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(offener Brief an die Vorsitzenden von Bündnis90/Die Grünen zu ihrem t-online-Kommentar zu 30 Jahre Wiedervereinigung, 5. Oktober 2020)

Liebe Annalena, lieber Robert,

„Wunderbar“, dachte ich, als ich wie jeden Morgen t-online las, „meine Parteivorsitzenden schreiben eine kritische Würdigung der Wiedervereinigung“. Vieles fand ich an Eurer Einschätzung zunächst richtig. Allerdings fielen mir dann ein gravierender Fehler und ein Widerspruch auf, die dem Text letztlich einen schalen Beigeschmack geben.

In der Wendezeit haben die Grünen sich unter Irrungen und Wirrungen offiziell und mit ihrer übergroßen Mehrheit an den Ideen der Bürgerrechtler zur Neugestaltung der DDR und einer deutsch-deutschen Annäherung auf Basis des Art. 146 GG einschließlich eines gemeinsamen Verfassungsprozesses orientiert. Und wie die Bürgerrechtler sind die Grünen von den tatsächlichen Entwicklungen überrollt worden. Den Bürgerrechtlern sei nach dem Scheitern ihrer Vision der Beitritt nach Art. 23 GG lieber gewesen als das Fortbestehen der alten DDR-Despotie, schreibt Ihr. Richtig. Dass dies bei „linken“ Grünen anders gewesen sei, sie also eine Diktatur bevorzugt hätten, ist jedoch eine üble Verleumdung. Einzelne linke Hardliner, bei denen das der Fall gewesen sein mag, wurden von der Mehrheit der Partei-Linken abgedrängt. Einige Partei-Linke, die auf einen Sozialismus a la Gorbatschow in einer renovierten SED spekulierten, traten bald aus und begegnen uns heute als Koalitionspartner in der Links-Partei. Die allermeisten Grünen, die sich als links verstanden, und das wiederum waren die meisten Grünen, stammten aus einer undogmatischen, „alternativen“ Szene, hatten mit der DDR nichts im Sinn, bekämpften deren politische BRD-Ableger an Unis und in der Friedensbewegung und organisierten die Solidarität mit Wolf Biermann und Rudolph Bahro. Sie mussten aber bereits damals die von einigen Bürgerrechtlern insinuierte Gleichsetzung DDR=Stalinismus=Diktatur=links=linke Grüne über sich ergehen lassen und haben dann trotzdem die Fusion der Grünen mit den Bürgerrechtlern gemanagt oder mitgetragen. Und heute solch ein déjà vu!

Nicht nur Petra Kelly, die sich übrigens auch als undogmatisch „links“ empfand, und ihr engerer Kreis unterhielten intensive Kontakte zur DDR-Opposition. Antje Vollmer pflegte enge Beziehungen zu Kirchenleuten, die versuchten, in den komplizierten Widersprüchen zwischen System und Lebenswelt zu vermitteln. Linke aus dem Bundesvorstand wie Jürgen Meier schmuggelten Drucker und Kopierer zu oppositionellen Öko-Gruppen wie der Umweltbibliothek. Viele Bürgerrechtler wollten jedoch (offensichtlich bis heute) nicht wahrhaben, dass die Ökos, die zum Kern der DDR-Grünen wurden, Oppositionelle waren. Für Westberliner Linke gehörte der Austausch mit der linken (!) Opposition gegen die SED, die es auch gab, zur tagtäglichen Arbeit – besonders intensiv ein Jahr vor dem Mauerfall während des Weltfinanzgipfels in West-Berlin. Und für linke Studenten aus der BRD war es Ehrensache, bei jedem Besuch in Ost-Berlin kritische Literatur einzuschmuggeln. Bärbel Bohley war das bekannteste Gesicht der Bürgerrechtler. Einen Alleinvertretungsanspruch aber können sie und ihre Freunde nicht beanspruchen. Bei der Vereinigungsfeier am 3.10.1990 übrigens hatte Petra Kelly eine heftige Auseinandersetzung mit ihrer Freundin Bohley, weil diese nicht den Grünen, sondern der CDU beitreten wollte. Bürgerrechtler sahen sich quer zu den westdeutschen Parteien, der Kreuzungspunkt mit den Grünen war nicht sehr großflächig; heute finden sie sich überall – von der Links-Partei bis zu Pegida und AfD.

