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(angefragter Beitrag für eine Kolumne des Magazins „Berge“, Nr.76, Januar 1996. Die beschriebene Bergtour fand im August 1994 statt. Im Editorial schreibt der Verlag: Ludger Volmer […] kam durch seine Liebe zur Natur und eine ausgeprägte Reiselust zum Bergsteigen. Mit 27 bestieg er seinen ersten Gipfel, den Kilimandjaro. Es folgten 5000er in Nepal und Berge auf Java und in Kalifornien. Seit das politische Geschäft immer mehr die Freizeit beschneidet, sucht er häufiger in den Alpen Erholung.)

 

Wahlkampfjahr. Streß, Hektik und Streit. Dicke Luft und enge Räume, Zugabteile, Bahnhofskneipen, Hinterzimmer. Nur noch unterwegs. Die Nerven zum Zerreißen gespannt. Der politische Funktionär als reduzierte Persönlichkeit. Warum macht man das eigentlich alles? Wo bleibt das Leben, die Freiheit, atmen zu können, der weite Blick, die Melodie der Stille? Nur raus aus der Maschinerie, wenigstens vierzehn Tage. Sich und die Welt anders erleben.

Dort steht sie, die Bernina, und stanzt weiße Flächen aus dem dunkelblauen Himmel. Das ist nicht die Imagination der Worte Flaigs, nicht Segantinis Bild, die mir kleine Fluchten boten, wenn ich nach einer politischen Schlacht in die Sessel meines Arbeitszimmers sank. Das ist Wirklichkeit. Zum Greifen nahe. Ich habe es geschafft, bin entronnen, sitze vor der Hütte des berühmten Malers und betrachte die Touren, die wie im Bilderbuch vor mir liegen. Eine andere Welt, Themenwechsel. Geschliffene Reden interessieren hier nicht, die Beine müssen einen tragen, der Kopf wühlt sich nicht durch die Wirren politischer Taktik, sondern sucht nach klaren Linien, der Spur, die einen auf die Gipfel und heil wieder herunterbringt.

Unterwegs. Der steile Anstieg zum Piz Palü. Ich bin langsam. Das Taining war zu knapp. Sieben mal am Rheindeich joggen, mehr war nicht drin. Die anderen drei der Seilschaft sind topfit. Ein Bergführer, ein Radamateur, ein siebzehnjähriges Kraftpaket, Zufallsgefährten. Ich keuche ständig an der Leistungsgrenze. Hätte ich nicht besser ans Mittelmeer fahren sollen? Aber dann die letzte Aufsteilung des Schneegrats, die flirrend weißen Kuppeln der Gipfeldome. In der Ferne der Ortler, die Dolomiten, das Bergell und dort drüben der Spallagrat auf den Piz Bernina, das Ziel für morgen. Balancieren über die scharfe Firnschneide, viel Luft unter den Füßen. Hierher kommen sie mir nicht nach, die Neider, die Spötter, die Gegner und auch nicht die Freunde mit ihren berechtigten Anforderungen. Das tröstet mich über das Unbehagen hinweg, das die Ausgesetztheit bereitet. Gratwanderungen und Hochseilakte kenne ich aus der Politik. Abstürzen darf man dort wie hier nicht. Auch das Absteigen will gelernt sein, nach jedem Höhepunkt zurück zur Basis.

Piz Bernina, der Viertausender ist geschafft. Es geht ja doch noch! Es bereitet mir diebisches Vergnügen,  dieses Stückchen Lebensqualität angeeignet zu haben. Imaginäre Spuren legen, Weltaneignung, ohne besitzen oder zerstören zu wollen, ist das nicht der Sinn des Reisens, des Bergsteigens? Die langen Märsche über die weiten Gletscherflächen stimulieren den Stoffwechsel, der Endorphinausstoß beflügelt die Phantasie. In schillernder geistiger Rhetorik werden die Gegner von gestern und morgen niedergeredet, neuer Mut entsteht, neue Motivation. Bis man hochschreckt aus dem Traum, die müden Beine spürt, das Knirschen im Knie.

Ich liege auf der Wiese am Piz Languard, unter mir das Engadin, über mir die Wolken, dort drüben der Biancograt, der zu ihnen hinaufführt, stairways to heaven. Für mich eine Nummer zu schwer. Aber ich weiß wieder, warum ich Politik mache. Damit die Welt so schön bleibt, wie sie oft noch ist.