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(Interview mit Martin Ohlert für sein Buch „Zwischen ‚Multikulturalismus‘ und ‚Leitkultur“‘, 2013)

Martin Ohlert: Sehr geehrter Herr Volmer, Sie waren in Ihrer Partei über viele Jahre in führenden politischen Ämtern aktiv und somit unmittelbar an den parteiinternen Debatten um Integration beteiligt. Welches sind aus ihrer Sicht die entscheidenden Kontinuitätsmerkmale bzw. die entscheidenden Veränderungen mit Blick auf die Grundannahmen der Grünen zum Thema Integration während der vergangenen Jahrzehnte?

Ludger Volmer: Es gibt Kontinuität, was einige Grundwerte angeht, und es gibt einen Wandel, was die politische Konzipierung angeht. Die Grundwerte bestehen seit der Gründung und sie umfassen u.a. den Einsatz für Minderheiten, für Menschen, die von der so genannten Normalgesellschaft bzw. vom Mainstream diskriminiert worden sind. Das betrifft insbesondere auch die unterschiedlichen Gruppen von Ausländern. Die Grünen haben sich seit Beginn ihrer Existenz eingesetzt für die Integration von Ausländern, dafür, ihnen ihr Leben hier in Deutschland zu erleichtern, Diskriminierung abzubauen. Darüber hinaus haben sie sich dafür eingesetzt, die Zuzugsmöglichkeiten von Ausländern sukzessive zu verbessern. Diese Grundsätze gibt es noch heute. Geändert hat sich die Politik. In den 1980er Jahren haben die Grünen sehr idealistisch die Position vertreten, dass Deutschland freie Grenzen brauche. Das hieß: Jeder, der nach Deutschland kommen wollte, sollte nach Deutschland kommen dürfen, egal aus welchem Grund. Man unterschied also nicht die verschiedenen Motive, aus denen Leute nach Deutschland kommen wollten. Diese Politik der „offenen Tür“ wurde insbesondere zu Beginn der 1990er Jahre verteidigt, als die konservativen Kräfte in Deutschland das Asylrecht abschaffen wollten. Die Grünen haben sich sehr intensiv für die Beibehaltung des alten Asylrechts eingesetzt. Das war für die Partei Anfang der 1990er Jahre einer der wichtigsten politischen Punkte überhaupt. Von Beginn an verbunden haben die Grünen diese Position mit dem Kampf gegen Rechtsextremismus. Denn den Grünen war damals klar – wie die Soziologie bestätigt –, dass rechtsextremistische Einstellungen keine Außenseiterphänomene am rechten Rand der Gesellschaft sind, sondern bis in die Mitte der Gesellschaft hineinreichen. Die Grünen redeten damals vom „Extremismus der Mitte“. Wie die Asyldebatte ausgegangen ist, wissen wir: Es gab restriktivere Gesetze, die Möglichkeiten wurden eingedämmt. Die Grünen haben diese Phase dann genutzt, um ihr ursprüngliches Konzept der „offenen Grenzen“ zu modifizieren. Man begann, zwischen den verschiedenen Formen der Zuwanderung zu differenzieren. Man unterschied ab sofort zwischen Asyl, Flucht und Vertreibung, Arbeitsemigration, Familienzusammenführung und touristischen Besuchen. Für alle diese Formen der Zuwanderung haben die Grünen versucht, eigene Konzepte zu entwickeln. Allerdings zeichneten die sich allesamt durch denselben Grundwert aus, nämlich möglichst viel Freizügigkeit zu gewährleisten – also zu ermöglichen, dass Ausländer nicht nur nach Deutschland kommen, weil sie durch die Reste des Asylrechtes dazu berechtigt waren, sondern auch weil sie Deutschland bereicherten mit neuen kulturellen Elementen, mit ihrer Arbeitskraft und mit ihrer Schaffensfreude. Diese Politik hat sich dann zur Zeit der rot-grünen Koalition in einigen Gesetzesvorhaben manifestiert. So sind die Grünen immer eingetreten für doppelte Staatsbürgerschaften. Sie haben sich dabei zwar nicht gänzlich gegenüber dem Koalitionspartner und der rechten Mehrheit durchsetzen können, aber immerhin wurden diese Möglichkeiten zumindest für bestimmte Altersgruppen eingeräumt. Das gesamte Staatsbürgerschaftsrecht haben die Grünen somit modernisiert. Das Problem, das sie immer hatten und bis heute haben, ist, dass einige Kreise bei den Grünen, vielleicht sogar die Grünen-Mehrheit, zur Romantisierung von „Multikulti“ neigen bzw. neigt. „Multikulti“ als Konsequenz von Einwanderung ist ein Faktum, damit muss man umgehen. Ob „Multikulti“ jedoch in allen Gegenden dieser Republik wirklich willkommen ist, so wie es den Grünen willkommen ist, ist ein bisschen zweifelhaft. Die Grünen rekrutieren sich ja im Wesentlichen aus gebildeteren Bevölkerungsschichten, die erfahrungsoffen und weltoffen sind. Diese Schichten lieben „Multikulturalismus“, sie empfinden ihn als Bereicherung. Die Grünen haben aber manchmal nicht das richtige Verständnis dafür, dass ärmeren und bildungsferneren Bevölkerungsschichten, die genügend Probleme im Alltag haben und sich mit allen möglichen Dingen herumschlagen müssen, das Erscheinen anderer Kulturformen Sorgen bereitet, weil der Alltag für sie damit überkomplex wird. Da haben die Grünen manchmal ein bisschen zu wenig Verständnis für die Nöte der kleinen Leute. In diesem Spannungsfeld entwickelt sich seit einiger Zeit die grüne Ausländerpolitik.

