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(Transkription einer frei gehaltenen Rede als Staatsminister am 25.11.2000 in München, anlässlich einer Demonstration gegen Neo-Nazis, die auf dem ehemaligen Synagogenplatz aufmarschieren wollten. Weitere Redner waren u.a. OB Christian Ude, Charlotte Knoblauch, Konstantin Wecker, Udo Wachtveitl)

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!

Liebe Freundinnen und Freunde!

Auch im Namen der Bundesregierung möchte ich der Stadt München, dem Bündnis von Persönlichkeiten aus Politik und Kultur und Ihnen allen dazu gratulieren, dass Sie es geschafft haben, so schnell nach der Ankündigung der NPD-Demonstration die Gegen­bewegung zu organisieren, den Platz zu besetzen und deutlich zu machen: Wir stehen hier, weil wir nicht wegschauen wollen; weil wir verhindern wollen, dass Ausländer durch die Straßen gejagt und ermordet werden; weil wir verhindern wollen, dass jüdische Mitbür­gerinnen und Mitbürger bedroht werden; weil wir verhindern wollen, dass die Erinne­rungsstätten an den Holocaust geschändet werden. Das demonstrieren wir hier.

Meine Damen und Herren, im Kampf gegen den Rechtsextremismus und gegen rechte Gewalt brauchen wir ein Bündnis so breit wie möglich. Und es ist richtig und notwendig, dass gerade auch konservative Kräfte, mit denen ich als Vertreter von Bündnis 90/DIE GRÜNEN mich ansonsten gerne in mancher Frage streite, dabei sind. Es ist auch richtig, Gewalttätigkeiten von allen Seiten eine Absage zu erteilen. Man muss nur aufpassen dabei, dass man nicht die Relationen aus dem Auge verliert. Das Hauptproblem im Moment ist die rechte Gewalt, sind zig Tote, die in den letzten zehn Jahren auf das Konto von rechten Mörderbanden und ihren Hintermännern gehen. Und wenn wir davon reden, dass wir gegen rechten und linken Extremismus eintreten, dann müssen wir aufpassen, dass das nicht zu einer Relativierung der rechten Gewalttaten führt oder zumindest missverstanden wird.

Erinnern wir uns daran, wie der Rechtsextremismus Ende der 80er Jahre/Beginn der 90er Jahre entstand. Sicher gab es immer diesen braunen Bodensatz. Er wurde lange unter dem Deckel gehalten. Aber war es denn nicht so, dass manche missglückte oder zumindest missverständliche Äußerung im Zusammenhang mit der Asyldiskussion oder heute auch im Zusammenhang mit der Einwanderungsdiskussion von den rechten Kräften als Stich­wort genommen wird, um ihre Propaganda zu verbreiten? Ist es nicht so, dass die Rechten oft das Gefühl haben konnten, dass ihre Ideologie auch in der Mitte der Gesellschaft ver­ankert ist? Und deshalb ist es unser aller Aufgabe, die wir hier stehen als die anständigen Bürger der Gesellschaft, auch auf uns selbst zu reflektieren und zu schauen, ob wir nicht auch bestimmte gedankliche Muster im Kopf haben, die der rechten Politik Vorschub leisten.

Und deshalb geht die Mahnung an uns selbst. Wir brauchen Toleranz. Wir brauchen Tole­ranz, aber wir brauchen gleichzeitig mehr als Toleranz, denn im Begriff der Toleranz steckt schon wieder das Andersartige drin. Tolerieren heißt nicht mehr als dulden. Das wäre mir zu wenig. Wir brauchen mehr als Toleranz. Wir brauchen Akzeptanz. Wir brauchen das Zugehen auf unsere ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Wir müssen ihnen sagen: „Wir brauchen euch.“ Und deshalb müssen wir noch weiter gehen über die Akzep­tanz hinaus. Wir müssen sagen: Wir werden unser Bewusstsein in die Richtung weiter entwickeln müssen und auch unsere Politik in die Richtung weiter entwickeln müssen, dass wir Ausländer in Zukunft brauchen. Wir werden nachdenken müssen über eine Einwande­rungspolitik. Wir werden nachdenken müssen über intensivierte Integration.

