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(Interview mit der Berliner Zeitung, 5. Mai 2013, anlässlich des Erscheinens meines Buchs „Kriegsgeschrei“; die Fragen beziehen sich aber alle auf mein Buch von 2009: „Die Grünen – von der Protestbewegung zur etablierten Partei“)

Berliner Zeitung: Herr Volmer, können Sie eigentlich stricken?

Ludger Volmer: Nein, als Volksschüler sollte ich mal Häkeln lernen, aber viel weiter als bis zur Luftmasche bin ich nicht gekommen.

Dabei war Stricken in Ihrer Partei doch mal schwer in Mode. In den 1980er Jahren waren ständig strickende Grüne im Fernsehen zu sehen, manchmal sogar Männer. Was war da los?

Die Strickerei entsprach dem Zeitgeist in unserem Milieu. Die Grünen waren ja ursprünglich ein Sammelbecken unterschiedlichster sozialer Bewegungen, unter anderem der Öko- und Anti-Atom-Bewegung. Die Kritik an der Industriegesellschaft war ein wesentliches Motiv der Parteigründung. Stattdessen sollten wieder traditionelle Produktionsformen etabliert werden. Dazu gehörte eben auch, dass man sich mit Schafswolle die eigenen Pullover strickt.  Mich persönlich hat das Geklapper der Nadeln oft genervt. Wenn man eine Rede hielt, wusste man häufig gar nicht, wie man aufs Publikum wirkte.  Da saßen dann im Saal lauter strickende Frauen, die ihre Lippen allenfalls zum Maschenzählen bewegten. Ob sie das Gesagte für gut oder für bescheuert hielten, konnte man nicht erkennen.

Die Partei wurde 1980 gegründet, am 6. März 1983 schaffte sie mit 5,6 Prozent der Stimmen den Sprung in den Bundestag. Wähnten sich die Grünen damals am Ziel oder am Anfang einer langen Reise?

Wir betrachteten den Einzug ins Parlament allenfalls als methodischen Zwischenschritt. Unser Ziel war es natürlich, die Welt zu verändern. Genauer gesagt: Wir wollten die ganze Welt ganz grundsätzlich verändern. Eine politische Strategie hatten wir noch nicht. Niemand dachte zunächst ans Regieren oder an Koalitionen, an Kompromisse und kleine Schritte. Kaum jemand wollte Profi-Politiker werden. Wir verstanden uns als Anti-Parteien-Partei.

Warum wollten die Grünen dann unbedingt ins Parlament?

Der Anspruch war es, den zahlreichen sozialen Bewegungen, aus denen die Grünen hervorgegangen waren, eine parlamentarische Stimme zu verleihen. Die Wahl in den Bundestag ermöglichte neue politische Ausdrucksformen. Das hatte zunächst auch eine Art Happening-Charakter: Vorher hatten wir uns bei zahllosen Demonstrationen auf der Straße ausgetobt, mit der Polizei geprügelt und in der Öffentlichkeit zu deren Entsetzen schlimme Dinge gesagt. Nun konnten wir das alles im Bundestag machen, mit Ausnahme der Prügelei natürlich. Wir taten das mit Vergnügen.

Was waren das für Leute, die da plötzlich Abgeordnete wurden?

Das war eine sehr heterogene Truppe. Es gab viele Links-Alternative, die Männer unter ihnen trugen fast ausnahmslos Vollbärte und lange Haare. Es gab aber auch einige wertkonservative Leute, die sich bei der CDU/CSU hätten bewegen können. Sie warfen der Union aber unter anderem vor, eine fortschreitende Umweltzerstörung zuzulassen, anstatt für den Erhalt der Schöpfung einzutreten. Es gab ehemalige Sozialdemokraten wie Petra Kelly, die enttäuscht waren von der Politik Helmut Schmidts. Und dann gab es Individualisten, die schwer einzuordnen waren. Einige von ihnen waren anthroposophisch angehaucht wie etwa Otto Schily, der später zur SPD wechselte und als Bundesinnenminister den rechten Hardliner gab.

Helmut Kohl rief zu jener Zeit gerade die geistig-moralische Wende aus. Wie wurden Sie vom etablierten Bonn empfangen?

Union, SPD und FDP waren völlig entgeistert, dass solche komischen Leute wie wir nun im Parlament saßen. Plötzlich liefen da Abgeordnete im Schlabber-Look `rum, stellten Blumen aufs Pult und rollten Transparente aus. Auf einmal wurden in Bundestagsreden auch Dinge angesprochen, die dort zuvor niemals thematisiert worden waren. Zum Beispiel der alltägliche Sexismus in der Gesellschaft. Dann war auch die Tatsache irritierend, dass Frauen in größerer Anzahl auftauchten. Einige brachten sogar noch ihre Kinder mit. Das hatte es im spießigen Bonn vorher nicht gegeben. Überdies verfolgten wir Prinzipien wie die Rotation zur Mitte der Wahlperiode, die Frauenquote und die Trennung von Amt und Mandat. Unsere Fraktionssitzungen waren öffentlich. All das war den anderen hochgradig suspekt.

