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(Nach dem Fall der Mauer gab es bei den Grünen positive Grundsatzbeschlüsse zum zukünftigen Zusammengehen mit den Bürgerbewegungen der auslaufenden DDR, die ich mit herbeigeführt hatte. Als Parteivorsitzender ab April 1991 gab ich als strategisches Ziel den Wiedereinzug in den Bundestag 1994 aus. 1990 waren die West-Grünen an der 5%-Hürde gescheitert; ein erneutes Scheitern hätte den endgültigen Exitus bedeutet. Als die Beratungen innerhalb und zwischen den potenziellen Partnern sich monatelang ohne konkrete Schritte hinzogen, sah ich das strategische Ziel gefährdet. Deshalb präsentierte ich am 01. Dezember 1991 ein „Memorandum“, das die Gründe für die Stagnation analysierte, ohne um den heißen Brei herum zu reden. Der Text brachte mir viele Feinde ein: bei Grünen, die glaubten, ein paar angebotene Pöstchen würden die Bürgerrechtler schnell eingemeinden; bei Bürgerrechtlern und Grünen, die ein Zusammengehen eigentlich gar nicht wollten; bei Grünen, die den Bürgerrechtlern affirmativ nach dem Munde redeten; bei Bürgerrechtlern, deren großartige Ideen eines völlig neuen Deutschlands ich angesichts der realen Kräfteverhältnisse als illusionär charakterisierte. Letztlich schlug erst diese schonungslose Provokation ohne emotionale Emphase die Bresche für den Fusionsprozess zu Bündnis 90/Die Grünen. Sie weckte die Grünen aus ihrer Lethargie auf und gab den Realisten bei Bündnis 90 Rückenwind. Der Text ist bisher unveröffentlicht.)

 

Die GRÜNEN und das Bündnis 90 – Perspektiven und Probleme einer Annäherung

  1. Entmischung, Neuformierung und Kooperationsbeziehungen

Die deutsche Einigung hat Bewegung in die Parteienlandschaft von DDR und alter BRD gebracht. Während CDU/CSU, SPD und FDP eine rasche Einverleibung ostdeutscher Kräfte betrieben haben, die ih­nen nun so manchen Darmkatarrh beschert, ist in den  grün-links-bürgerbewegten Spektren ein Um­gruppierungsprozess in Gang gekommen, der noch nicht abgeschlossen ist. In diesem sich wandelnden Feld eine neue Position zu finden und die Rückkehr in den Deutschen Bundestag zu schaffen, haben die GRÜNEN als strategisches Ziel der kommenden Jahre definiert.

Sowohl die ehemaligen DDR- und West-GRÜNEN, als auch nach dem Zusammenschluss die gesamtdeutschen GRÜNEN haben auf ihren Bun­desversammlungen 1990 und 1991 offiziell ihre Absicht erklärt, mit den Bürgerbewegungen der ehemaligen DDR eine gemeinsame parlamen­tarische Perspektive anzustreben. Der Bundesvorstand hat diese Ab­sicht öffentlich bekräftigt und zur Leitlinie seines Handelns ge­macht. In der Folge innerparteilicher Entscheidungsprozesse haben sich Gruppen abgespalten, die als „ökologische Linke“ oder „Alter­native Liste“ eigene Wege gehen. Einige Mitglieder haben sich Richtung PDS abgesetzt. Einige andere sind zum neugegründeten Bündnis 90 übergetreten.

Auf Seiten der Bürgerbewegungen sind die Aussagen zur Zusammenar­beit mit uns unterschiedlich. Die Bewegungen haben sich an den Fragen der Parteigründung, der parlamentarischen Strategie und der Zusammenarbeit mit uns entmischt und ordnen sich neu. Am 21. September 1991 hat sich in Potsdam das „Bündnis 90“ als Partei mit bundesweitem An­spruch gegründet. Die Parteiform wurde dabei als unvermeidbares Übel definiert. Beschluss leitend waren die Bestimmungen des Eini­gungsvertrages, der den Bürgerbewegungen bis zum 3. Oktober 91 die Er­klärung abverlangte, ob sie Partei im Sinne des Parteiengesetzes werden wollten. Nur für diesen Fall konnten sie weiterhin Wahl­kampfkostenerstattung und Abschläge auf zukünftige Wahlkämpfe er­halten. Die Bürgergruppen sahen sich auf diese Finanzierung ange­wiesen. Zudem sollte der Zusammenschluss die Arbeitsstrukturen ver­einfachen und effektivieren. Die neue Partei hat derzeit etwa so viele Mitglieder wie unsere Ost-Landesverbände. In den alten Bundesländern haben sich bisher keine stärkeren Gliederungen gebildet. Es gibt aber mehrere lokale Initiativen.

