(fünf Jahre nach dem Beschluss zur Verlegung von Regierung, Bundestag und Bundesrat von Bonn nach Berlin wurde ich um einen Essay zum Thema „Föderale Tradition und dezentrale Verantwortung“ gebeten. Am 17. Oktober 1996 geschrieben, erschien er in Hennicke, Martin/Klocksin, Jens, Aufbruch im Umbruch. Beiträge zur Zukunft von Bonn und Region, Bonn 1996)
Das vereinigte Deutschland brauche ein starkes Zentrum, in dem sich beide Teile erkennen könnten. Das größere Land blamiere sich ohne eine repräsentative Hauptstadt, die die Eindruckskonkurrenz mit Paris, Rom und London bestehen könne. Wie keine andere Stadt symbolisiere Berlin nicht nur Verbrechen und Untergang, sondern auch Aufstieg, Widerstand und Neubeginn. Zwiespältiger Geschichtsblick und deutsche Mystik versuchten sich bei der Suche nach Begründungen zu übertreffen, warum nur das Haufendorf an der Spree die Zukunftsfähigkeit unseres Landes garantieren könne. Vom deutschnationalen Pathos der Rechtskonservativen bis zur subtilen Deutschtümelei mancher Bündnisgrüner reichte das politpsychologische Kontinuum, das in der Rekonstruktion der alten Zentrale die Rehabilitierung von geschichtlicher Schuld entdeckte.
Bonn konnte da nicht mithalten. Seine politischen Traditionen reichen nicht bis Bismarck zurück. Es verfügt nicht über wilhelminische Monumentalbauten. Die rheinisch-katholische Frohnatur kann es mit der preußisch-protestantischen Wesensstrenge nicht im Willen zur Macht aufnehmen. Von Bonn gingen keine starken Achsen aus zu anderen Mächten; der politische Gehalt Bonns diffundierte immer. Die Zentralbank in Frankfurt, die heimliche Hauptstadt Brüssel, die Avantgarde-Kultur von Köln-Süd, die Asia Connection von Düsseldorf, die Nürnberger Arbeitslosen – alles stand mit Bonn in Berührung, gab Inputs, die in der kleinen Stadt umgeformt wurden in offizielle Politik. Aber niemand hatte je den Eindruck, Bonn sei für sich aufgrund von Geschichte, Größe, kultureller Gestaltungskraft, strategischer Lage oder einfach Großmäuligkeit ein Schwergewicht, an dem alle Ansprüche sich brechen, wo alles überformt wird durch zentrale Macht. Paris, London, Rom…Bonn – diese Reihung wirkte sympathisch lächerlich, wenn sie mit der Suggestion einherging, dies seien die Orte des klassischen Europas mit seinen starken Nationalstaaten. Bonn ist kleiner als die meisten deutschen Landeshauptstädte. Bonn symbolisiert einen neuen Politikbegriff – bescheidener, weniger Nationalstolz, mehr Dienstleistung als Huldigungsanspruch, Koordinierung statt Führung, natürlich alles relativ.
Aber ist die Zeit der Nationalstaaten mit ihren bombastischen Metropolen nicht vorbei? Ist angesichts des europäischen Einigungsprozesses und der wirtschaftlich-technischen Globalisierung die Idee der traditionellen Hauptstadt als Zentrale des gesamten politischen Lebens nicht hoffnungslos altmodisch? Hat die Habitat-Konferenz der Vereinten Nationen nicht davor gewarnt, die urbanen Konglomerate weiter anzufetten?
