(Begleittext zur Gründung der unabhängigen Basisbewegung „Aufstehen“ im Sommer 2018; erschienen in „Internationale Politik und Gesellschaft“, 16. August 2018; hier leicht redigiert)
Der Kapitalismus hat die Systemkonkurrenz gegen den „realen Sozialismus“ gewonnen, aber er ist nicht die Lösung für die Menschheit. Auch wenn konservative Philosophen im eskalierenden Neoliberalismus das Ende der Geschichte zu erkennen meinten. Dessen Globalisierung hat zwar einige Wirtschaftsdaten verschönert, Armut mancherorts abgemildert und cleveren Jungs die Taschen gefüllt. Doch die Art, wie er den Stoffwechsel der Gattung Mensch mit der Natur organisiert, zerstört den Globus, macht Lebenswelten zunichte und vertieft die ungleiche Verteilung von Wohlstand und Perspektiven – obszöne Geldvermehrung für wenige, Not und Abstiegsängste für viele, Klimawandel und Bienensterben für alle. Die forcierte Ausbeutung von Mensch und Natur bildet die ökonomische Leitkultur. Konflikte um knappere Ressourcen und Lebenschancen eskalieren zu Kriegen und Bürgerkriegen. In Gestalt von Flüchtlingsströmen und Scharen von Migranten, die auf ein besseres Leben hoffen, schlägt die Globalisierung zurück in die westliche Welt, den Ausgangspunkt der Verheerungen. Diese rüstet sich zu Festungen und schleift demokratische und zivilisatorische Errungenschaften, um des Ansturms Herr zu werden. Reaktionäre verteidigen mit der Keule die deutsche Scholle, Linksliberale werden nicht müde, „den Westen“ dennoch als die beste aller Welten zu preisen, während eine Kaste von verblendeten wie kleptokratischen Managern immer noch versucht, ihren Fehlentscheidungen und Betrügereien den Anschein von Vernunft zu verleihen.
Wo aber bleibt die Grundsatzkritik an der unheiligen Dreifaltigkeit von Geld, Militär und Mission, welche „die westliche Megamaschine“ (Fabian Scheidler) von Beginn an antrieb? Die politische Linke ist leise geworden und überlässt die Kritik der Moderne den Reaktionären – wenn nicht links-, dann eben rechtsherum. Den öffentlichen Diskurs bestimmt die gesellschaftliche Rechtskoalition von AfD und CSU. Einst stolze Sozialisten haben sich erst zu Sozialarbeitern zurechtstutzen lassen, die die großen Probleme klein arbeiten, damit keine Systemkrise entsteht und alles geschmiert weiterläuft. Heute zerfällt ihre SPD, weil ihre Alternativen zu kleinlich ausfallen. Einst fundamentalkritische Ökologen haben sich zu Hoffnungsträgern des konservativen Bürgertums hochloben lassen, das durch Greenwashing seine Schuld als ideologische Trägerschicht der Fehlentwicklungen vertuschen will. Die Grünen drohen zu Angela Merkels Zweitpartei zu mutieren; nicht mehr um die Bekämpfung struktureller Armut geht es dort, sondern um die Verschönerung bürgerlichen Lebens – Helmut Kohls Zweidrittelgesellschaft im postmodernen Outfit. Und die Partei Die Linke? Sie zerlegt sich – wie die Sozialisten der 20er Jahre – in biestigen Diskussionen zur nationalen Frage.
„Links“ wird von der öffentlichen Gegenaufklärung mit dem „real gescheiterten Sozialismus“ gleichgesetzt. Fälschlicherweise. Denn zumindest undogmatische, demokratische, libertäre Linke in aller Welt lehnten Sowjet- und SED-System, Kommandowirtschaft, Tonnenideologie, „demokratischen“ Zentralismus und seine repressiven Staatsapparate bis hin zum Gulag rigoros ab. Diese galten als irrige bis bösartige Verkehrung der eigentlich humanistischen sozialistischen Ideale. Lenin, Stalin und Mao in eine Reihe mit Marx und Engels zu stellen, war die größte diskursive Dummheit, die von Linken selbst begangen wurde. Dagegen hätten Rosa Luxemburg, Angela Davis, Petra Kelly und andere radikale Reformisten verdient, mehr als nur Ikonen historisierender Verehrung zu sein. Auch wenn der „Ostblock“ keine wirkliche Alternative war, seitdem er unterging, gibt es keine Diskussionen mehr über Systemalternativen zum westlichen Kapitalismus.
Dabei sind sie bitter nötig. Die größten Menschheitsverbrechen gingen von Europäern aus, nachdem sie die transozeanischen Seewege entdeckt hatten. Die Ausrottungsfeldzüge gegen die Hochkulturen Südamerikas dienten einzig dem Zweck, Schätze zur Finanzierung der europäischen Moderne zu rauben. Der Asien- und Afrika-Handel mit Gewürzen und Rohstoffen basierte auf Massenmorden und Unterjochung. Und – von der Geschichtswissenschaft bis vor kurzem wegretuschiert – wer im prosperierenden Europa verelendete oder diskriminiert wurde, wanderte nach Nordamerika aus, um – von den Heimatstaaten gebilligt – die dortige Bevölkerung zu betrügen, zu vertreiben, zu ermorden und versklavte Afrikaner ins Land zu holen. Liberty, der Freiheitsbegriff der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, spiegelte die völkermörderische Praxis der europäischen Kriegsunternehmer und Wirtschaftsflüchtlinge: Politische Teilhabe nur für diejenigen, die durch organisierten Betrug und tolerierte Gewalt Landbesitz erworben hatten. Diese Ideologie prägt bis heute politische Mehrheiten der „westlichen Führungsmacht“. Gewalt, Landnahme, Rassismus war ihr von Beginn an immanent.