Das Spektrum der Partei Bündnis 90 ist nicht deckungsgleich mit dem bürgerbewegten Teil der gleichnamigen Bundestagsgruppe. Zwar sind die „Initiative für Frieden und Menschenrechte (IFM)“ und die Gruppe „Demokratie Jetzt (DJ)“ vollständig darin aufgegangen; das „Neue Forum“ hingegen hat sich an dieser Frage gespalten; der kleinere Teil ist dem Bündnis 90 beigetreten, der größere existiert unter altem Namen weiter. Der „Unabhängige Frauenverband (UFV)“ hat sich an der Gründung nicht beteiligt und arbeitet als nicht parteigebundener Verband weiter. Die „Vereinigte Linke (VL)“ gehört dem Bündnis ebenfalls nicht an. Mitglieder von UFV und VL arbeiten auf individueller Ebene in Fraktionen/Projekten von Bündnis 90/GRÜNE oder PDS mit. Der BuVo hat die Gründung des Bündnis 90 begrüßt, weil er sie als Chance interpretierte, den Zerfallsprozess der Bürgerbewegungen aufzuhalten. Dass der Zusammenschluss formal Parteicharakter trägt, bedarf einer genaueren Bewertung.

Das Bündnis 90 hat als Ganzes noch keine offizielle Erklärung ab­gegeben, mit uns für die Bundestagswahl 1994 eine gemeinsame Kan­didatur anzustreben. Wichtige RepräsentantInnen haben sich öffentlich unterschiedlich und mit deutlichen Nuancierungen geäußert. Einige haben das Zusammenwachsen mit uns zur einzig realistischen Per­spektive erklärt; andere formulieren mehr oder weniger deutlich ihre Vorbehalte. In privaten Gesprächen stellt sich der Bezug auf uns oft positiver dar als bei öffentlichen Verlautbarungen.

Auf Landesebene ordnet sich das Verhältnis von GRÜNEN und Bündnis 90 sehr unterschiedlich. Es reicht von einer Fusionspartei (Sach­sen) über gemeinsame Landtagsfraktionen (Thüringen, Sachsen-Anhalt, Berlin) bis zu Kon­kurrenz und Gegnerschaft (Brandenburg). Auf Kreisebene wiederum gibt es alle nur denkbaren Konstellationen fraktioneller Zusammenarbeit der Bürgerbewegungen, angefangen mit den GRÜNEN über Umweltverbände und Bürgerinitiativen bis hin zu SPD und CDU. Die vielfältige und unübersichtliche Lage ist Resul­tat von Entmischungsprozessen in der Bürgerbewegung selbst und der Konfliktgeschichte zwischen Bürgerbewegungen und GRÜNEN im Zusammenhang von Bundestags- und Landtags­wahlen.

Die ost-grünen Landesverbände sind nach unserem Verständnis unsere genuinen Untergliederungen, auch wenn es noch Integrationsprobleme gibt und so manche Alt-Grüne sich an den neuen Zustand nur schwer gewöhnen können. Die im Herbst 1989 in der DDR entstandene Grüne Partei hat auf demokratische Weise autonom das Zusammengehen ihrer Landesverbände mit den West-GRÜNEN vollzogen (Ausnahme Sachsen) und sind nicht nur deshalb – entgegen einigen Stimmen aus dem Bündnis 90, die unseren Ost-Landesverbänden die Legitimation absprechen wollen, weil sie Westgeschöpfe seien – gleichberechtigte Landesverbände mit spezifischer, historisch gewachsener Identität.

Eine spezielle Situation hat sich in Sachsen ergeben. Dort haben sich die GRÜNEN und das Bündnis 90 zu einer eigenständigen Fusi­onspartei zusammengeschlossen. Diese definiert sich nicht als Lan­desverband einer der beiden Parteien, fühlt sich aber beiden asso­ziiert. Sie hat ihren Willen erklärt, an der Bildung einer gemein­samen Formation von GRÜNEN und Bündnis 90 auf Bundesebene mitzu­wirken. Dies bedeutet: wir haben z.Zt. in Sachsen keinen eigenen Landesverband. Die sächsische Formation ist formell eine eigen­ständige Partei. Wir haben ihr Beobachterstatus für Bundesversamm­lung und Länderrat eingeräumt.

Die Teile der Bürgerbewegungen, die dem Bündnis 90 nicht beigetre­ten sind, verhalten sich strategisch indifferent. Es gibt Versuche von Kräften aus Neuem Forum und VL, mit abgespaltenen Ex-Grünen und dem Reformerflügel der PDS über die Möglichkeit einer gemeinsamen neuen Linkspartei ins Gespräch zu kommen. Wohin die Dynamik in diesem außerparlamentarischen Spektrum der Bürgerbewegungen führt, bleibt abzuwarten. Die zwischen den GRÜNEN und diesem Spektrum bestehenden Kontakte wurden vom Bundesvorstand nicht abgebrochen, gestalten sich aber kompliziert.

