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(Für die Website der „Initiative nazifreies Recht“  www.ich-bin-dafuer.org, 06. April 2016)

Das „Dritte Reich“ der Nationalsozialisten, der NS-Staat, war durch und durch ein Unrechtsstaat. Nach außen und nach innen. Verbrecherische Angriffskriege, Gräuel an der Zivilbevölkerung, der industrielle Massenmord an den Juden, Sinti und Roma, Vernichtungsaktionen gegen Schwule und Behinderte, Foltergefängnisse und Konzentrationslager für politische Gegner, Sklavenarbeit für Kriegsgefangene – die Menschheitsverbrechen der Nazis resultierten nicht nur aus Ideologie, Willkür und machtpolitischer Berechnung. Sie suchten sich Legitimation in einer der wichtigsten Errungenschaften der zivilisierten Welt, dem „Recht“. Gesetze, Kommentare, Anwälte und Gerichte sollten dem Wüten der Nazis den Anschein von Berechtigung verleihen. Juristen wurden zu tragenden Säulen des NS-Staates.

Heute, über sieben Jahrzehnte nach dem Ende der Nazi-Herrschaft, wissen wir, dass das Jahr 1945 nicht nur Befreiung brachte, nicht nur den Bruch mit der Organisation des Bösen, nicht nur die Einführung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. In vielen, zu vielen Bereichen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gab es Elemente von Kontinuität. Angeblich mangelnde personelle Alternativen, Weißwäscherei durch halbherzige Entnazifizierung, der heraufziehende Kalte Krieg, das Sonderangebot zur Verdrängung in den Verheißungen des Wirtschaftswunders verhinderten den kategorialen Bruch mit dem Unrecht des Nazi-Systems. Juristen, die – wie die Ankläger in den Auschwitzprozessen – der historischen Gerechtigkeit zum Durchbruch verhelfen wollten, sahen sich heftigsten Anfeindungen durch Organe und Agenten auch des Justizbetriebs ausgesetzt. Erst 2002 gelang es der rot-grünen Bundesregierung, gegen harten Widerstand der Konservativen, Deserteure zu rehabilitieren, die sich der Angriffsmaschinerie der Wehrmacht entzogen hatten, verurteilt und hingerichtet worden waren.

Erst ab Mitte der 1960er Jahre kam es – unter dem Druck der nachwachsenden Generation – zur allmählichen, dann aber recht intensiven Aufarbeitung der grauenhaften Ereignisse. Seit einigen Jahren nun hat sich eine Reihe von staatlichen Institutionen, Unternehmen und Verbänden der eigenen Vergangenheit gestellt und bemerkenswert offene und gründliche Analysen ihrer Funktion und ihres Wirkens im NS-Staat vorgelegt. Zu den Berufsständen, die sich bis heute weithin weigern, ihre Vergangenheit zu durchleuchten, gehört die Justiz. So mancher schmissige Jurist immunisierte sich und seinen Berufsstand mit dem Hauptsatz der politischen Verdrängung: „Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein.“

Man könnte über derlei Ignoranz achselzuckend hinweggehen, wenn wenigstens die juristischen Inhalte und Denkmuster der NS-Zeit restlos beseitigt wären; wenn die Gesetzbücher bereinigt, die Kommentare vernichtet, die Urteile revidiert, die überfällige Große Strafrechtsreform vollendet wären. Wenn nicht führende Nazi-Juristen in der jungen Bundesrepublik höchste Positionen in Ministerien und obersten Gerichten besetzt hätten. Wenn nicht oberste Gerichte in der Diktion nazistischer Rassenlehre „Recht“ gesprochen hätten, das oft bis heute fortwirkt:

„Sie neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien, es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe zur Achtung von fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb zu eigen ist.“…

…“urteilte“ im Januar 1956 der Bundesgerichtshof über die Volksgruppe der Sinti und Roma und schürte so Ressentiments und Vorurteile. Erst 60 Jahre später entschuldigte sich die Präsidentin des BGH für das Unrechtsurteil ihrer Vorgänger. Voller Scham veranstalteten die amtierenden Spitzenjuristen nun mit Vertretern der Sinti und Roma ein Symposium zur Aufarbeitung des Rassenwahns und seiner Auswirkungen bis in die heutige Zeit.

Nationalsozialistisches Unrechtsdenken wirkt bis heute in unseren gesellschaftlichen Alltag hinein. Das benannte Beispiel ist markant, aber beileibe kein Einzelfall. Es steht eher symptomatisch für einen Problemkomplex, der für alle, die bewusst und gezielt hinschauen, erschreckende Dimensionen aufweist. Noch immer ist unser Rechtssystem, oft subtil, durchdrungen von Elementen des NS-Unrechts. Jeder kann davon betroffen sein. Juristen, die damit permanent zu tun haben, ohnehin. Viele kennen die Ursprünge von Gesetzen nicht, mit denen sie täglich umgehen. Doch wer sie kennt, muss sich zähneknirschend trotzdem daranhalten. Sie sind geltendes Recht.

Die aufklärerische politische Diskussion seit Ende der 1960 Jahre hat ein bemerkenswertes Motto kreiert: „Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“ Der Widerstandsbegriff mag heute zu hoch gegriffen sein. Aber die Verpflichtung, die NS-Elemente in unserem heutigen Recht zu identifizieren und zu tilgen, besteht allemal. Denn es hat den Anschein: an der Rechtsfront hat Hitler den Krieg noch nicht verloren.