Mit dem Sturz gewählter Regierungen, Kolonisierung und willkürlicher Grenzziehung hat der Westen, Ölinteressen folgend, den Nahen und Mittleren Osten ruiniert. Heute zerstört das liberale Europa durch Handels-, Kredit-, Agrar-, Fischerei- und Entwicklungspolitik die Ökonomien Afrikas. Die eskalierenden Krisen in den betroffenen Regionen werden mit Waffenlieferungen angeheizt. Massenflucht nach Europa bringt Arbeitskräfte, die, sklavenähnlich ausgebeutet, Öko-Gemüse für Supermärkte produzieren und Unternehmern erlauben, tarifliche Standards zu unterlaufen. Einheimische Arbeiter verzweifeln und driften nach rechts. Allzu leicht macht es das Talkshow-Gerede, die soziale Klassenfrage von Oben und Unten in die nationale Frage von Innen und Außen umzudeuten.
Der Populismus-Vorwurf gegen die rechten Ideologen allerdings ist hilflos, schlimmer noch, er adelt sie; denn Populisten sind stolz darauf, dem Volk nach dem Munde zu reden. Als „links“ zu gelten, ist hingegen fast völlig out. Der Begriff scheint diskreditiert. Er hatte es ohnehin nie leicht. Das rechte Händchen, so lernt ein jeder, ist das saubere. Linkshänder galten lange als therapiebedürftig. Schüchterne sind „linkisch“. Bei allem, was recht(s) ist: Betrüger sind „link“. Rechts vor links regelt den täglichen Umgang, Linksverkehr führt zum Brexit. Es ist absurd. Ein gleichermaßen prägnanter, aber unbelasteter Terminus ist nicht gefunden.
Vielleicht hilft eine begriffliche Vergewisserung. Stellen wir uns zwei, sich kreuzende, Achsen vor: die politische Haltung zu den sozial-ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft kann man auf der einen abbilden. Der linke Pol markiert eine entschieden antikapitalistische Haltung, der rechte die ungehemmte Profitorientierung. Senkrecht dazu verläuft die zweite Achse, die durch die Pole progressiv und reaktionär bestimmt ist. Sie gibt Auskunft über kulturelle Attitüden, von Partizipations- bis zu Genderfragen. Ein politisches Subjekt, auch die Mehrheit einer Partei, kann auf der „Kultur-Achse“ progressiv sein und auf der „Ökonomie-Achse“ rechts oder indifferent. Links und progressiv sind nicht dasselbe. Es geht nicht um Wortklauberei. Ohne Begriffe kann man nicht begreifen. „Linksliberale“ sind progressiv, aber in der sozial-ökonomischen Systemfrage nicht unbedingt links. Es lohnt sich, den eigenständigen Begriff „links“ zu retten, um eine Haltung zu beschreiben, die sich entschieden gegen den Turbokapitalismus, gegen entfesselte Finanzmärkte und Wirtschaftskriege wendet und die zudem weiß, dass die „soziale Frage“ mehr umfasst als Sozialpolitik und Kümmerei. Sie meint die Gesamtheit der politischen Ökonomie und Ökologie. Wenn sich zu dieser Haltung progressiv-demokratisches Denken addiert, ergibt sich eine moderne, teils post-moderne, nicht-traditionalistische neue Linke.
Das Parteiensystem steht vielleicht vor dem größten Umbruch in der Nachkriegsgeschichte. CDU/Rest-SPD/Grüne umreißen den gesellschaftlichen Mainstream. Angefeindet wird er von einer wirkungsmächtigen Rechts-Opposition aus AfD und CSU. Die FDP steht irgendwo dazwischen. Die Partei Die Linke ist zu schwach, um auf der anderen Seite dagegen zu halten. Gesellschaftliche Kompromissbildung wird unter diesen Umständen zwischen dem indifferenten Mainstream und einer auftrumpfenden Rechten betrieben werden. Ein gruseliger Gedanke. Nichts ist also drängender, als eine politische Linke zu rekonstruieren, die sich dem Rechtsruck entgegenstellt.
Längst sind neue Bewegungen entstanden, auf der Straße nicht so sichtbar, aber online voller Energie, Leben und Zukunftsideen. … Sie sind links, ökologisch, pazifistisch, basisdemokratisch – wie es einst die Grünen waren. Sie in einem gemeinsamen Diskurs zu verbinden mit den „alten“ Linken, denen bei Sozis, Grünen und sonst wo die Heimat verloren zu gehen droht und die den Kampf für eine gerechtere Welt nicht einstellen wollen, könnte lohnend sein. Und den progressiven Liberalen sei gesagt: Aufstehen ist Bürgerpflicht – auch gegen die ökonomischen und ökologischen Irrationalitäten des Kapitalismus.
Sammeln und neu formieren heißt das Gebot der Stunde: diskutieren, nach vorn gerichtet, ohne Rechthaberei und Häme. Statt sich gegenseitig maximale rhetorische Verletzungen zuzufügen, wie es seit Jahrzehnten ihr Lieblingssport ist, sollten Linke erkennen, wie kostbar sie füreinander sind. Linke könnten sich vielleicht auf ein gemeinsames strategisches Ziel einigen: es geht darum, die Lebenschancen aller Völker unter Beachtung der ökologischen Belastbarkeit des Globus auf möglichst hohem Niveau anzugleichen.