 

  1. Bisherige Kontakte zum Bündnis 90

Der Bundesvorstand hat sofort nach der Wahl der SprecherInnen und verstärkt nach seiner Komplettierung den Kontakt zu den Arbeitse­benen der Bürgerbewegungen gesucht. Die Einladung an die Bundes­tagsgruppe Bündnis 90/Grüne zu einem Essen stieß jedoch nur auf mäßige Resonanz. Wir erhielten im Gegenzug eine Einladung zum Republiksprecherrat der Bürgerbewegungen in Berlin; dort wurde unser Besuch in einem kurzen Tagesordnungspunkt abge­handelt.

Mit unterschiedlicher Intensität wurden von allen Mitgliedern des Bundesvorstandes in der Folgezeit individuelle Kontakte zu wichtigen Repräsentan­tInnen der Bürgerbewegungen gepflegt. Zum Teil konnten lange be­stehende Dialogbeziehungen fortgesetzt werden. Einige Kontakte wiesen einen konkreten Projektbezug auf. Bundesvorstandsmitglieder nahmen als BeobachterInnen an mehreren politischen Versammlungen von Bür­gergruppen teil. Sie engagierten sich auch als VermittlerInnen zwischen GRÜNEN und Bürgergruppen auf Landesebene.

Beim Parteigründungskongress des Bündnis 90 in Potsdam war der Bundesvorstand sehr stark vertreten, hielt sich aber verabredungsgemäß im Hinter­grund. Wir dokumentierten in einem Grußwort ausdrücklich unseren Willen zur Zusammenarbeit. Einzelne Redner vom Bündnis 90 bezogen sich positiv auf uns; die Resonanz war insgesamt jedoch nicht ein­heitlich und wurde im Vorstand unterschiedlich interpretiert. Während wir in unseren internen Mitteilungsorganen (Kreisrundbrief) nicht nur unser Grußwort dokumentierten, sondern bewusst auch die positivste Stellungnahme von Bündnis 90-Seite, wurde im Organ des Bündnis 90 („Bündnis 2000“) unsere Rede nicht abgedruckt.

Zum ersten offiziellen Kontakt zwischen geschäftsführendem Vor­stand des Bündnis 90 und dem grünen Bundesvorstand kam es erst am 28.10.91 in Berlin. Bündnis 90 als Gastgeber hatte entgegen unserem Wunsch leider nur einen sehr knappen Zeitrahmen vorgesehen, dessen erbetene Ausdehnung aus terminlichen Gründen zu einer weiteren Verringerung der Teilnehmer auf Seiten des Bündnis 90 führte. Dieses Treffen verlief freundlich; es beinhaltete im Wesentlichen einen offenen allgemeinen Meinungsaustausch.

Der Bundesvorstand hat dem Bündnis 90 im Rahmen des ersten Gesprächs den Vorschlag gemacht, als gleichbe­rechtigter Träger die Reihe von Arbeitskonferenzen mitzugestalten, die er seit Wochen vorkonzipiert hat. Die Konferenzen sollen für die Entwicklung in den Neuen Ländern wichtige Themen behandeln wie die wirtschaftliche Situation, die soziale Lage der Frauen, Rechtsradikalismus und Ausländerfeindlichkeit, Verkehrs-, Energie- und Chemiepolitik und die Neuordnung Europas angesichts der Umwäl­zungen in Osteuropa. Wir setzen mit diesem Konzept den Wunsch der letzten Bundesversammlungen um, uns schwerpunktmäßig um die Probleme der Neuen Länder zu kümmern. Wir verfolgen die konkreten Ziele, die Zusammenarbeit zwischen West- und Ost-GRÜNEN zu intensivieren, In­itiativen in West und Ost miteinander zu vernetzen, zu dokumentie­ren, dass sich die GRÜNEN dieser überaus wichtigen gesellschaftspolitischen Aufgabe stellen; gleichzeitig sollen die Konferenzen die Zusammenarbeit mit dem Bündnis 90 stimulieren und eine gemein­same inhaltliche Basis ausloten helfen. Sie sollen durch systema­tische PR-Arbeit begleitet werden.