Ohlert: Was sind für Sie die Grundlagen und das Ziel von Integration?

Volmer: Die Grundlagen von Integration sind auf der einen Seite die Kulturmuster und die juristischen bzw. rechtlichen Errungenschaften, die wir in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg haben. Demokratie, eine ökologisch-soziale Marktwirtschaft – die Grünen würden hier das Ökologische natürlich stärker konturieren, als das im Moment der Fall ist –, Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung der Frau, das also, was die Grundwerte dieser Gesellschaft ausmacht. Auf der anderen Seite gilt, dass die Lebenserwartung der zuwandernden Menschen, auch deren eigene Kultur, ihren Platz in Deutschland finden können müssen. Die Frage ist dabei, in welchem Verhältnis die zugewanderte Gesellschaft zu der Gesellschaft steht, die hier schon lange wohnt. Da sind die Grünen der Meinung, dass die Zuwanderer im Prinzip die Pflicht haben, sich anzupassen. Aber Anpassung nicht in dem Sinne, dass jede kleinbürgerliche, spießige Lebensform und Einstellung übernommen werden muss, sondern Anpassung in dem Sinne, dass die Grundwerte akzeptiert werden, also Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung der Frau, das Menschenwürdekonzept des Grundgesetztes usw., was ich gerade geschildert habe. Umgekehrt muss die Mehrheitsgesellschaft tolerieren, dass in Minderheiten bis zu einem gewissen Grad, also insoweit sie nicht die Grundwerte verletzen, eigene Kulturmuster existieren. Diesen muss auch die Möglichkeit eingeräumt werden, sich zu äußern und gepflegt zu werden. Zudem haben die Grünen immer wieder dafür plädiert zu erkennen, dass Zuwanderung nicht etwa dazu führt, dass der Sozialstaat missbraucht wird – Stichwort Einwanderung in das soziale Netz –,   sondern dass die Zugewanderten große wirtschaftliche Leistungen erbringen, unseren Sozialstaat mitfinanzieren, sehr viel Energie und Kreativität in diese Gesellschaft hineinbringen. Dass sie also kein Übel sind, welches geduldet werden muss, sondern im Prinzip ein Gewinn für diese Gesellschaft sind, ein Gewinn, den man auch nachhaltig sichern muss, indem man weitere Zuwanderung möglich macht. Die Grünen setzen sich daher nach wie vor für eine Liberalisierung der Zuwanderungsmöglichkeiten ein. Allerdings verlangen sie von den Zugewanderten stärker als früher, dass sie eigene Schritte zu ihrer Integration machen.

Ohlert: Welche Bedeutung hat für Sie der häufig kontrovers diskutierte Begriff „Kultur“ im Rahmen des Integrationsprozesses?