Wenn Ihr schon Namen nennt, warum dann nicht konsequent: Der zitierte fatale Wahlkampfslogan „Alle reden von Deutschland, wir reden vom Wetter“ kommt nicht von Linken, sondern ist von eben dem grünen Bundesvorsitzenden zu verantworten, der später als neo-konservativer Ko-Chef der Heinrich-Böll-Stiftung das Thema Demokratie und Menschrechte gegen die soziale Frage ausspielte, nachdem ihm bis spät in die 1970er Jahre als Anhänger von Mao und Pol Pot Massenmorde nicht blutig genug sein konnten. Nach der Wende war es für einst militante Maoisten ein leichtes, ihre eingeübte Stoßrichtung gegen den „Sowjetimperialismus“ pro-westlich zu wenden und sich – inclusive eines ausgeprägten Renegatensyndroms – als Schutzmacht osteuropäischer Bürgerrechtler zu gerieren. Ich könnte weitere Namen nennen. Auch Erpressbarkeit durch unseren Großen Bruder wäre in diesem Zusammenhang ein Thema.

Soweit zu den Fehlern in Eurem Text. Und nun der Widerspruch. Ihr beklagt zu Recht die nachlassende gegenseitige Neugier, das schwindende Verstehen wollen, die sich verhärtenden Stereotype. Aber – das ist der Duktus Eures Textes – Ihr lastet diese Fehlentwicklungen, was den grünen Anteil angeht, wieder einer angeblich „linken“ Borniertheit in den Wendejahren an. Als damaliger grüner Parteivorsitzender, der die Fusion mit Bündnis 90 gemanagt hat, kann ich Euch versichern: die gab es vereinzelt tatsächlich, aber sie gab es genauso oder noch stärker bei den rechtschaffenen, bodenständigen Ökos im Südwesten der Republik, die ihr beschauliches Stillleben nicht gegen eine Wild-0st-Perspektive eintauschen wollten. Ich hätte die Kooperation mit politischen Kräften aus der ehemaligen DDR breiter angelegt, nicht eng begrenzt auf den bekannten Teil der Bürgerrechtler. Sie waren einfach zu wenige, um in die Tiefe der ostdeutschen Gesellschaft zu wirken und repräsentierten mitnichten die breiten Montagsdemonstrationen. Durchgesetzt hat sich allerdings die enge Variante. Dies – und nicht „linke“ Borniertheit – führte dazu, dass ein intensiver deutsch-deutscher Dialog von grüner Seite ausblieb. Der bekannte Bürgerrechtler Wolfgang Ullmann, später für uns MdEP, sah das übrigens genauso – leider ist seine kluge und versöhnende Stimme zu früh verstummt. Genaueres lässt sich in meinem Buch zur grünen Geschichte nachlesen.

Es ist fatal, dass Ihr offensichtlich nur mit der von der Böll-Stiftung selektierten und geförderten Nomenklatura geredet habt. Gegenüber all den linksalternativen Grünen, die in den 1970er und -80er Jahren verhöhnt, bespuckt und verprügelt wurden, als sie die Grünen als Partei aufgebaut und die Basis für Eure heutigen Erfolge gelegt haben, ist Euer Text geradezu beleidigend. Die von Euch zurecht geforderte gemeinsame deutsch-deutsche Geschichtsschreibung sabotiert Ihr durch Verkürzungen und Verdrehungen leider selbst, bevor sie begonnen hat. Ich wähle trotzdem grün – nicht wegen Deutschland, sondern wegen des Klimas.