Der Vorstand von Bündnis 90 hat nach Beratung einer Mitbeteiligung zugestimmt und zusätzliche Vorschläge für Tagungsthemen gemacht. Die praktische Arbeit soll über seine Landesvorstände laufen. Bei der wirtschaftspolitischen Tagung hat die Kooperation bereits praktisch stattgefunden. Wo die Vorarbeit durch uns noch nicht so weit gediehen ist, wie es dort der Fall war, stehen sich zum Teil sehr unterschiedliche Konzepte gegenüber, die sich aus den unterschiedlichen Haltungen zu politischen Zeitabläufen, zur Beteiligung der Öffentlichkeit, dem Verhältnis von Konsens und Konflikt, aber auch aus der unterschiedlichen Durchdringung der einzelnen Themen herleiten.

Da die Veranstaltungen in den Neuen Ländern stattfinden sollen und zum Teil auch aus dem grünen Sonderetat „Aufbaufond Ost“ mitfinan­ziert werden müssen, kommt der aktiven Zustimmung der grünen Ost-Landesverbände große Bedeutung zu. Hier gibt es im Prinzip eben­falls eine Zustimmung zum Tagungskonzept; abgelehnt wurden die Teile der vorgeschlagenen PR-Arbeit, die überdimensioniert erscheinen. Einzelne Landesverbände lehnen die PR-Konzeption überhaupt ab, wenn dort GRÜNE und Bündnis 90 gemeinsam erscheinen. Die im Kontext der Arbeitskonferenzen vorgesehenen Mitgliederwerbekampagnen von GRÜNEN und Bündnis 90 sollen nach allgemeiner Meinung strikt getrennt betrie­ben werden. Nach Auffassung des BuVo bedeutet eine gemeinsame Trägerschaft auch eine finanzielle Beteiligung des Bündnis 90 an den Kosten der Veranstaltungsreihe.

Wir haben beim ersten Vorständetreffen zudem angeregt, den Kontakt zu institutionalisieren und zu verstetigen. Es soll – unter Betei­ligung auch der Sachsen – eine kleinere gemeinsame Koordinations­gruppe gebildet werden, die auf der Arbeitsebene den Prozess organisiert und die anstehenden Fragen sondiert; die Entscheidungen liegen natürlich bei den Gesamtvorständen. Darüber hat das Bündnis 90 noch nicht befunden. Zur Verbesserung der Information haben wir uns darauf verständigt, unsere Mitgliederzeitungen gegenseitig zu versorgen und den gesamten Prozess für die Mitglieder transpa­rent zu gestalten. (Auch deshalb dieses Memorandum)

Im Vorfeld des Treffens gab es unsererseits Versuche, Bündnis 90 für eine gemeinsame Trägerschaft der bundesweiten Demonstration gegen Ausländerfeindlichkeit am 9. November 1991 in Berlin zu gewinnen. We­sentliche Gruppen des Bündnis 90 hielten eine solche Demonstration aber für unproduktiv, solange nicht auch die CDU (Geißler, Weiz­säcker, Kohl) teilnehme. Sie befürchteten eine stärkere gesell­schaftliche Polarisierung und sahen nicht die Chance, mit dieser Ak­tion die Menschen in den Neuen Ländern anzusprechen. Die Bündnis 90-Gruppe Berlin und Einzelpersonen trugen die Demo allerdings mit. Die Diskussion über die Demo beim Vorständetreffen machte erstmals an einem praktischen Beispiel die Differenzen in den Politikansätzen deutlich.

 

  1. unterschiedliche Politikkonzepte

Wir streben die Zusammenarbeit mit dem Bündnis 90 aus mehreren Gründen an. Nach wie vor vertreten wir die Auffassung, dass die wichtigsten Kräfte des Umsturzes in der DDR auf der höchsten par­lamentarischen Ebene vertreten sein sollen.

Das wahlarithmetische Motiv ist das vordergründige, aber auch zwingende: Wir GRÜNEN sehen den Wiedereinzug in den Bundestag als unabdingbare Voraussetzung für ein langfristiges Fortbestehen als ernstzunehmende politische Kraft an. Gemeinsam mit dem Bündnis 90 werden wir die 5%-Hürde mit großer Wahrscheinlichkeit schaffen; das Bündnis 90 allein schafft sie auf keinen Fall; die GRÜNEN al­lein vielleicht, aber wahrscheinlich nicht bei Gegenkandidatur des Bündnis 90.