Volmer: Es gab ja vor einiger Zeit die Debatte über die sogenannte „Leitkultur“. Man wusste nie so genau, was das sein sollte. Versteht man darunter ganz allgemein die Errungenschaften der christlich-abendländischen Philosophie und Werte verbunden mit Aufklärung und Moderne, dann ist das schon eine gesellschaftliche Grundlage, die sich auch ausdrückt in unserer Form von Rechtsstaatlichkeit, in unserem Verfassungsstaat usw. Es gab dagegen das Argument, dass Deutschland eigentlich keine „Leitkultur“ habe und haben dürfe, sondern dass jeder und jede, welcher Kultur auch immer er/sie entstammt, im Sinne des Grundgesetzes und auf der Basis unserer Rechte die Möglichkeit haben müsste, sich so zu verhalten, wie er/sie wollte. Ich fand, dass das teilweise eine Scheinkontroverse war. Denn unser gesamtes Rechtssystem ist letztlich eine Konsequenz unserer kulturellen Auffassungen, so dass man beides nicht trennen kann. Ein rein formales Demokratieverständnis kann also eigentlich nicht funktionieren. Demokratie hat immer auch einen philosophisch-kulturellen Hintergrund. Bei uns sind es u.a. die Errungenschaften der bürgerlichen Revolutionen. Zu glauben, in unserer Region könnte statt der jüdisch-christlich-aufgeklärten Tradition eine völlig andere Weltanschauung die Mehrheitsgesellschaft stellen – man muss nur dieses Gedankenexperiment einmal machen, und da wird jeder die Stirn runzeln, auch die Liberalsten und die Weltoffensten. Das heißt, jeder geht im Prinzip davon aus, dass es hier so etwas wie eine historisch gewachsene Kultur gibt. Dies muss man nicht als „Leitkultur“ bezeichnen, man kann sie auch nicht ganz präzise definieren, aber es gibt ein Gefühl dafür. Im Rahmen dieser Kultur und in Ergänzung dieser Kultur sind Minderheiten nicht nur zu tolerieren, sondern geradezu erwünscht, weil sie frische Ideen in die Gesellschaft bringen. Aber keiner würde so weit gehen zu sagen, wir ersetzen hier jetzt unsere christlich-abendländisch-aufgeklärten Kulturmuster, sagen wir durch islamische, durch hinduistische, durch animistische oder durch welche auch immer. Als Ergänzung, als Kulturen also, die den Mainstream befruchten können, sind sie immer willkommen, aber es gibt irgendwo Grenzen, auch wenn diese schwer definierbar sind und die Debatten darüber, wie viel möglich ist und wo Hemmnisse entstehen, daher sicherlich nicht aufhören werden.

Ohlert: Ist das aus Ihrer Sicht heute auch die Position der Grünen?

Volmer: Die Grünen haben dazu meines Erachtens gar keine Position. Sie haben ein Gefühl.

Ohlert: Was ist das Charakteristische an dem Integrationsleitbild der Grünen bzw. gibt es grundsätzliche Unterschiede zu denjenigen der übrigen Parteien?

Volmer: Die übrigen Parteien, am stärksten die CSU, weniger stark die SPD, wobei es auch dort größere Kreise gibt, die man dazurechnen könnte, sind im Großen und Ganzen deutschnational motiviert. Die Grünen hingegen sind alles andere als deutschnational; die Grünen sind internationalistisch und multikulturell orientiert. Das sind schon zwei kulturelle Pole. Wenn ich mir also einerseits die Deutschnationalen in der CSU und andererseits die weltoffenen Liberalen bei den Grünen anschaue, da liegen Welten zwischen.

Ohlert: Wovon hängt Ihrer Meinung nach Integration primär ab – und welches sind die zentralen Anforderungen an Mehrheitsgesellschaft einerseits und an Migranten andererseits?