Die Steuerungsmöglichkeiten für nationale Politik schrumpfen enorm. Europa wird über die Währungsunion hinaus immer mehr politische Koordinierungsfunktionen verlangen. Die strukturellen Ungleichgewichte im neuen Europa werden nicht mehr durch nationalstaatliche Grenzen zu beschreiben sein. Sicher, solange die Konsequenzen europäischer Politik etwa im Sozialbereich noch über die nationalen Haushalte kleingearbeitet werden müssen, wird der Nationalstaat eine Funktion behalten. Aber er wird immer mehr zur Mittlerebene zwischen dem großen Europa und den kleineren Regionen, die kulturell und wirtschaftsstrukturell definiert sein werden und nicht nach der offiziellen Staatszugehörigkeit. Diese Entwicklung verlangt nach einer politischen Konsequenz, die sich in der Formel ausdrückt, der alte Nationalstaat müsse möglichst viele Kompetenzen nach oben und unten abgeben. Längst ist die Europäische Kommission mächtiger als der Deutsche Bundestag, ohne dass sie parlamentarisch hinreichend kontrolliert ist. Und Länder wie Nordrhein-Westfalen haben längst ihre eigene Botschaft in Brüssel, die nicht nationale deutsche Interessen vertritt, sondern die der Menschen zwischen Rhein und Weser.
Seien wir hämisch. Berlin hat sich die Hauptstadtrolle samt Regierungssitz zugeeignet. Aber mit Argumenten und Perspektiven, die an einer vergangenen Pracht, ihrer Fiktion, viel Schönfärberei und Selbstbetrug ansetzen. Es wird seine Ansprüche zurückschrauben müssen. Dass Sony und Daimler investieren, ist kein Zeichen für eine neue Weltgeltung der alten Metropole, sondern nur dafür, dass ein neuer Wirtschaftsraum aufbereitet wird zur Eingemeindung in die ungerichtete und chaotische Globalisierung. Berlin wird in der Substanz zur Dezentrale Ost mit aufgesetzter Bundesregierung werden, und nur hanebüchene Anstrengungen, darüber hinausweisende Größe demonstrieren zu wollen, könnten dieses Schicksal relativieren – um den Preis, dass alte Gespenster auferstünden. Die Bonner sollten den Berlinern vermitteln, dass es stressfreier ist, sich zu seiner Provinzialität zu bekennen.
Bonn repräsentierte wie kein anderer europäischer Regierungssitz das föderale Prinzip. Im erweiterten Föderalismus des vereinigten Deutschlands wird es diese Funktion formell nicht mehr ausüben dürfen. Nach dem wortbrüchigen, aber absehbaren Wegzug des Bundesrates wird es nicht mehr Sitz des einschlägigen Verfassungsorgans sein. Aber es wird Maßstab bleiben. Die Bonner Republik steht für etwas anderes als die Berliner Reiche. An ihr wird sich die neue Hauptstadt orientieren müssen, wenn sie mehr von den Menschen will als den Respekt vor der Macht, nämlich Sympathie.
Dass die Hauptstadt Bonn und die Länderinteressen in einen unauflösbaren Interessenkonflikt geraten könnten, war nie zu befürchten; auch wenn der Bundesrat hin und wieder die Muskeln gegenüber dem Bund spielen ließ. In Berlin hingegen ist die Hauptstadtfunktion auch Element der eigenen Landesentwicklung und gerät in das Interessengeflecht der lokalen Wirtschaft. Das Bundesinteresse wird unter das Landesinteresse subsummiert. Interessanterweise macht dies auch die grüne Opposition in Berlin mit. Da schwingt viel preußisches Denken mit.
Die dezentrale Verantwortung beschränkt sich für Bonn aber nicht auf die Vorbildfunktion. Von alten Verdiensten lässt sich nicht lange leben und für einen Platz im Geschichtsbuch ist die Stadt am Rhein dann doch zu vital. Verantwortung erwächst daraus, dass die gesamte Struktur des Politischen sich im Zusammenhang der Globalisierung verschiebt. Der Globus gliedert sich nicht mehr nur in Nationalstaaten, die Grenzen werden durch Kapital- und Warenströme, durch Information, Migration und Tourismus so penetriert, dass sich eine übernationale Gesellschaftlichkeit bildet. Keine Weltgesellschaft, keine integrierte Globalität, aber ein Geflecht von Beziehungen, die die traditionellen Strukturen einfach übergehen. Der nationale Regierungssitz ist nur noch ein Knoten neben vielen anderen, neben Finanzzentren, Drehscheiben für den Verkehr, Sitz transnationaler Unternehmen und internationaler Institutionen. Die Globalisierung schafft sich ihre eigenen Dezentralen.