Das wichtigste Motiv aber ergibt sich aus dem sehr ähnlichen Wer­tehintergrund. Auch wenn die Geschichte von West-GRÜNEN und Bürger­rechtsgruppen (und Ost-GRÜNEN) nicht direkt vergleichbar ist, haben beide in ihren Gesellschaften und politischen Systemen eine Rolle gespielt, die sie zu authentischen Verbündeten macht. Unsere Grundwerte Ökologie, soziale Gerechtigkeit, radikale Demokratisie­rung, Gewaltfreiheit und Emanzipation der Frauen werden mit unter­schiedlicher Gewichtung geteilt. Bündnis 90 legt dabei sein Haupt­augenmerk auf die Demokratisierung; auch die soziale Frage ran­giert sehr hoch. Ökologie wird als wichtig eingeschätzt, ein Vorrang aber wird abgelehnt. Emanzipationsfragen werden nicht intensiv verfolgt. Gewaltfreiheit ist selbstverständlich.

Thematisch konzentriert sich Bündnis 90 deshalb schwerpunktmäßig auf innen- und sozialpolitische Probleme. Im Vordergrund steht zum einen die Aufarbeitung der Stasi-Machenschaften. So wichtig und dringlich dieses Thema ist, muss doch die Frage gestellt werden, wie lange es noch aktuell sein wird. Zum anderen wird die Verfassungsdiskussion favorisiert. Obwohl deren Notwendigkeit ebenso unabweisbar ist, scheint sie bei allem Bemühen keine größeren öffentlichen Kreise zu erfassen. Ob dieses Thema zur Eigenprofilierung tragfähig ist, muss deshalb ebenfalls bezweifelt werden. Was die soziale Frage angeht, die insbesondere von den ehemaligen Mitgliedern des Neuen Forums bearbeitet wird, ist ein Thema vorhanden, in dem offensichtliche fachliche Kompetenz und Glaubwürdigkeit mit einer praktischen Verankerung in der Alltagswelt der Neuen Länder zusammenfallen. Von hier aus führen Stränge sogar in den betrieblichen Bereich – ein Sektor, bei dem wir GRÜNEN immer schwach geblieben sind. Das Verhältnis von sozialer und ökologischer Frage – bei uns GRÜNEN in den letzten Jahren ein bevorzugtes Streitthema – ist beim Bündnis 90 noch nicht beantwortet.

Auf der Ebene unterhalb der Grundwerte, der der Politikkonzepte, gibt es sehr deutliche Unterschiede zu uns. Sie sind bei den verschiedenen Ak­teuren nicht gleich stark ausgeprägt; ob sie ein Zusammengehen mit uns eher befördern oder behindern, ist davon abhängig, wer sie wie vertritt.

Es lassen sich in dieser Beziehung im Groben drei Strömungen un­terscheiden. Die erste will ihre Auffassungen ohne jede Gefahr der Dogmatisierung als Diskussions­beitrag, der angenommen oder widerlegt werden kann, in einen ge­meinsamen Prozess mit uns einspeisen. Sie will möglichst schnell und umstandslos mit uns zusammengehen. Dagegen artikuliert sich eine Strömung, die einer Zusammenarbeit eher ablehnend gegenübersteht. Sie beharrt axiomatisch auf dem eigenen Politikansatz und erwartet von unserer Partei, dass sie sich in ihrem Sinne völlig umkrempelt, bevor sie mit uns zusammengehen kann. Ein prominentes Mitglied dieser Strömung lässt keine Gelegenheit aus, um uns in der Öffentlichkeit zu diskreditieren; der Bundesvorstand antwortet bewusst nicht auf dieser Ebene. Die dritte Strömung nimmt eine mittlere Stellung ein. Sie betont den eigenen Ansatz ebenfalls sehr stark und verbindet das Angebot zur Zusammenarbeit mit `erzieherischen Maßnahmen‘: die GRÜNEN sind chaotisch; sie müssen ihre Politikfähigkeit dadurch beweisen, dass sie sich unseren Politikbegriff aneignen. Insbesondere die beiden letzten Gruppen werden stark umworben von (ehemaligen) West-Grü­nen, die sich mit ihren Auffassungen bei uns nicht durchsetzen konnten.

Einige Elemente des Politikbegriffs sind im Folgenden – zum besse­ren Verständnis in der pursten Variante – analysiert:

Die Zielperspektive von Bündnis 90 für die eigene Organisation ist eine andere als bei uns. Ihm kommt es darauf an, in Ruhe die eigenen Vorstellungen zu entwickeln und in die Gesellschaft zu tragen, ohne sich durch äußere Zwänge unter Druck setzen zu lassen. Da­durch konstituiert sich ein anderer Zeitbegriff. Termine und Daten werden als Eckwerte, an denen sich das Tempo von Politikentwick­lung orientieren muss, nicht durchgängig anerkannt. Das betrifft auch die Bundestagswahl. Sie wird eher als störend für den Selbst­findungsprozess und den Dialog mit uns empfunden und als entschei­dender Faktor für die Zeitplanung nicht akzeptiert. Zusammen mit gravierenden organisatorischen Problemen und noch nicht hinrei­chend entwickelten Entscheidungskompetenzen ergibt sich daraus ein Arbeitstempo, das eine Garantie für Rechtzeitigkeit in unserem Sinne nicht bieten kann. Termine mit dem grünen Bundesvorstand wurden in der Vergangenheit nicht als prioritär behandelt.