Wie machte sich die Verstörung der Platzhirsche bemerkbar?

Das drückte sich aus in einem Gemisch aus Verunsicherung und Aggressivität. Geh‘ doch nach drüben in die DDR, wasch‘ Dir mal die Haare, das waren im Plenum noch die geringsten Beschimpfungen. Die Frauen mussten sich ziemlich viele blöde Macho-Sprüche anhören. Auf der Straße trafen wir ständig auf Leute, die uns hinterherriefen: Man hat wohl vergessen, Euch zu vergasen. Für das Bonner Establishment waren wir Parias.

Irgendwann muss Ihnen klar geworden sein, dass es nicht reicht, einfach nur anders zu sein. Können Sie sich noch an den Moment erinnern?

Ja, das war bereits im November 1983. Damals stimmt der Bundestag mit der Mehrheit von Union und FDP der Stationierung von neuen US-Atomraketen in Deutschland zu. Das war sozusagen der deutsche Teil des Nato-Doppelbeschlusses, den Helmut Schmidt einst durchgedrückt hatte. Helmut Kohl hatte als Kanzler kein Interesse mehr, mit den Sowjets über Abrüstung zu verhandeln. US-Präsident Ronald Reagan wollte von Entspannungspolitik nichts wissen. In diesem Augenblick war uns klar: Das außerparlamentarische Bündnis aus Friedens- und Umweltbewegung war an seine Grenzen gestoßen. Wenn wir jetzt noch Wirkung entfalten wollten, mussten wir umsteigen von der Straße auf die kleinen Positionskämpfe im Parlament.

Die Frage, ob die Grünen regieren oder ewig in der Opposition bleiben wollten, war damit aber noch nicht beantwortet.

Das sollte auch noch einige Jahre dauern. Es gab bis in die frühen 1990er Jahre hinein diesen lähmenden Dauerkonflikt zwischen Realpolitikern wie etwa Joschka Fischer, den so genannten Realos, und den Fundis um Jutta Ditfurth, die nur Fundamentalopposition betreiben wollten. Dazwischen saßen Linke wie ich, die eine Regierungsbeteiligung zumindest nicht ausschließen wollten. Bei der ersten gesamtdeutschen Wahl 1990 flogen die West-Grünen aus dem Parlament. Wir standen vor dem Nichts und mussten die Partei ganz neu aufstellen. 1991 schmiss Jutta Ditfurth entnervt hin.

Wären die Grünen ohne Helmut Schmidt und Helmut Kohl denkbar?

Meine These ist, dass Helmut Schmidt wider Willen einer der Gründerväter der Grünen war. Wir haben uns als linke, anti-autoritäre Partei gegen Schmidt und seine SPD gegründet. Er hatte keinerlei Sensorium für die Umweltfrage und verachtete die Friedensbewegung. Als Kohl dann Kanzler wurde und sich der gesellschaftlichen Modernisierung verweigerte, hatten wir ein neues Feindbild. Und zwar gemeinsam mit den Sozialdemokraten, was die Annäherung ungemein beförderte. Im Bund teilten wir 15 Jahre lang die Oppositionsbänke, dann war unsere Zeit gekommen. Ohne Kohl hätte es Rot-Grün nie gegeben.

Die Grünen sind heute eine ganz normale, etablierte Partei. Von Bundestagspräsident Norbert Lammert stammt das Bonmot, dass die Grünen durch das parlamentarische System stärker verändert worden seien als dieses System durch sie. Hat er Recht?

Norbert Lammert ist ein kluger Kopf. Gleichwohl: Auf dem Weg von der Bewegung zur Regierungspartei muss man sich verändern. Ich glaube, dass nicht das System uns verändert hat, sondern wir uns selbst. Und zwar bewusst und gewollt. Hinzu kommt: Als wir erstmals in den Bundestag einzogen, waren wir fast alle sehr jung. Wenn man älter wird, lernt man dazu. Das sollte man zumindest.

Die Welt haben Sie nicht aus den Angeln heben können.

Trotzdem behaupte ich, dass jede große Reform der vergangenen Jahrzehnte in irgendeiner Form von den Grünen angestoßen worden ist. Das betrifft zum Beispiel den Atomausstieg, die Energiewende, das Staatsangehörigkeitsrecht, die Gleichstellung Homosexueller oder die angestrebte Bändigung der Weltfinanzmärkte. Auch die Finanztransaktionssteuer war ursprünglich ein rein grünes Thema. Der erste, der es in den Bundestag eingebracht hat, war ich selbst. Deshalb glaube ich: Die Grünen haben auch Norbert Lammert verändert. Der würde als CDU-Mann nicht so liberal daherreden, wenn es die Grünen nicht gäbe. Er will Schwarz-Grün den Weg bereiten. Weil er ein kluger Kopf ist, bleibt ihm ja auch nichts anderes übrig. Dennoch wird es das nicht geben.