte auf eine supranationale Ebene, auch auf eine europäische, zu übertragen. Unsere Verfassungsbeschwerde will jedoch nachweisen, dass die Transformation der Politik von der nationalen auf die europäische im Maastricht-Vertrag nicht demokratisch geregelt ist und dass die zukünftigen europäischen Institutionen ein enormes, nicht akzeptables Demokratiedefizit aufweisen.

Besonders kritisiert haben wir die Rolle des Europäischen Rates. Er setzt sich zusammen aus den Regierungen der Mitgliedsstaaten und soll umfassende Vollmachten erhalten. Diese betreffen insbesondere die Kompetenz, die zukünftige europäische Union politisch auszugestalten. Wie Bundesbankpräsident Schlesinger bei der Anhörung deutlich machte, wird die im Vertrag festgeschriebene Währungsunion mit Sicherheit eine umfassende politische Union nach sich ziehen. Einheitliche Währungspolitik ist nur zu betreiben bei vereinheitlichter Wirtschaftspolitik. Um die notwendigerweise entstehenden regionalen Ungleichgewichte zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten ohne die nun weggefallene Möglichkeit der Wechselkurspolitik auszugleichen, müssen Transferleistungen organisiert werden. Dies aber erfordert nichts anderes als eine einheitliche europäische Sozialpolitik. Wo aber so viele Gelder bewegt werden müssen, ist eine Angleichung der jeweiligen Haushaltspolitik notwendig. Das heißt im Klartext: Wesentliche Bereiche, wenn nicht der Kern der bisherigen einzelstaatlichen Politik müssen auf die europäische Ebene übertragen werden.

Der FDP-Vertreter hat genau dies als Aushöhlung des Nationalstaatsprinzips kritisiert. Dieser Kritik haben wir uns ausdrücklich nicht angeschlossen. Nicht akzeptabel aber ist es für uns, dass der europäische Rat dank der zugewiesenen Generalkompetenz allein für die Ausgestaltung dieser Aufgabe zuständig ist. Denn faktisch bedeutet diese Regelung die Aufhebung eines der wichtigsten Prinzipien jeder liberalen Demokratie, nämlich der Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und höchster Rechtsprechung. Anders ausgedrückt, demokratisch legitimierte Entscheidungen werden von der nationalen Ebene weggenommen und durch undemokratische auf der europäischen ersetzt.

Wie funktioniert dieser Mechanismus? Bisher ist die Bundesregierung gebunden an die Gesetze und Aufträge, die die nationale Legislative, der Deutsche Bundestag und der Bundesrat geben. Diese Kammern besitzen auch die Kontrollfunktion. Wenn nun aber der Europäische Rat die neue Legislative ist und in ihm die Bundesregierung, dann bedeutet dies faktisch, dass die Bundesregierung sich ihre eigenen Gesetze macht. Sie muss als nationale Exekutive die Aufträge ausführen, zu denen sie selbst sich als europäische Legislative vertraglich und gesetzlich verpflichtet hat. Legislative und Exekutive fallen in der Bundesregierung zusammen. Bundestag und Bundesrat haben keine wesentlichen gesetzgeberischen Funktionen mehr und können die Entscheidungen der europäischen Ebene nur zur Kenntnis nehmen, womit auch ihre Kontrollfunktion ausgehöhlt wäre. Was sie verloren haben, wird nicht durch eine Kompetenzerweiterung des Europäischen Parlaments aufgefangen, da dieses ein Konsultativgremium mit wenig Entscheidungskompetenz bleiben soll. Und auch das Verfassungsgericht als höchste Instanz der Judikative ist weitgehend ausgeschaltet, da der Vertrag den Charakter völkerrechtlicher Vereinbarungen hat und nicht den von Gesetzgebungsmaßnahmen, so dass das Bundesverfassungsgericht nicht mehr zuständig sein wird.

Zusammengefasst könnte man sagen: Hinter dem kaum durchdringlichen Gestrüpp der bisherigen Europapolitik verbirgt sich die Abschaffung von Wesenselementen der Demokratie auf kaltem Wege. Gelingen kann dies deshalb, weil die europäische Politik kaum jemanden interessiert, von noch weniger verstanden wird und erst recht nicht zum Engagement reizt.

Auf dieses Problem die Scheinwerfer der Öffentlichkeit gelenkt zu haben, ist das Verdienst der grünen Initiative. Wir haben in der Konsequenz gefordert, dass, wenn schon Wesenselemente der Demokratie, die durch die Ewigkeitsklausel im Grundgesetz geschützt sind, aufgegeben werden sollen, dies nicht mehr der verfassungsgebende Gesetzgeber tun kann (der Bundestag mit Zweidrittel-Mehrheit), sondern nur noch der Verfassungssouverän selbst, nämlich das Staatsvolk. Unsere Forderung lautete also, dass die Maastricht-Verträge nur mit einer Volksabstimmung in Kraft gesetzt werden könnten.

Dabei sind wir uns bewusst, dass dies eine zweischneidige Angelegenheit ist. Denn auch dann, wenn die Bevölkerung die Verträge mit Mehrheit akzeptieren sollte, wäre dadurch das Demokratiedefizit in den Institutionen selbst nicht aufgehoben. Im Gegenteil: Die Demokratie wäre durch den Willen des Volkes abgeschafft. Von daher müssen wir auf ein „Nein“ zu Maastricht hinarbeiten. Unsere Chance liegt darin, dass vor einer Volksabstimmung eine intensive öffentliche Diskussion stattfinden muss und die demokratiefeindlichen Regelungen so deutlich werden, dass die Vertragsstaaten sie in der Form nicht mehr aufrechterhalten können. Maastricht könnte nur dann noch gerettet werden, wenn auf europäischer Ebene zumindest das Europäische Parlament zur vollen legislativen Instanz aufgewertet würde, die die entsprechenden Kontrollrechte gegenüber dem Europäischen Rat wahrnehmen kann.

Ob das Verfassungsgericht dieser weitestgehenden Forderung zustimmen mag, sei dahingestellt. Die Bundesregierung (CDU/CSU/FDP) hat ihr Standardargument aufgefahren, nämlich, dass großer außenpolitischer Schaden entstünde, wenn das Verfassungsgericht die von der Bundesregierung geschaffenen Fakten nicht anerkennt. Ob sich die Richter dieser Argumentation noch einmal beugen werden wie bei den Entscheidungen über AWACS und den Somalia-Einsatz, werden wir sehen. Wir gehen aber davon aus, dass das Verfassungsgericht den Vertrag nicht unkommentiert passieren lässt. Selbst wenn es unserer weitgehenden Forderung nicht nachkäme, sondern die Demokratiedefizite präzise beschreiben und hier auf Abhilfe drängen würde, wäre dies ein riesiger politischer Erfolg. Denn letztlich geht es uns ja nicht darum, Europa zu verhindern – ganz im Gegenteil – wir wollen ein integriertes Europa, möglichst ein Gesamteuropa über die Europäische Union hinaus. Nur: Es muss demokratisch zustande kommen und demokratisch verfasst sein.

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