Die Negierung der für eine Partei bestimmenden Daten verweist auf ein anderes Parteiverständnis. Bündnis 90 sieht sich selbst nicht als Partei, sondern als Zusammenschluss von Bewegungen, der sich nur formal und notgedrungen die Parteiform gegeben hat. Dass die Parteiform eine bestimmte Wirklichkeit konstituiert, die durch das Parteiengesetz, das Wahlgesetz, die Verfassung vorgezeichnet ist und unabhängig von seinem oder unserem Willen wirksam ist, wird keine Bedeutung beigemessen. Hinweise auf die Gründungsphase der GRÜNEN, wo es ein ähnliches Verständnis gab, und unsere Lernpro­zesse werden wegen angeblicher Nichtvergleichbarkeit zurückgewiesen.

Ein Unterschied existiert in der Tat im dialektischen Begründungszusammenhang von Bewegung und Partei. Während sich die west-grüne Be­wegung gegen alle existierenden Parteien zur (Anti-Parteien)-Par­tei umformte und sich die ehemaligen DDR-Grünen aus bürgerbewegten Zusammenhängen heraus bewusst als Partei gegründet haben, ist das Verhältnis der Bürgerbewegten des Bündnis 90 zu Parteien bestimmt von den Erfahrungen gesellschaftlicher Macht einer Bewegung gegenüber staatstragenden und dennoch besiegbaren zentralistisch gesteuerten Einheitsparteien. Ihr Selbstbewusstsein ist geprägt von diesem  Erlebnis, als gesellschaft­liche Kraft, die diskriminiert und verfolgt worden war, plötzlich den Status zu besitzen, mit den Herrschenden an einem Tisch sitzen zu können. Und trotz der geradezu antagonistischen Vergangenheit der Bürgerbewegungen mit den Einheitsparteien und ihren Massenorganisationen gab es eine Verbundenheit in dem Ziel, die marode DDR nicht um­standslos an die BRD auszuliefern.

Diese Politik, die in einer nicht wiederholbaren historischen Übergangsphase von einem politischen System in ein anderes eine herausragende Funktion hatte, wird heute weithin ohne Ansehen der veränderten Umstände als anzustrebendes politisches Modell schlechthin vertreten. Der Runde Tisch ist das Symbol einer Bewegung, die die Gesellschaft grundlegend ändern wollte, ohne es zu Anarchie oder Gewalt kommen zu lassen. Er war in einer konkreten historischen Situation ein faszinierendes neues Demokratie-Element. Dieses geschichtliche Verdienst des Runden Tisches wird auch durch seine Vergänglichkeit nicht gemindert. Er war das Element einer Zeit, als die Einparteienherr­schaft beendet, der Parteienpluralismus aber noch nicht herge­stellt war.  Auf Dauer allerdings könnte das Delegationsprinzip, auf dem er fußte, als Legitimationsgrundlage für Volksvertretungen keinen Bestand haben. Ihn nun in ein klassisches Parteiensystem hineintragen und Parlamentarier herumgruppieren zu wollen, führt zwangsläufig dazu, das Kernelement des Parteienpluralismus, nämlich die Partei­enkonkurrenz wegzudenken. Parlamentarier als gewählte VertreterIn­nen konkurrierender Interessen werden negiert. Übrig bleiben bei dieser Herangehensweise nur noch politische Akteure mit unterschiedlichen individuellen Mei­nungen, mit denen der Dialog gepflegt werden muss. Die notwendige Unterstellung, dass dieser – nicht nur im Einzelfall, sondern sy­stematisch – gelingen können muss im Sinne wechselseitiger Mei­nungsänderung, führt – zurückübertragen auf die Parteienebene – zu der Vorstellung, politische Prozesse ließen sich in der Regel quer zu den Parteien organisieren.

Aus diesem Verständnis heraus gibt es eine Abneigung gegen eine grüne Politik, die andere Parteien als gegnerisch definiert und Konfliktstrategien einschlägt. Dies gilt als Mangel an „Real“-Po­litik. Deshalb können wir noch so „realistisch“ im Sinne unserer alten Auseinandersetzungen sein – dem Anspruch des Bündnis 90 wer­den wir nicht genügen, solange unsere Politik überhaupt konfronta­tiv und nicht dialogisch angelegt ist.