Es versteht sich von selbst, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, dass man keine anderen Menschen – seien sie Inländer oder Ausländer – jagt, quält und tötet. Aber die ideologi­schen Muster, die von den Rechten zur Rechtfertigung herangezogen werden und mit denen sie versuchen, die weniger informierten und die weniger bewussten Teile unserer Gesellschaft anzusprechen, sind zudem auch noch außerordentlich falsch und dumm. Wir brauchen Arbeitsimmigranten, weil selbst dann, wenn im Moment noch ein Arbeitsmarkt­problem existiert, auf absehbare Zeit die Wirtschaft ohne zugewanderte Arbeitskräfte nicht mehr funktionieren kann. Wir brauchen zudem ausländische Investoren. Es gab eine inten­sive Diskussion darüber, warum die Direktinvestitionen in Deutschland zurückgehen. Und mancher führt dies zurück auf die zu hohen Lohnnebenkosten. Das mag auch ein Faktor sein. Aber wenn man nach New York fährt oder nach Washington und sich dort mit Industriellen und Wirtschaftsleuten unterhält, von denen viele einen jüdischen Hintergrund haben, und man fragt sie nach Direktinvestitionen in Deutschland, dann bekommt man die Antwort: „In Deutschland? Jetzt? Wo wieder Ausländer gejagt werden und wo wir Juden wieder Angst haben müssen?“ Wenn wir nicht daran arbeiten, unser Klima der Toleranz und der Weltoffenheit zum Standard in dieser Gesellschaft zu machen, dann werden wir zunehmend Schwierigkeiten bekommen, die ausländischen Investitionen ins Land zu holen, die wir brauchen. Und ohne diese Direktinvestitionen wird es schwierig sein, die Arbeitsmärkte zu stabilisieren. Und deshalb haben die rechten Rattenfänger, die da die These verbreiten, Ausländer nehmen uns Arbeitsplätze weg, nicht nur bezogen auf die Arbeitnehmerseite Unrecht. Sie haben auch Unrecht bezogen auf die Kapitalseite, denn es ist ihr brauner Spuk, der Investoren davon abhält, nach Deutschland zu kommen. Und gerade im Sinne von Arbeitsmarktpolitik ist es deshalb notwendig, dass wir diesem Spuk ein Ende machen.