Volmer: Beide Seiten müssen wissen und sich darauf verständigen, dass die Menschen, die hier leben und die hier länger als zu Kurzbesuchen bleiben wollen, hier hingehören. Ob sie immer hier hingehört haben, darüber kann man streiten, aber sie sind nun einmal hier. Sie wurden seit den 1960er Jahren durch die Arbeitsbehörden und durch die Unternehmen angeworben, dann gab es den Familiennachzug, der absolut verständlich ist, es gibt heute weitere Zuwanderung durch Experten und insbesondere durch Menschen, die früher als EU-Ausländer galten. Kurz: Wer hier über längere Zeit lebt, gehört dazu. In dem Sinne ist Deutschland ein Einwanderungsland. Nur diese Formel „Deutschland ist ein Einwanderungsland“, die verdeckt mehr, als sie analytisch klarstellt. Denn dass es Einwanderung gegeben hat, ist ein Faktum. Aber der Satz „Deutschland ist ein Einwanderungsland“ soll ja zugleich suggerieren: Weil es Einwanderung gegeben hat, wird es immer Einwanderung geben. Da wird Historie und Programmatik also einfach gleichgesetzt, und deshalb wird die Diskussion schief. Ich finde, man muss auf der einen Seite konstatieren, dass es Einwanderung gegeben hat und dass alle, die zugewandert sind, anständig behandelt werden und die Chance haben müssen, sich zu integrieren. Die Mehrheitsgesellschaft muss diese Chancen eröffnen, und die Zugewanderten müssen diese Chancen ergreifen. Offen aber ist die Frage, ob es und in welcher Form es zukünftig Zuwanderung geben soll; das ist die Frage der Programmatik. Und da finde ich es persönlich richtig, dass die Grünen für eine Liberalisierung, für eine Öffnung eintreten, ohne den alten Illusionen von „offenen Grenzen“ anzuhängen. Allerdings muss man dies politisch konzipieren, man kann nicht einfach glauben, dass sich die Dinge naturwüchsig irgendwie regeln. Das grüne Beharren auf dem Satz „Deutschland ist ein Einwanderungsland“ hilft hierbei nicht unbedingt, weil es Widerstände provoziert, die dadurch entstehen, dass man die Analyse der Historie in einem Satz mit der Programmierung der Zukunft verknüpft. Das geht einfach nicht, da argumentieren die Grünen unsauber. Die Mehrheitsgesellschaft muss den Zuwanderern die Möglichkeit geben, sich zu integrieren, das ist ihre Hauptaufgabe, und die Zuwanderer müssen aktive Schritte unternehmen, das betrifft insbesondere das Erlernen der deutschen Sprache, aber auch andere Dinge. Voraussetzung dafür ist die Aussage: Wer in Deutschland lebt, gehört dazu. Punkt. Daraus resultiert ein Staatsbürgerschaftsrecht, das nicht mehr abhängig ist vom Blut und von genetischen Faktoren.

Ohlert: Was sind die entscheidenden integrationspolitischen Maßnahmen?

Volmer: Man muss Zuwanderern die Möglichkeit geben, sich nicht so krass und strikt entscheiden zu müssen, ob man jetzt die deutsche Staatsangehörigkeit haben oder die alte behalten möchte. Man sollte eher die Chance sehen, dass es sogenannte Scharnierpersonen sind, die in beiden Kulturen leben und beide Staatsangehörigkeiten haben, und dass solche Scharnierpersonen eine ganz wesentliche Funktion haben können, wenn es darum geht, Deutschland mit anderen Ländern in freundlichen Kontext zu bringen. Das betrifft nicht nur die Wirtschaft, sondern auch den Austausch auf persönlicher Ebene. Die doppelte Staatsbürgerschaft müsste also in größerem Umfang möglich sein, als das heute der Fall ist. Dann müssten die Integrationsangebote, die jetzt schon da sind, also von Sprachkursen bis hin zu anderen Schulungsmaßnahmen, einerseits ausgebaut werden; zugleich muss aber der Druck auf die zugewanderten Bevölkerungsteile erhöht werden, diese Angebote auch anzunehmen. Nach Deutschland zu kommen und zu sagen, ich baue mir hier meine Parallelgesellschaft auf, mit eigener subkultureller Ökonomie – wobei das noch geht – und mit eigener Justiz, die unseren Rechtsstaat unterläuft, das geht überhaupt nicht. In dem Sinne muss die Mehrheitsgesellschaft darauf achten, dass sich nicht über Subkulturen hinaus Parallelgesellschaften entwickeln. Auf der formalen juristischen Ebene jedoch sollte sie doppelte Staatsbürgerschaften möglich machen. Wenn die Leute nicht ständig Angst haben um ihren Status, dann integrieren sie sich wahrscheinlich leichter, als wenn sie meinen, sie sind hier sowieso nicht richtig akzeptiert. Dann entsteht auch eher die Neigung, sich in Parallelgesellschaften zurückzuziehen. Das sehe ich im Moment als das gesellschaftspolitische Hauptproblem an.