Aus einem solchen Politikverständnis konstituiert das Bündnis 90 seine politische Identität, ein Begriff, der zentrale Bedeutung hat. Grundbedingung für ein Zusammengehen mit uns muss die Wahrung der Identität sein. Die politische Identität wird durch die Biografie der Akteure ge­stützt, die ihre persönliche Wichtigkeit, ihre eigene Identität als Politiker oft in demselben historischen Kontext gewannen.

Die Identität wird ständig auf harte Proben gestellt. Während der diskursiven Herausforderung durch die GRÜNEN mit der selbstbewussten Betonung des eigenen Politikbegriffs als neuem Maßstab be­gegnet werden kann, sind die praktischen Erfahrungen im Bundestag schwerer mit dem eigenen Politikbegriff in Übereinstimmung zu bringen. Trotz der ständig betonten Bereitschaft zu fraktionsübergreifenden Initiati­ven genauso diskriminiert zu werden, wie es uns erging, nährt Zweifel an der Fiktion dialogischer Prozesse. Die Diskriminie­rungserfahrung kann ein größeres Verständnis für unsere Lernge­schichte bewirken.

Neue politische Erfahrungen gefährden stets Identitäten. Der abrupte Bruch mit der Identität, die Über­führung der Identität in eine andere und ein Festhalten an der alten mit der Folge von Dogmatismus, sind denkbare Formen der Verarbeitung.

 

4. Konsequenzen

4.1 Der Dialog mit dem Bündnis 90 muss weiter intensiviert, eine be­gonnene Zusammenarbeit ausgebaut werden. Objektiv bleibt die Frage offen, ob das Tempo des Annäherungsprozesses schnell genug ist, um rechtzeitig zur Bundestagswahl im Spätherbst 1994, besser noch zur Europawahl im Frühsommer 1994, eine vereinte Formation zu haben. Die Verhandlungen dürfen nicht bis in die Wahlkampfphase reichen, da durch die inneren Probleme nicht die Darstellungskraft und Kam­pagnenfähigkeit nach außen geschmälert werden darf. Das heißt: das Kooperationsmodell mit dem Bündnis 90 (und anderen) muss Ende 1992 stehen, damit die notwendigen Parteibeschlüsse auf der Bundesver­sammlung im Frühjahr 1993 gefasst werden können. Welcher Weg auch immer dort verabschiedungsreif ist, er muss bis zur Wahl konsequent weitergegangen werden.
Im Vorfeld muss daran gearbeitet werden, dass nicht Teile der beiden Parteien sich auf Modelle fixieren, die partei- oder wahlrechtlich ausgeschlossen sind. Ein vom Bundesvorstand in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten weist bestimmte Wege in diesem Sinne als theore­tisch ungangbar aus: so kann es keine Verbindung von zwei völlig voneinander unabhängig erstellten Wahllisten (Listenverbindung) geben. Auch das Modell, nach dem im Westen die GRÜNEN und im Osten das Bündnis 90 kandidieren (Modell CDU/CSU), scheidet aus, da jede der beiden Parteien bezogen auf die gesamte Bundesebene 5% der Stimmen oder drei Direktmandate erringen müsste – ein zumindest für Bündnis 90 unmögliches Unterfangen.
Auch die Wege, die theoretisch möglich sind, weisen eine Fülle von politischen und Machtbarkeitsproblemen auf. Welche Hürden übersprungen oder umgangen werden können, wird von der Tiefe des inhaltlichen Ver­ständigungsprozesse abhängen. Hier muss viel good will investiert werden; genauso wichtig aber ist die parteiinterne Verständigung darüber, wieweit die tolerierbaren inhaltlichen Spielräume gehen.

4.2 Der Beschluss unserer Bundesversammlung lautete auf Zusammengehen mit den Bürgerbewegungen. Der Plural umfasst mehr als die Gruppen, die sich nun zur Partei Bündnis 90 zusammengeschlossen haben. Der Ausdifferenzierungsprozess in der Gruppenlandschaft in den Neuen Ländern ist noch nicht abgeschlossen. Das heißt, unser Dialog mit dem Bündnis 90 darf andere Kontakte nicht ausschließen. Wir dürfen durch unser Verhalten nicht Prozesse katalysieren, die andere Gruppen zwingen, sich als weitere Partei gegen uns zu formieren. Bei den Bürgerbewegungen, die dem Bündnis 90 nicht beigetreten sind, wird es in den nächsten Monaten und Jahren Entwick­lungsprozesse geben, die es zumindest für wichtige Teile attraktiv machen könnten, doch noch mit uns zusammen Politik zu machen. Hier sollten wir gezielt Kontakte pflegen.