Bonn könnte eine davon werden. Die Ansiedlung der Telekommunikation bringt nicht nur eine Zukunftstechnologie, sie verschafft auch den Zugang zur Welt der Information, einer der Hauptressourcen der neuen Welt. Der Ausbau zum Nord-Süd-Zentrum bindet Bonn in ein internationales Geflecht von Entwicklungsplanung, Hilfsdiensten und friedlichem Interessenausgleich ein. Diese Institutionen erhalten nicht nur einen Teil der Arbeitsplatzkapazität, können mehr bieten als billigen Trost für die Bedeutungsverluste. Denn aus ihnen kann neue Bedeutsamkeit entstehen, wenn ihre Funktion in einer sich wandelnden Welt richtig erkannt wird.
Die Reichweite politischer Entscheidungen durch den Nationalstaat und die eigentliche globale Problemstruktur sind nicht mehr kongruent. Die offiziellen internationalen Vertragswerke, Mechanismen und Institutionen haben nur eine begrenzte Reichweite. Sie wirkten bisher als sogenannte Internationale Regimes. Sie sind eng verknüpft mit der offiziellen Außenpolitik, angesiedelt in der Hauptstadt. Im Zeitalter der Globalisierung reichen sie nicht mehr aus. Da eine Weltregierung als politische Antwort ausscheidet, bildet sich quasi naturwüchsig eine Ebene des Eingreifens in globale Zusammenhänge, die unter dem Begriff global governance diskutiert wird. Hauptstädte und internationale Regimes sind nur noch ein Teil. Mindestens so wichtig sind die bereits erwähnten Knotenpunkte. Zunehmend bedeutsam sind Nichtregierungsorganisationen. Ihre weltweite Vernetzung ist beträchtlich. Sollte Bonn es schaffen, nicht nur die traditionellen Institutionen und Verbände der Nord-Süd-Politik anzusiedeln, sondern auch den NROs den Aufenthalt schmackhaft zu machen, dann könnte es global Player bleiben. Global Player nicht als Zentrale eines föderalen Staates, sondern als Dezentrale im Rahmen der global governance.
Vielleicht braucht Bonn dafür aber einen Mentalitätswechsel. Die linksrheinische Gutmütigkeit und Selbstgenügsamkeit war ideal, um der Bundeshauptstadt Bonn das Flair der Harmlosigkeit zu verleihen. Sie konnte die Strenge der Hauptstadtfunktion abmildern. Wer global mitspielen will, muss aber seinen Blick weiten, muss nicht nur mäßigen, sondern selbst offensiv werden. Bonn ist nicht mehr der Standort des Akteurs Bund, es muss selbst Akteur werden. Seine Ressource ist nicht Macht wie in Berlin oder Geld wie in Frankfurt, sondern internationale Kommunikation. Der Rheinländer muss wieder Weltbürger werden. Die Rheinländerin auch.
Mit veränderter Perspektive und Mentalität könnte die Region zur kulturellen Gegenspielerin Großberlins werden. Der Verdruss über den Umzugsbeschluss sitzt tief, steigerte sich hier und da zu regelrechtem Hass. Wer die Abläufe genau beobachtet hat, kann das nachvollziehen. Aber Hass ist keine Produktivkraft, zerstört auf Dauer nicht sein Objekt, sondern versperrt die eigenen Entwicklungschancen. Der berechtigte Missmut, gepaart mit weltoffener Perspektive, Toleranz und dezentral denkender Demokratie sollte eine Denkhaltung hervorbringen können, die Deutschland umso dringender braucht, als die Gefahren eines altmodischen Zentralstaates wachsen. Misstrauen und Vorsicht sollten sich in aufgeklärte demokratische Urteils- und Kritikfähigkeit wandeln und handlungsfähig machen, falls aus der preußischen Zentrale wieder Unbill droht.
Bonn kann selbstbewusst bleiben. Was das wichtigste deutsche Thema angeht, den Fußball, steht es ohnehin nicht schlechter da als andere. Es hat so viele Vereine in der ersten Bundesliga wie Berlin und Frankfurt zusammen – nämlich keinen.