Aber wir brauchen Zuwanderung nicht nur aus ökonomischen Gründen, wir brauchen es auch aus kulturellen Gründen. Ich weiß ehrlich gesagt bis heute nicht, was eine deutsche Kultur ist. Ich weiß nur, dass die Kultur unserer Bevölkerung wie die Kultur aller Nach­barbevölkerungen sich zusammensetzt aus einer Vielzahl von Quellen. Schauen Sie sich an, inwieweit das Ausland, andere Völker, andere Bevölkerungen, uns kulturell beeinflusst haben. Nehmen Sie die Medizin, nehmen Sie die Mathematik, nehmen Sie regionale Einflüsse der Architektur, nehmen Sie unsere Schrift – die meisten Grundlagen dafür stammen aus dem Orient, aus den Gegenden, aus denen nun viele Immigranten zu uns stossen. Wir können mit Recht stolz sein auf unsere abendländischen westlichen Werte, und wir sollten für diese offen einstehen. Aber wir sollten uns auch bewusst sein, dass in anderen Regionen und in anderen Kulturen ebenso ernsthaft an humanistischen Menschenbildern und am menschlichen Fortschritt gearbeitet wird. Wenn wir stolz sind auf unsere Kultur, dann muss uns bewusst sein, dass sie auf den besten Erbschaften vieler anderer Kulturen fußt. Diese Erkenntnis fordert eine Konsequenz: Wir dürfen nicht zusehen, wie ein Bruch zwischen den Kulturen entsteht, wir dürfen nicht zusehen, wie dieser Bruch vertieft und verbreitert wird, wir brauchen einen Dialog der Kulturen, einen Dialog, der die besten Erbschaften der verschiedenen Ausprägungen der Menschheit aufnimmt und zu einem humanistischen Menschenbild zusammenfügt. Wir brauchen den Kulturdialog. Wir tun dies, und dies ist ein systematischer Bestandteil etwa der Außenpolitik der Bundesregierung, aber als jemand, der dies selbst oft praktiziert. In Dialogen mit ausländi­schen Besuchern oder bei eigenen Auslandsreisen mache ich zunehmend die Erfahrung, dass immer dann, wenn ich Menschenrechtsprobleme anspreche, mir die Antwort entgegenschallt: „Kehrt doch erstmal vor der eigenen Haustür.“ Man kann kaum noch drüber reden über Fehlentwicklungen in anderen Ländern, ohne dass sofort geantwortet wird, und zwar zu Recht geantwortet wird: „Bei euch werden Ausländer ermordet. Auf der Straße bei uns werden keine Deutschen ermordet. Also ihr habt das Problem, nicht wir.“ Und deshalb sage ich, wenn wir glaubwürdig festhalten wollen an einer menschenrechts­orientierten Außenpolitik, dann ist es notwendige Konsequenz, dass wir die Menschen­rechtsprobleme im eigenen Lande lösen. Und die Jagd auf Ausländer ist ein Menschen­rechtsproblem. Man muss das so nennen.

Wir müssen die Hetze gegen Ausländer beenden, um der betroffenen Ausländer halber aber auch um unsere Selbstachtung willen. Wir müssen dies tun, um deutlich zu machen der Welt gegenüber und auch uns gegenüber, dass wir die historischen Lektionen begriffen haben. Der Holocaust ist keine historische Episode, die vorbei ist. Der Holocaust ist nach wie vor Mahnung. Er darf nicht vergessen werden. Er darf nicht verleugnet werden. Er darf nicht verdrängt werden. Die Erinnerung muss lebendig gehalten werden und sie muss des­halb lebendig gehalten werden, damit wir wach bleiben, damit wir uns bewusst bleiben, dass aus der Tiefe unserer Gesellschaft Tendenzen erwachsen können, die anknüpfen an das nationalsozialistische Gedankengut von damals. Die sogenannten Neonazis sind gar nicht besonders neo, sie sind schlicht Nazis. Und die wichtigste Lehre aus dem Holocaust ist die, dass es nie mehr organisierte Nazis in Deutschland geben darf.

Meine Damen und Herren, die Nazis haben eine ganz klare Strategie. Sie kämpfen auf drei Ebenen erklärtermaßen. Sie wollen die Straße erobern. Sie wollen die Parlamente erobern und sie wollen die Köpfe erobern. Richtig ist es deshalb, ihren organisierenden Kern, die NPD, zu verbieten. Aber wir sind uns alle bewusst, dass das Verbot der NPD nicht aus­reicht. Wir müssen den Kampf um die Straße, um die Parlamente und um die Köpfe auf­nehmen. Sie sind hier, um zumindest diesen Platz zu besetzen und diese Straßen zu besetzen. Und wir sind hier, um mit unserer Demonstration und Manifestation in Köpfe einzudringen. Und ich hoffe, dass diese Köpfe demnächst die richtigen Wahlentscheidun­gen treffen und dafür sorgen, dass diese braune Brut aus den Parlamenten abgewählt wird.

Und deshalb noch ein klares Wort zum Begriff der Toleranz. Gegenüber unseren ausländi­schen Mitbürgern sollten wir hier klar zum Ausdruck bringen: Ja zur Toleranz, ja zur Akzeptanz und ein herzliches Willkommen. Den Rechten gegenüber sagen wir genauso deutlich: Null Akzeptanz und null Toleranz.

Ich danke Ihnen.