4.3 Der Bundesvorstand investiert viel Energie in den Dialog mit dem Bündnis 90. Dieser Prozess wird auch von der Öffentlichkeit wahrgenommen und kommentiert. Demgegenüber fühlen sich grüne Landesverbände in den Neuen Ländern vernachlässigt. Ih­nen erscheint das Agieren des Bundesvorstandes teilweise so, als sei das Bünd­nis 90 sein einziger Partner im Osten. Dies führt zu Rei­bungsproblemen bei uns selbst. In den Landesverbänden herrscht Un­klarheit darüber, dass der Bundesvorstand sie als authentische Bestandteile der Gesamtpartei sieht. Es muss klargestellt werden, dass der Vorstand nicht als Vertretung der GRÜNEN-West gegenüber dem Bündnis 90 als Formation-Ost handelt, sondern als Spitzenorgan einer Bundespartei gegenüber einer anderen Partei mit bundesweitem Anspruch. Die in manchen ost-grünen Kreisen herrschende Befürchtung, die Existenz eines grünen Landesverbandes in einem Neuen Land sei für den Bundesvorstand disponibel, ist grundlos.

4.4 Im Gegenzug zum Beharren des Bündnis 90 auf Identität mehren sich auch in unserer Partei die Stimmen, die auf ihre grüne Iden­tität pochen. Zahlreiche grüne Lan­desverbände im Westen verhalten sich gegenüber dem Dialogprozess mit dem Bündnis 90 nicht nur abwartend; es gibt Hinweise darauf, dass die Auseinandersetzung mit den Entwicklungen im Osten und den Problemen zukünftiger Zusammenarbeit teilweise geradezu ver­weigert wird. Die Signale reichen von flapsigen Sprüchen, wie man es denn machen sollte, bis zu Lippenbekenntnissen des Kooperationswillens.

Es hat sich bei den West-Grünen noch nicht im erforderlichen Umfang das Bewusstsein über den veränderten geographischen Raum unserer Politik, die damit verbundenen Zeitaspekte und den Komplexitätszuwachs durchgesetzt. Ein Beispiel ist die Weigerung der Landesverbände, die vom Bundesvorstand initi­ierte, finanzierte und mitorganisierte (sehr erfolgreiche) zen­trale Groß-Demonstration gegen Ausländerfeindlichkeit in Berlin auch nur minimal logistisch zu unterstützen; während der Bundesvorstand aus bündnispolitischen Gründen den grünen Beitrag zum Gelingen nicht betonen konnte, hätten von den Landesverbänden entsandte Teilnehmergruppen im wahrsten Sinne grüne Flagge zeigen können. Ein weiteres Beispiel ist das nervöse Ru­fen nach mehr Vorstands-Aktivitäten im Westen bereits kurz nach dem Beschluss, sich bevorzugt um die Entwicklung im Osten zu kümmern.

Es entsteht der Eindruck, dass sich diese Art der Verdrän­gung in die nur scheinbar positive Kultivierung der eigenen Landesebene wendet. Dahinter verbirgt sich das Missverständnis, eine grüne Landespartei könne sich abkoppeln und unabhängig von den Entwicklungen auf Bundesebene ihr politisches Schicksal defi­nieren. Es ist vielerorts noch nicht begriffen worden, dass ein erneu­tes Scheitern bei der nächsten Bundestagswahl aus politischen und finanziellen Gründen eine Auflösung der grünen Bundesebene und damit ein Scheitern des grünen Projektes über­haupt bedeuten würde.

Diese Mentalität in den Landesverbänden muss sich schnellstens än­dern. Dem Bundesvorstand die alleinige Verantwortung für das Ge­lingen der Kooperation mit den ostdeutschen Gruppen aufzubürden und ansonsten den lieben Gott einen frommen Mann sein lassen, wird der Aufgabe nicht gerecht. Auch das Schicksal der Landesparteien hängt davon ab, ob wir auf der Bundesebene ein praktikables Koope­rationsmodell hinbekommen. Die Chancen steigen mit der Intensität des grün-bürgerbewegten Ost-West-Dialoges. Zumindest den können die Landesverbände dezentral mitorganisieren. Und sie können eine rechtzeitige Meinungsbildung über die anstehenden weitreichenden Entscheidungen mit in Gang setzen. Material dafür zu liefern, ist Anliegen dieses Memorandums.

Bei aller Notwendigkeit, die Kooperation mit den Ost-Verbänden zu stärken, darf nicht übersehen werden, dass auch der Westen voller Probleme steckt und die Masse der Wahlstimmen dort geholt werden muss. Wenn der Bundesvorstand seine impulsgebende Serie von Arbeitskonferenzen im Osten zum Sommer hin abgeschlossen hat, werden wir uns verstärkt in den alten Ländern tummeln müssen.